Der rote Lippenstift

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Else Marie

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Der rote Lippenstift
oder: Daniel muss schreien

Die Zahnpasta mit den grünen Streifen, die Daniel großzügig auf seiner Zahnbürste verteilt hatte, roch stark nach Minze. Er hatte eines Tages beschlossen, sich nur noch damit die Zähne zu putzen. Jeder andere Geschmack verursachte bei ihm Übelkeit.
Kauften seine Eltern neue Zahnbürsten, so mussten sie stets darauf achten, dass die für ihn dunkelblau war und den Härtegrad mittel besaß. Auf diese Weise wollte Fabian die Wahrscheinlichkeit, ein Zahnfleischbluten zu riskieren, so gering wie möglich halten. Nachdem sich Daniel mit größter Sorgfalt die Zähne genau drei Minuten lang geputzt hatte, spuckte er die aufgeschäumte Zahnpasta in das Waschbecken. Höchst zufrieden registrierte er, dass keinerlei rote Spuren dabei waren.

Plötzlich öffnete seine Mutter die Badezimmertür. Sie hatte immer noch nicht verstanden, dass ein vierzehnjähriger Junge im Badezimmer nicht gerne überrascht wurde.
„Guten Morgen, mein Schatz“, sagte sie lächelnd und küsste ihren Sohn auf die Wange.
„Morgen!“ Daniels Nackenbereich verkrampfte sich. Als er jünger war, hatte ihm seine Mutter erklärt, dass sich Menschen küssen, wenn sie jemanden lieb hatten. Daher versuchte er, die Küsse auszuhalten und wischte sie erst dann weg, wenn seine Mutter den Raum bereits wieder verlassen hatte.

Daniel blickte so starr in den großen Spiegel über dem Waschbecken, dass er nicht bemerkte, wie nun auch noch der dicke graue Kater der Familie ins Badezimmer tapste. Als dessen Schnurrhaare seine nackten Waden streiften, zuckte Daniel erschrocken zusammen. Sein Herz begann zu rasen und eine Schicht Unwohlsein überzog seinen ganzen Körper.
Seine Mutter schnappte sich einen Lippenstift und zog ihre Lippen nach. Daniel mochte es nicht, wenn sie das tat. Es sah nicht schön aus.
Der Kater schmiegte sich an seine Beine. Daniel bewegte unbeholfen seine Füße, um ihn zu vertreiben. „Hau ab, Moritz, du darfst nicht hier sein. Ich bin hier!“, dachte er ungeduldig.
„Das sieht hässlich aus!“, sagte Daniel. Seine Mutter zuckte jedoch nur mit den Schultern und betrachtete zufrieden ihre roten Lippen.

Als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, betrat auch noch der Vater das Badezimmer. Er hatte seine Kaffeetasse in der Hand, schob sich ein Stück Brot in den Mund und nuschelte: „Habt ihr schon das vom Alwin gehört?“
Die Wände des Badezimmers schienen sich auf Daniel zuzubewegen. Drei Menschen und eine Katze waren eindeutig zu viel für ein solch kleines Zimmer.
„Zahnpasta mit Minzgeschmack, Zahnpasta mit Minzgeschmack, Zahnpasta mit Minzgeschmack“, flüsterte er vor sich hin. Doch es half nicht. Ein unangenehmes Kribbeln durchfuhr den Jungen, ließ ihn schwitzen und frieren zugleich. In seinen Ohren begann es zu fiepen, dann hörte er das dröhnende Rauschen, das immer dann kam, wenn er kurz davor war zu Schreien. Er konnte nichts mehr von dem hören, was seine Eltern sagten.
„Erhängt hat er sich. Der hat einfach Selbstmord begangen“, schmatzte sein Vater. „Hättest du das gedacht, dass der sowas macht?“
Daniels Mutter schüttelte den Kopf. „Aber nein, das ist ja furchtbar! Die arme Katharina!“ Sie spitzte die roten Lippen.

Das Rauschen in Daniels Ohren wurde unerträglich. Deshalb hielt er sich die Ohren zu und schrie: „Aaaaaaaaaaaaaaaaah!“
Der dicke Kater schoss wie ein Pfeil aus dem Raum.
Sein Vater sah Daniel, der nun hektisch ein uns ausatmete, mitleidig an. „Schon gut, mein Junge. Das verstehst du nicht, aber manchmal tun Menschen komische Dinge, weißt du?“ Er nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse, um die Brotbrösel hinunterzuspülen.
Daniels Mutter tätschelte verständnisvoll Daniels Schulter, während sie ihrem Mann zuflüsterte: „Er braucht jetzt ein wenig Ruhe.“ Daher verließen sie zusammen das Badezimmer.

Das Rauschen in Daniels Ohren wurde allmählich leiser. Er nahm die Hände von den Ohren. So war es besser. Daniel fuhr mit der Zunge über seine Zähne, freute sich über den frischen Geschmack nach Minze und fragte sich, was wohl der Zweck von roten Lippenstiften war. Ihm fiel nichts Plausibles ein.
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Else Marie,

das ist eine Kurzgeschichte, die ich sehr gerne gelesen habe.

Ich habe nur eine Anmerkung:

Auf diese Weise wollte Fabian die Wahrscheinlichkeit, ein Zahnfleischbluten zu riskieren, so gering wie möglich halten.
Wer ist Fabian? Da sind dir wohl die Namen etwas durcheinander geraten.

Liebe Grüße
Manfred
 

Else Marie

Mitglied
hihi, ja Fabian gehört da nicht hin, sondern in eine andere Geschichte.
das muss ich ausbessern. Danke für den Hinweis
Und schön, dass es dir gefallen hat.
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wenn du es hier noch ausbessern willst, dann sag einem Moderator Bescheid. Die machen das dann gerne.

Liebe Grüße
Manfred
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Else Marie,

Hat mir gut gefallen, diese skurrile Familienszene im Bad. Der Junge, der sich an seine Minz-Zahnpaste klammert und jede art der Behrürung vermeidet. Der Vater, der über einen Selbstmord berichtet. Und die Mutter, die sagt:” Ist ja furchtbar “-und im Spiegel ihre rote Lippen betrachtet.
Erinnerte mich leicht an frühere amerikanische short stories. Ein wenig, wie ein Blick hinter die Kulissen.

Gern gelesen!
Mit Gruss,
Ji
 

Ji Rina

Mitglied
Wunderbar! Ich habe es mir zweimal angehört. Gut gewählt auch die Musik, die das bizarre dieser Geschichte nochmal unterstreicht!

Mit Gruss,
Ji
 



 
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