Der Religionsoptimierer

Papiertiger

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Der Religionsoptimierer


„Liebe Gemeinde,
ich begrüße Sie ganz herzlich an diesem freundlichen Sonntagvormittag um 10 Uhr. Die Sonne scheint, ein freundlicher blauer Himmel lädt dazu ein das Haus zu verlassen. Und bitte, bleiben Sie auch dann noch etwas sitzen, wenn sie eigentlich gar nicht hier sein wollen, weil sie mit Glauben, Kirche oder der Belehrung durch eine Predigt so gar nichts anfangen können.“
Lutz rückte dennoch mit leicht gequältem Blick auf der Holzbank hin und her. Wie der Erzähler in Chuck Palahniuks „Fight Club“ war er auf der Suche nach Halt, nach Stabilität und einem Sinn im Leben. Arbeiten gehen und Geld zu sparen erschien ihm vernünftig. Von dem Erarbeiteten etwas aufzubauen und sich etwas zu gönnen, eine schöne Reise oder ein gutes Konzert, klar, das gefiel ihm. Aber es musste doch noch mehr als das geben, denn sonst wäre es doch arg hohl, trostlos und kalt – so wie ihm „Fight Club“ inzwischen vorkam. Er fand den Film und das Buch brillant als er in seinen Zwanzigern war. Inzwischen erschien es ihm zu dünn, zu nihilistisch.
Der Prediger fuhrt fort: „Selbstoptimierung. Positive Psychologie. Sekten, die 250.000 Euro dafür verlangen bei ihnen Kurse zu absolvieren, die dann bahnbrechende Erkenntnisse bringen sollen, ein Coach, der 10.000 Euro für ein Wochenendseminar voller Kalendersprüchen und grotesker Rituale. Influencer, die wahlweise Nahrungsergänzungsmittel, Crypotwährungen oder was auch immer gerade aktuell zu sein scheint verkaufen wollen. Ich bin mir sicher, ganz vielen von ihnen geht es wie mir: Ich bin diesen Kram leid.“
„Hallelujah“, murmelte Lutz, aber doch so leise, dass es in der Kirche nicht zu hören war.
„Es gibt Menschen, die nehmen die Bibel wortwörtlich. Es gibt Menschen, die gehen noch dem dümmsten Scharlatan auf den Leib, glauben an eine Flache Erde, an Echsenmenschen und daran, dass äußerst fragwürdige Typen die Lösung für alle Probleme der Welt haben. Ich bin mir sicher, dass Sie, liebe Gemeinde nicht dazu gehören. Denn warum sonst würden sie an diesem Sonntag morgen, früh aufstehen, durch die Kälte hierher spazieren, wozu diese Mühe auf sich nehmen statt zu Hause auszuschlafen und den Vormittag in der Jogginghose zu verbringen?“
Es ging dann noch eine ganze Weile so weiter. Zusammengefasst bot der Pfarrer folgendes an:
Eine Stunde pro Woche für einen „Gottesdienst“. Gott kommt aus dem Germanischen und steht für „das Gute“, also für das Gemeinwohl, für das, was allen nutzt: eine intakte Natur, ein geordnetes, friedliches Zusammenleben. Zusammenhalt, Fortschritt, eine vernünftige und gerechte Verteilung von Wohlstand und Chancen. Die Zehn Gebote? Übernehmen wir so. Den zehnten Teil vom Einkommen für das Gemeinwohl abgeben? Check! Beten? Könnt ihr auch Affirmationen, Meditation oder Selbstreflexion nennen, Hauptsache ihr fokussiert Euch aufs Positive, seid dankbar für das, was in Euren Leben gut läuft und strebt danach mehr Nützliches und Gutes zu tun und Euch und anderen keine Schäden und Leid zuzufügen.

Und ja, was soll ich sagen. So simpel ist die Welt nicht. Was soll diese kindische Vereinfachung. Einfach einen Slogan von drei Wörtern auf ein Plakat setzen und die Menschen folgen dir in Scharen? Das ist doch Quatsch. Naiv. Dachte ich. Und dann wachte ich nach der Bundestagswahl im Frühjahr auf und erwachte in einem westlichen Gottesstaat. Wobei Gott eine Abkürzung für die neue Partei war, welche die absolute Mehrheit erhielt: Gutes ohne Tinnef und Trug. Wer in diesem Staat versuchte Menschen für dumm zu verkaufen und aufzuhetzen, wer zum Telefonhörer griff, um Senioren um ihr Erspartes zu bringen oder Spam- und Phishing-Mails verschickte, sich mit Lügen Vorteile verschaffen und allen Ernstes Hitler zum wahlweise guten Menschen oder zum neo-liberalen Echsenmenschen verklären wollte, wurde konsequent verbannt, in die Hölle. Von der soll man sich eigentlich kein Bild machen, aber ich sage mal, sie sieht ungefähr so aus:

Ein unappetitlicher Imbiss am Rande eines Industriegebiets. Der Wirt serviert in einem versifften Unterhemd, die Brusthaare quellen überall hinaus, während er rauchend und schlecht gelaunt mit seinen Stammgästen über den Inhalt der Bild und über das gestrige RTL-Programm debattiert. Jeder Versuch eines sachlichen Gesprächs ist hier aussichtslos. Schuld sind ausschließlich die anderen.

„Mit diesen Gedanken entlasse ich Sie liebe Gemeinde und wünsche Ihnen einen schönen und anregenden Sonntag“
Lutz schaltete die abendliche Politik-Krawall-Talkshow ab und fiel nach dem Zähneputzen erschöpft ins Bett. Was für eine Welt, dachte er, dann fiel er in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Ein Lächeln zeugte davon, dass er einen schönen Traum hatte.
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Papiertiger,
inhaltlich eine richtig gute Nummer, aber nicht optimal umgesetzt. Dem Pfarrer solltest du mehr "Pfarrer-Speech" geben. Da sind eine ganze Menge an Äußerungen drin, die man so von der Kanzel wahrscheinlich nie hört. Z.B. "das ist doch Quatsch!"
Ich lebe auf dem Land und weiß von Pfarrern, die echte Raubeine sind, aber auf der Kanzel machen sie alle ihren Job.
Hat trotzdem Spaß gemacht.
Gruß Bo-ehd
 

Papiertiger

Mitglied
Liebe/r Bo-ehd,

vielen Dank für die konstruktive Kritik, über die ich mich sehr gefreut habe. Ja, ich denke auch, dass es gut ist den Pfarrer realistischer werden zu lassen. Ich werde es bei meinen kommenden Geschichten berücksichtigen.

Schöne Grüße

Tiger
 



 
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