Der Ring

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WackyWorld

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Als ich zum ersten Mal den Schalldämpfer auf meine Flinte schraubte, war ich gerade mal sieben Jahre alt. Es fühlte sich an, als würde ich etwas Verbotenes tun, etwas, das mich gleichzeitig faszinierte und beunruhigte. Es war ein Moment der Verheißung, der einen prickelnden Nervenkitzel in mir auslöste. Meine Großmutter nahm mich dabei in den Arm und flüsterte: „Behandle deine Waffe wie eine Geliebte.“ Damals verstand ich nicht. Aber im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass sie recht hatte.

„Es ist nie schön, wenn du triffst. Aber es ist noch schlimmer, wenn du es nicht tust“, sagte sie immer zu mir.

Diese Worte prägten sich in meinen Verstand ein und reiften mit der Zeit zu meinem moralischen Kompass heran.

Ich empfand nie Freude daran, Menschen zu treffen, denn es war grausam, Zeuge von Fallenden zu sein, von aufsteigendem Rauch, und von schmerzhaften Schreien der Beistehenden. Es gab niemanden in meiner Familie, der jemals behauptet hätte, so etwas schön zu finden. Wir waren keine Tiere. Dennoch mussten wir manchmal Opfer bringen, sei es für Geschäfte, die Ehre oder aus Gründen, die ich nicht immer verstand.

Und dann war Oma fort. Sie wurde ebenfalls getroffen, das hatte mein Onkel mir unter Tränen erzählt. Niemand konnte ihre Fußstapfen füllen. Mein Onkel schickte mich nach Deutschland, angeblich um mich in Sicherheit zu bringen.

Ich war gerade einmal zwölf Jahre alt.

Auf der deutschen Schule fühlte ich mich fremd. Hier gab es keinen Unterricht über Erpressung, kaum etwas über Waffenhandel und selbst Drogenschmuggel war nicht auf dem Lehrplan und als ich nach Scharfschützenunterricht fragte, wurde ich zu einem Mann geschickt, der Sandalen trug, einen bauchigen Körper wie eine Regentonne hatte und einen filzigen Bart trug. Es erschien mir seltsam, dass dieser Mann seine Regentonne geschmeidig bewegen konnte. Als ich ihn nach seiner Kampfsportart fragte, begann er nur zu lachen.

Auch im Werkunterricht musste ich mich mit diesem Filzbart-Regentonnen-Mann auseinandersetzen. Mittlerweile war ich mir sicher, dass er ein Sumo-Ringer war. Er fragte mich, was ich da gerade baute. Ich fand die Frage respektlos, da ich selbst die Drähte des Zeitzünders korrekt farblich gekennzeichnet hatte. Ich hielt ihm meinen Ring hin und er schüttelte den Kopf.

Der Sport hier war ebenfalls ganz anders als bei Oma. Ich gab mein Bestes beim Training, so wie ich es von ihr gelernt hatte. Ich brach Kiefer, zerschlug Schienenbeine und verteilte symmetrische Veilchen. Doch anstatt Lob zu erhalten, landete ich wieder bei Filzlaus. Dieses Mal lachte er nicht. Er fragte mich, ob ich Freude daran empfände, andere zu quälen. „Nein“, antwortete ich ihm. Schließlich waren sie noch am Leben. Dann fragte ich ihn, ob er Freude daran empfände, mich wie ein kleines Kind zu behandeln. Ich war das Enkelkind von Laura Blagotti, der Patin von Neapel. Filzbart stand mit offenem Mund da, seine Augen weit aufgerissen. Plötzlich brach er in schallendes Gelächter aus. Es war ein so gemeines Lachen, dass er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und sein Bauch vor Freude bebte. Ich stand auf, ging zu ihm und stieß seinen Stuhl um.

Er fiel aus dem Fenster und plumpste in die Rabatten.

Das war nicht meine Absicht gewesen. Ich rief ihm nach, dass dies kein Grund sei, zu seinem Capo zu rennen. Doch er rannte.

Es ist nie schön, wenn du triffst. Aber es ist noch schlimmer, wenn du es nicht tust.

Meine Waffe befand sich in der Turnhalle, gut versteckt hinter der dicken blauen Matte. Ich rannte dorthin, schnappte sie mir und folgte ihm. Er stieg in sein Auto ein. Ich schraubte den Schalldämpfer auf, hielt den Atem an und schoss auf seine Reifen. Er sollte noch eine Chance haben, nachzudenken, sich zu entschuldigen.

Ich trat ans Auto heran und streckte ihm meine Hand mit dem Ring entgegen. Doch anstatt mit einem Kuss meine Gutherzigkeit zu würdigen, schrie er mich an.

Ich blieb ruhig und streckte meine Hand weiter in das Auto, der Ring fast vor seiner Nase.

Plötzlich sprang er aus dem Auto und rannte davon. Er nannte mich einen Verrückten.

Ich hatte alles versucht, aber es war zu viel gewesen. Bei der nächsten Ampel beendete ich das Katz-und-Maus-Spiel. Ich hätte es gerne anders gelöst.

Es gab zwei Zeuginnen. Beide waren noch Bambinis. Und Bambini tut man nichts an. Ich bestach sie mit Zuckerwatte, Schokolade und dem Versprechen, ihrer Schule eine Spende zukommen zu lassen. Und ich hielt mein Versprechen ein. Es war erschreckend, wie viel Armut in den deutschen Schulen herrschte. Die Toiletten stanken, die Tische waren aus vergangenen Zeiten und kein Kind besaß einen Laptop. Das machte mich zutiefst traurig. Kinder sind unsere Zukunft, die sollte man besser behandeln.

Filzbart entsorgte ich fachgerecht in einem Fluss. Es bedurfte zweier Säcke voller Steine.

So ging mein erstes Jahr in Deutschland zu Ende. Es war ein hartes Jahr.

Dann traf ich Lisa. Sie war wunderschön und klug. Als ich ihr einen Heiratsantrag machte, musste sie kichern. Ich fand das süß. Ich fragte sie, was ihr Vater von mir haben wolle. Sie kicherte noch lauter. „Ein schickes Auto“, meinte sie und lachte auf entzückende Weise. Ich fand das eigentlich nicht witzig, weil das ein normaler Preis war, aber ich lachte mit.

Dieses Mal zahlte die Spielhalle pünktlich und auch der Friseursalon überwies sein Geld einen Tag im Voraus. Ich ging zu einem Autohaus und kaufte einen Mercedes. Lisas Vater staunte nicht schlecht. Doch er war nicht bereit, seine Tochter herauszurücken. Ich hielt ihm den Ring entgegen, doch er brach mir einen Finger. Küssen schien den Deutschen nicht zu liegen. Ich wollte nicht unhöflich sein und Lisa einfach mitnehmen, also versprach ich ihm, bald zurückzukommen.

Am nächsten Tag kamen die Carabinieri. Ich bot ihnen einen Gefallen an, so wie es mir meine Oma beigebracht hatte, aber sie nahmen mich trotzdem mit. Ich hielt ihnen den Ring hin, doch sie weigerten sich, sich zu entschuldigen. Ich landete im Gefängnis. Das machte mich sehr traurig. Lisa besuchte mich nie. Das brach mir das Herz und in meiner Verzweiflung sprengte ich die Gefängnisküche in die Luft. Den Koch hatte ich vorher mit Wodka rausgelockt. Ich wollte keinen Menschen sterben lassen, ich war nur maßlos enttäuscht.

Ich verbrachte eine lange Zeit hinter Gittern, bis ich schließlich entlassen wurde.

Doch die Schule wollte mich nicht mehr, ich war zu alt. Ich sollte zur Arbeitsagentur gehen.

Ich wusste nicht, was ich dort noch lernen sollte, aber ich ging trotzdem hin. Eine nette Frau saß dort und strahlte mich an. Es war das erste Lächeln, das ich seit Jahren gesehen hatte. Sie fragte mich, was ich zuvor gemacht hatte. Ich antwortete, dass ich Entsorger gewesen sei. Sie erkundigte sich, ob ich für die Stadtwerke oder privat gearbeitet hätte. „Privat“, erwiderte ich. Sie fragte, ob ich Erfahrung mit Müllsäcken hätte. Das hatte ich. Müllsäcke und Steine. Ob mir das Spaß mache, fragte sie. Ich log. Im Gefängnis hatte ich gelernt, wie man die Wahrheit verbiegt. Also sagte ich ihr, dass ich Müllsäcke lieben würde Sie lachte. Dann teilte sie mir mit, dass sie mir ein Jobangebot zusenden würde. Ob ich dafür eine neue Waffe kaufen müsste, wollte ich wissen. Sie lachte noch herzlicher. Es war ein herrlicher Tag.

Drei Tage später kam der Brief. Ich riss ihn auf und war erstaunt. Ich sollte bei einer Mülldeponie Sperrholzplatten zersägen und in einen Container werfen. Das verstand ich nicht. Ich rief bei der netten Dame an und machte ihr gleich einen Vorschlag: „Ich könnte den Bezirk bis zu Ihrem Amt und hinter dem Zoo übernehmen. Auch das Casino weiter hinten würde ich gerne mitlenken.“ „Welchen Bezirk?“, entgegnete sie. „Sie sollen Sperrholz zersägen.“ „Wozu?“, fragte ich verwirrt. „Wozu? Wozu? Sie sind ja ein Scherzkeks. Um Geld zu verdienen.“ Ich verstand. Oma hatte mir damals erklärt, dass Beamte nicht immer offen sprechen können. Mir wurde klar, dass ich die Mülldeponie übernehmen sollte. „Habe verstanden. Übernehme ab morgen.“ „Geht doch.“

Als ich am nächsten Tag dort ankam und dem Pförtner meinen Ring hinhielt, lachte er und fragte, ob ich ihn heiraten wolle. Das macht man nicht. Einen angehenden Capo behandelt man mit Respekt, sagte ich ihm und schnitt ihm ein Ohr ab.

Der Tag fing mies an.

Ich ging ins Büro und dort saß mein Vorgänger und starrte mich an. Ich bot ihm an, sich freizunehmen und danach könne er ja zur Arbeitsagentur gehen. Dort würde man neue Aufträge erhalten. Er lachte. Langsam ging mir das Gelache der Deutschen auf den Zeiger.

Ich hielt ihm den Ring hin.

Er fing noch mehr an zu lachen, bis ihm die Tränen kamen. Das gefiel mir nicht. Meine Oma hatte immer gesagt, man solle niemals zwei Ohren an einem Tag abschneiden. Also zog ich ihm mit einer Kneifzange die Fußnägel aus.

Danach übernahm ich die Geschäfte.

Bis die Carabinieri erneut kamen. Ich wurde langsam richtig sauer. Ich sagte ihnen, sie sollten zur Arbeitsagentur gehen und hielt ihnen den Ring hin. Sie legten mir Handschellen an.

Ich hatte genug. Deutschland war nicht mein Land. Alles war kompliziert, niemand zeigte Respekt, und die Arbeitsagentur hatte keine Ahnung, wie man Aufträge vergab.


Da wurde mir klar, was ich die ganze Zeit übersehen hatte. Es gab bereits einen Capo. Ich war in sein Revier eingedrungen. Alles ergab plötzlich Sinn. Die Carabinieri, die kein Geld von mir wollten. Die Arbeitsagentur, die mich in eine Falle lockte. Der Pförtner, der mich wie Dreck behandelte. Ich musste herausfinden, wer der wahre Puppenspieler war, wer die Fäden gezogen hatte, nur um sie dann zu zerschneiden.

Auf der Polizeiwache fragte ich direkt: „Wer bezahlt euch?“ „Was ist das für eine dumme Frage? Der Steuerzahler natürlich. Ist das in Italien anders?“ Ich wusste, dass das eine Lüge war. „Wer ist euer Chef?“ „Der Polizeidirektor.“ „Und wer ist sein Chef?“ „Der Innenminister.“ „Ich möchte mit ihm sprechen.“ Wieder dieses demütigende Lachen. Ich ersparte mir die Ring-Geste. „Und wer ist der Chef des Innenministers?“ „Die Kanzlerin.“

Hatte Deutschland nicht einen Kanzler?

Ich bat den Polizisten, mir einen Stift und Papier zu geben. Zögernd kam er meiner Bitte nach. Auf dem Papier skizzierte ich ein Organigramm und schrieb die Namen der verschiedenen Positionen darauf. „Innenminister“, „Kanzlerin“, „Polizeichef“.

Ich starrte auf das Diagramm und meine Gedanken rasten. Wer war die eigentliche Macht dahinter? Wer zog die Fäden? Wer hatte mein Schicksal in Deutschland gewoben, nur um es dann zu zerreißen?

Die Monate im Gefängnis vergingen, aber meine Wut wuchs. Wut auf die Schule, die Arbeitsagentur, die Polizei, die Carabinieri. Wut auf Deutschland. Wut auf die unsichtbare Hand, die mich manipulierte.

Schließlich wurde ich entlassen und kehrte zur Arbeitsagentur zurück. Doch dieses Mal war alles anders. Dieses Mal hatte ich einen Plan.

Ich erhielt eine Stelle bei der Stadtreinigung. Wieder etwas mit Müll. Aber ich sah es nun mit anderen Augen. Es war meine Gelegenheit, die Stadt zu erkunden, die Menschen zu beobachten und Hinweise zu sammeln.

Ich arbeitete hart und eignete mir das Wissen über die Straßen und Gassen an. Ich hörte Gespräche mit, notierte Namen und Orte. Ich beobachtete das Kommen und Gehen in den Regierungsgebäuden, merkte mir Gesichter und Autokennzeichen.

Schritt für Schritt begann ich, ein Bild zu formen. Es wurde immer klarer, dass eine Person die Fäden in der Hand hielt. Eine Person, die ich niemals erwartet hätte. Eine Person, von der ich glaubte, sie sei längst tot.

Und dann, an einem Tag, sah ich sie. Sie saß in einer Limousine mit getönten Scheiben. Ihr Gesicht war gezeichnet von der Zeit, aber ich erkannte sie sofort.

Oma.

„Warum?“, fragte ich sie. „Warum das alles?“

Sie hielt mir den Ring hin.
 



 
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