Der Raucher

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„Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen anfangen soll, Herr Dorkmann“, seufzte der Arzt und legte das Stetoskop weg. Es klapperte auf dem kalten Untersuchungstisch, wo der alte Mann in Unterhose und Unterhemd die Untersuchung über sich hatte ergehen lassen.
Im fahlen Neonlicht des Zimmers saß der Alte da. Seine schneeweißen Haare glänzten unter der Lampe. Wenn er atmete, hörte man das Rasseln seiner Lunge. Jedes dritte oder vierte Heben und Senken seiner Brust verursachte einen kleinen Hustenanfall, der nach feuchtem Teer klang. Dennoch lächelte der alte Mann schwach.
„Kann ich mich wieder anziehen?“ fragte er und deute auf sein Hemd und seine Hose, die zusammengefaltet neben ihm lagen. „Mir ist ein wenig kühl.“
„Sind sie sicher, dass sie keine Hilfe wollen? Es gibt da gute Programme, die könnten ihnen helfen.“
„Ach, wozu?“ zuckte der Alte mit den Schultern und zog sich an. „Es geht mir doch gut.“
„Sie scheinen mir nicht zugehört zu haben.“
„Doch, doch, das habe ich.“
„Dann scheinen sie nicht verstanden zu haben, Herr Dorkmann. Ihre Werte sind -“
„Miserabel, ich weiß. Geben Sie mir meine Schuhe?“
Sprachlos suchte der Arzt nach den passenden Worten. Er wollte dem alten Mann helfen, ihn retten, doch redete scheinbar gegen eine Wand. Kraftlos hob er die Schuhe vom Drehhocker, reichte sie seinem Patienten und beobachtete ihn, wie er die alten, braunen Schuhe über die Füße zog.
„Wie lange rauchen Sie schon, Herr Dorkmann?“
„Fast mein ganzes Leben“, ächzte der Alte, während er sich zu den Schnürsenkeln beugte. „Hab als kleiner Bub schon angefangen. Das machte man früher so. Bei der Arbeit, auf dem Bau damals, haben wir in der Pause immer geraucht. Das hat gutgetan.“
„Haben Sie jemals versucht, damit aufzuhören?“
Der Alte überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. „Warum sollte ich?“
„Die Gründe habe ich Ihnen eben vorgelesen.“
„Achso, das. Nein. Nie.“
Bemüht um ein Lächeln versuchte der Arzt es erneut.
„Vielleicht verstehen Sie die ganzen Werte nicht, Herr Dorkmann – ich kann es Ihnen ehrlich auch nicht verübeln. Was ein Lungenfunktionstest ist, verstehen die meisten Leute nicht wirklich. Die Anzahl weißer Blutkörperchen, Gefäßverengung – das sind für normale Menschen nur leere Worte, die ein bisschen bedrohlich klingen. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, dass Ihnen das nichts bedeutet.“
„Das ist nett von Ihnen.“
„Sie stolpern auch nicht, wenn ich Begriffe, wie 'Herzinfarktrisiko' oder 'Krebsirisiko' benutze. Warum auch? Was heißt das schon? Aber etwas mehr Aufmerksamkeit erwarte ich, wenn ich Ihnen sage, Herr Dorkmann: Sie werden sterben.“
Da blickte der alte Mann auf. Unter seinen schneeweißen Augenbrauen schimmerten zwei Äuglein. Zum ersten Mal schien er zuzuhören.
„Ich weiß“, sagte er gelassen. „Ich werde sterben. Das ist mir klar.“
„Und?“ fragte der Arzt verzweifelt. „Wollen Sie das einfach so hinnehmen?“
Der Alte lächelte. „Sie scheinen der einzige zu sein, der damit ein Problem hat, Herr Doktor.“
„Es ist mein Job, Leben zu retten! Dafür bin ich Arzt geworden. An Ihnen beiße ich mir allerdings die Zähne aus.“
„Wie fühlt es sich an, machtlos zu sein?“
Der junge Arzt richtete sich auf, strich den weißen Kittel glatt, wie ein General, der eine Ansprache hält. „In der Regel, Herr Dorkmann, danken mir meine Patienten, wenn ich Ihnen helfe.“
„Ich bin Bauarbeiter“, erwiderte der Alte. „Ich arbeite auf dem Bau, baue Häuser. Was meinen Sie, was passiert, wenn ein Sturm kommt, oder ein Feuer, und das Haus zerstört, dass ich gebaut habe?“
„Kein besonders gutes Gefühl, nehme ich an.“
Der Alte nickte. „Aber ich baue das nächste Haus. Und das nächste. Bis es in die Brüche geht. Alles geht zu Ende. Und so ist es auch mit mir.“
„Aber sie müssen doch etwas dagegen tun!“ rief der Arzt. „Sie können doch ihr Leben nicht einfach so wegwerfen, nur weil es irgendwann sowieso zu Ende sein wird!“
Der Alte hatte sich angezogen, stand nun wieder in Hemd und Hose und Schuhen da, mit einer Strickjacke, aus deren Brusttasche eine Schachtel Marlboros ragte.
„Was habe ich denn sonst, außer dem Rauchen, Herr Doktor?“
„Wie meinen Sie das?“
Der Alte zuckte mit der Schulter. „Meine Trudi ist schon lange fort, Gott hab sie selig. In meine Häuser, wenn sie fertig sind, ziehen Fremde ein, mit Familien und Hunden. Nach der Arbeit komme ich zurück in eine leere Bude. Kinder, nie gehabt. Freunde – naja, ein paar. Aber nicht viele. Alles, was ich habe, sind meine Zigaretten, um mich durch den Tag zu bekommen. Ist das denn nichts?“
„Sucht ist die Suche nach Zerstörung, Herr Dorkmann. Das ist ihr einziger Sinn.“
„Aber es ist ein Sinn“, nickte der Alte. „Schätze, es wird Zeit, dass ich finde, was ich suche.“ Er stand auf, schüttelte dem Arzt die Hand und bedankte sich. Dann verließ er das Krankenhaus, trottete über den Flur hinaus zum Ausgang, wie ein alter Esel.
Der Arzt lauschte den Schritten seines Patienten, sah ihm später sogar durch das Fenster hinterher. Er beobachtete ihn, wie er draußen in der Kälte stand und aus seiner Brusttasche die Schachtel mit den Zigaretten holte, sich eine anzündete.
Der Arzt sank auf den Drehhocker nieder, ließ die Hände zwischen den Knien baumeln.
Er würde dem Alten nicht helfen können, dachte er. Am Ende des Tages würde er keinem seiner Patienten wirklich helfen können. Was für ein trauriger Gedanke.
Er fragte sich, ob er das alles schon von Anfang an gewusst hatte. Ob es ihm schon früher bewusst gewesen war.
Obwohl er wusste, dass er in Schwierigkeiten kommen könnte, ließ er sich auf den Drehocker fallen, klopfte seine Hosentasche ab, fand was er suchte und zündete sich eine Zigarette an.
 

rainer Genuss

Mitglied
Hallo Raucher, zur Begrüßung; schön von dir zu lesen und ich hoffe es macht dir Freude in diesem Forum zu wirken!

Meine subjektiven Anmerkungen: Dein Erzählstil ist wirklich angenehm und fließend zu lesen. Er erleichtert in die Geschichte einzusteigen und einzutauchen.
Wie du den abgeklärten Raucheropa beschreibst, zeugt von Menschenkenntnis und evtl. auch professionellem Umgang mit alten Menschen. Da blitzt Lebensweisheit auf.
Wie du den, händeringend helfen wollenden, jungen Arzt beschreibst ist in Teilen auch gelungen. Es ist eine Personenbeschreibung und deren Methoden, die ich im Krankenhaus selbst oft genug miterlebt habe, dieses Ringen um Recht und Wirkung, contrakontrastiert durch die Gelassenheit des Alten. Bingo

Was mir weniger gefällt:

[/QUOTE] Der junge Arzt richtete sich auf, strich den weißen Kittel glatt, wie ein General, der eine Ansprache hält. „In der Regel, Herr Dorkmann, danken mir meine Patienten, wenn ich Ihnen helfe.“

Er würde dem Alten nicht helfen können, dachte er. Am Ende des Tages würde er keinem seiner Patienten wirklich helfen können. Was für ein trauriger Gedanke.

Obwohl er wusste, dass er in Schwierigkeiten kommen könnte, ließ er sich auf den Drehocker fallen, klopfte seine Hosentasche ab, fand was er suchte und zündete sich eine Zigarette an.
[/QUOTE]
Das Helfersyndrom des Arztes wird mir zu übertrieben dargestellt und diese Selbstzweifel seiner Berufsbemühungen ebenfalls.
Dass er selber raucht ist dann auch keine wirkliche Überraschung mehr
Viel Spaß hier
Rainer
 
Zuletzt bearbeitet:

rainer Genuss

Mitglied
fiel mir auf der Heimfahrt noch ein, statt der Arztzigarette:
Liess. sich auf den Drehhocker fallen und füllte das Bestellformular für Spitzenweine aus Bordeaux aus
 
G

Gelöschtes Mitglied 24147

Gast
Ärzte, die mit
„Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen anfangen soll, Herr Dorkmann“
ankommen, sind für gewöhnlich die schlechtesten der Welt und haben nicht die geringste Ahnung, wie man mit süchtigen Alten, folglich Unheilbaren, richtig umgeht.

Warum der Alte überhaupt zum Arzt gegangen sei, wird uns in der Geschichte nicht mitgeteilt, lieber rainer. Dass der Opi nur deshalb beim Arzt wäre, um gesagt zu bekommen, dass Rauchen ungesund sei, wirkt ein wenig grotesk, findest Du nicht auch? Ein guter Arzt hätte ihm wenigstens eine Vitaminspritze gegeben und Schleimlöser verschrieben. Auch eine Vorsorgeuntersuchung hätte er vorschlagen können.

Stattdessen sitzt der Doktor in seiner (offenbar längst leer gewordenen) Praxis, qualmt das Behandlungszimmer voll und hängt seinem (verpfuschten?) Leben nach. Mag ja sein, dass es derart unfähige oder unfähig gewordene ÄrztInnen gibt. Aber wovor fürchtet sich der Typ am Ende denn? Er ist doch ein Halbgott! Und warum sollte er einem süchtigen Opa denn keine medizinische Hilfe geben können, nur weil auch er raucht? Viele ÄrztInnen sind RaucherInnen, SäuferInnen oder DrogenkonsumentInnen und können trotzdem Blinddärme herausschneiden, Abszesse öffnen, gebrochene Schienbeine zusammennageln, Schwangerschaften herbeiführen oder verhindern.

Merkwürdige Geschichte, diese da. Was willst Du uns damit denn sagen? Dass nur Ratschläge geben darf, wer's wirklich besser kann? Hm - dann müsste ein Forum wie dieses wohl umgehend geschlossen werden.

Nichts für ungut und liebe Grüße

anschi
 
Hallo Anschi, vielen Dank für deine Rückmeldung! Eine so konkrete Aussage, wie du sie formulierst, schwebte mir gar nicht vor :) Mir ging es mehr darum, wie fatalistisch die beiden Figuren sind: der Kranke kann sich nicht von dem lossagen, was ihn krank macht und der Arzt kann nicht anders, als sein Herz daran zu hängen, ihm zu helfen. Er verzweifelt an dem Alten, so wie der alte Mann am Leben verzweifelt ist, nur mit dem Unterschied, dass der Alte sich mit seinem Schicksal abgefunden hat. Dass der Arzt am Ende selber zur Zigarette greift, obwohl er es vermeintlich "besser" wissen sollte, soll nur zeigen, wie menschlich das Verhalten des alten Mannes am Ende ist.
 
G

Gelöschtes Mitglied 24147

Gast
Ich glaube nicht, lieber Gesammelte Stärke,

ein Arzt, der vorgibt, einer zu sein, verzweifelte an einem x-beliebigen Patienten. Er lernt schon während der Ausbildung, jedenfalls aber vor dem letzten Staatsexamen, dass ihn das Schicksal seiner Patienten nichts angeht. Gefühle wie "Verzweiflung" kann er sich nicht leisten, wenn er seinen Beruf vernünftig ausüben will.

Am Ende hat die Ärztin oder der Arzt nicht mehr Empfinden für einen Kranken als der Metzger für eine Kuh, die er tierschutzgerecht und hygienisch einwandfrei zu Suppenfleisch zu verarbeiten hat.

Das klingt hart, ist aber bei ein paar Tausend Patienten pro Jahr nicht anders zu machen. Den Quark, der Dir beim "Bergdoktor" oder in der "Sachsenklinik" vorgegaukelt wird, entbehrt leider jeder Grundlage.

Bleib mir gesund!

Liebe Grüße

anschi
 



 
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