Der RIESE

Matula

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Es ging das Gerücht um, dass ein Riese (aus den Karpaten ? den Karawanken ? dem Riesengebirge ?) in Österreich eingewandert war. Er wurde an verschiedenen Orten in Ober- und Niederösterreich von Spaziergängern, Mountainbikern und Joggern gesehen oder besser gesagt: gehört, denn er schien Selbstgespräche zu führen, wenn er durch Wälder und Fluren stapfte. Sein dröhnendes Organ, das gewiss über mehrere Oktaven reichte und im Ultra-, ja womöglich sogar im Infraschallbereich zu hören war, versetzte Mensch und Tier in Angst und Schrecken, sodass alles rannte, radelte und davonjagte, noch ehe man seiner ansichtig wurde.

In Wien vermutete man zunächst wieder ein Hirngespinst ländlich-gelangweilter Phantasie, das diesmal keinen Bären oder Wolf, sondern eben einen Riesen zum Gegenstand hatte. Bis zwei japanische Touristen eines Morgens einem Riesen auf der Ring Straße begegneten. Am ganze Leibe zitternd berichtete das Paar mit Hilfe eines herbeigeholten Übersetzers von seinem schrecklichen Erlebnis. Der Riese habe gerade versucht, den grünspanigen Doppeladler des Hauses, vor dem sie standen, vom Dach abzuknicken, als er sie erblickte. Er habe sich über sie gebeugt und, ihre Gesichter nachäffend, mit den riesigen Zeigefingern die äußeren Lidwinkel zu den Schläfen gezogen und dabei so schallend gelacht, dass beide Nikon-Kameras zersprungen seien. Mit letzter Kraft hätten sie sich zwischen seinen Beinen in das in jenem Haus untergebrachte Polizeikommissariat geflüchtet, von wo aus sie umgehend zum Flughafen gebracht zu werden wünschten.

Es ist allgemein bekannt, dass japanische Touristen nicht lügen. Wozu auch ? Also wurde die Bevölkerung über Funk und Fernsehen auf den streunenden, wahrscheinlich gefährlichen Riesen aufmerksam gemacht und um zweckdienliche Hinweise gebeten. Einen Tag später erschien eine junge amerikanische Touristin (Jane T.) auf einem Kommissariat und gab an, von einem sehr großen, überaus stark behaarten Mann vergewaltigt worden zu sein. Da ihre Beschreibung der anatomischen Proportionen nicht mit der Darstellung der Japaner übereinstimmte, wurde dem Vorfall keine Bedeutung beigemessen. Noch in derselben Woche aber fanden Passanten einen ohnmächtigen älteren Beamten auf der Aspernbrücke. Im Rettungswagen zu sich gekommen, berichtete er, dem Riesen in den frühen Morgenstunden begegnet zu sein. Dieser habe sich über ihn gebeugt und ihn derart angeschrien, dass seine Brillengläser augenblicklich zersprungen seien. An alles weitere könne er sich nicht mehr erinnern. Auf die Frage, ob er noch wissen, was der Riese geschrien habe, antwortete der Zeuge, es habe wie " "Grüß Sie Gott !" " geklungen ( die Aussage wurde im Polizeiprotokoll mit doppelten Anführungsstrichen versehen, um ihre geringe Glaubwürdigkeit zu betonen).

In Nieder- und Oberösterreich atmete man auf. Der Riese war also nach Wien übersiedelt, und von dort kehrte bekanntlich niemand zurück. Der Polizeipräsident warnte alle Frühaufsteher und empfahl, Brücken und andere freie Plätze nach Möglichkeit zu meiden und knapp an den Hausmauern entlangzugehen, um sich im Bedarfsfall in eine Hauseinfahrt retten zu können. Die über der Stadt kreisenden Polizeihubschrauber brachten keinerlei Hinweise auf den Aufenthalt des Riesen, so als verfüge er über die Fähigkeit, von Zeit zu Zeit auf menschliche Dimensionen zu schrumpfen und sich in der Menge zu verlieren.

Zwei Tage nach dem Vorfall auf der Aspernbrücke wurden in der Vorderen Zollamtsstraße mehrere türkische Straßenbauarbeiter von einem Riesen bei ihren Pressluftbohrungen gestört. Die Männer waren sehr erbost, weil er den freigelegten Schacht mit einem einzigen Fußtritt wieder zugeschüttet hatte und brachen einen Streit vom Zaun. Durch die folgende Schreierei zerbarsten alle Fenster des neuen Regierungsgebäudes Ecke Radetzkystraße-Vordere Zollamtsstraße, sodass die dort tätigen Beamten längere Zeit quasi im Freien arbeiten mussten. Der Polizeipräsident gab zu, dass die Exekutive das Problem nicht im Griff hatte.

Am folgenden Tag erschien ein älterer Herr im Polizeikommissariat Stubenring, hielt den diensthabenden Beamten die überkreuzten Hände entgegen und bat um seine Festnahme. Er sei Dr. Edmund Erlacher, der Riese. Einer der jungen Wachmänner (Kevin Swoboda) erhob sich grinsend, musterte ihn von Kopf bis Fuß und schnalzte mit der Zunge: "Na, da schau her ! Sie sind das also !" Erlacher nickte. Ja, er sei es, der die Stadt nun tagelang in Angst und Schrecken versetzt hatte. Swoboda, nur geringfügig kleiner als der Riese, sah ihn durchdringend an und meinte: "Also, in ihrer Haut möchte ich nicht stecken. Das wird teuer ... sehr teuer. Sie haben ja alle neuen Amtsgebäude ruiniert." - Erlacher stutzte und zog seine Hände zurück. "Da irren sie sich aber, junger Mann. Ich glaube nicht, dass man mich zum Schadenersatz heranziehen kann. Ich habe weder mit Vorsatz noch fahrlässig Schaden gestiftet. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahr 1811 sagt in der Zweiten Abteilung, die sich 'Von den Persönlichen Sachenrechten' übertitelt, in § 1295 Absatz 1, dass JEDERMANN berechtigt sei ... à propos, haben sie seinerzeit den 'Jedermann' mit dem Lohner und dieser käsigen Schweizerin gesehen ? Nein ? Na, macht nichts, die Buhlschaft stelle ich mir jedenfalls anders vor ... ja also, dass JEDERMANN berechtigt sei, von dem Beschädiger den Ersatz des SCHADENS zu fordern, welchen dieser ihm ... und jetzt passen sie auf ! Aus VERSCHULDEN zu gefügt hat !" - "Schreien sie nicht so," mahnte Swoboda, "gleich sind wieder ein paar Fenster hin." - "Das gilt auch für Sachschäden," setzte Erlacher fort, "und weder bin ich in Bezug auf meine Stimme zu besonderer Sorgfalt verpflichtet, noch gehört sie zu den gefährlichen Sachen, wie zum Beispiel ein Tier. Sind sie Hundebesitzer ? Nein ? Merkwürdig, ich hätte geschworen, dass sie einen Hund daheim haben. Wer also seinen Hund nachlässig verwahrt, muss für den Schaden aufkommen, den er, also der Hund, einem anderen zufügt. Das sollten sie auch wissen, wenn sie kein Hundebesitzer sind. Ein ähnlicher Fall ist der Einsturz eines Bauwerkes, § 1319. Ich nehme nicht an, dass sie ein Haus haben. Ich schon, in der Steiermark. Also, wenn ein Haus einstürzt, die Fassade abbröckelt oder eine Dachlawine abgeht und auf diesem Weg jemand zu Schaden kommt, dann haftet der Hausbesitzer, AUSSER er kann beweisen, dass er alle Vorkehrungen getroffen hat, um den Schaden abzuwehren. Es wundert mich, dass sie so wenig von diesen Dingen verstehen. Das ist doch ihr tägliches Brot ! Rottweiler, die kleine Kinder zerreißen, entlaufene Würgeschlangen, die Rottweiler verschlingen, Plakatwände, die alte Frauen unter sich begraben, Kräne, die ganze Stockwerke abrasieren." Er machte eine ausholende Armbewegung und Swoboda duckte sich unwillkürlich.

"Schluss jetzt, Herr ! Sie stehlen uns die Zeit, gehen sie nach Hause ! Sie sind nicht der Riese, den wir suchen." Dr. Erlacher zögerte: "Aber wie erklären sie sich dann, dass es Tage gibt, an denen ich buchstäblich über mich hinauswachse ? Da spüre ich schon im Bett, dass ich heute Prokrustes bin. - Wissen sie, wer Prokrustes war ?" Swoboda nickte eilig, um einer weiteren Belehrung zu entgehen. Er war ein schlichter junger Mann, der seine kleine Welt nur zusammenhalten konnte, wenn ihm niemand von unbekannten Dingen erzählte. "Ja und wenn ich dann im Badezimmer auf den Duschkopf hinunterschauen kann, dann weiß ich schon, dass ich heute nur mit Mühe durch den Torbogen auf die Straße kommen werde und mich unterwegs dieses Zappeln und Fiepen aller dieser Wichter um meine Waden herum ganz krank machen wird. Und dann, wissen sie, dann MUSS ich meine Stimme ERHEBEN ! VERSTEHEN sie das, junger Mann ?" - "Nein," erwiderte Swoboda eigensinnig. "Ich sehe einen älteren Herrn von etwa ein Meter fünfundachtzig vor mir, der mit schallender Stimme aus Gesetzen zitiert und vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Solche Leute sehen wir hier öfter. Meistens beschweren sie sich über die Nachbarn oder über einen Radfahrer, dass der Gehsteig vor ihrem Haus nicht gestreut ist oder dass eine Ampel schief hängt. UNSER Riese aber hält nicht viel von Gesetzen. Er hat einen Beamten überwältigt, hat ausländische Touristen verspottet und Gastarbeiter beschimpft. UNSER Riese geht nicht zur Polizei, er nimmt, wie sie sicher gelesen haben, das Recht selbst in die Hand. Also, gehen sie heim. Wir suchen einen anderen." Dr. Erlacher wollte widersprechen, sei er doch ein aufrechter Staatsbürger, den nur die anfallsartig auftretende Hünenhaftigkeit zu allerlei Schabernack verleite. Aber Swoboda wollte nichts mehr hören und drängte ihn aus dem Wachzimmer.

Später meldeten sich in der angegebenen Reihenfolge weitere Personen in verschiedenen Polizeikommissariaten und behaupteten, der gesuchte Riese zu sein: Professor Leopold Wagreiner, akademischer Maler und Bildhauer; Dr. Johannes Koppensteiner, Sektionschef im Ruhestand; Professor DDr. Bernhard Hofreiter, ehemals Primar am St. Ägidius Krankenhaus in Pöchlarn, und schließlich, aus Gründen der Gleichberechtigung, Frau Kammersängerin Elvira Rosenholm, die zum Beweis ihrer Stimmgewalt eine Mozart-Arie zum Besten gab.

Nach drei Monaten, als alle Schäden behoben waren und der wahre Riese nicht wieder in Erscheinung getreten war, sagte Swoboda zu seinem Kollegen: "Schon schade, dass wir ihn immer verpasst haben. Jede Menge Geistesgrößen in dieser Stadt, aber keiner der im Stehen Dächer reparieren oder die Baumkronen faconieren kann." - "Wie wahr," seufzte der Kollege.
 
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