Der Schatten

Paweł

Mitglied
Er schleicht ohn' Halt durch diese Gassen,
dem unbewusst sie sich gebeugt,
und lässt ohn' Widerstand erblassen,
was alter Väter Kraft erzeugt.

Er kehrt leis' ein in düst're Kneipen
und sucht bald Halt in lichter Stub'.
Er wird die Menschen still begleiten,
den Mann, die Frau, den wachsend Bub'.

Schon bricht heraus aus trauernd Himmel,
schon peitscht der Schauer kalt die Stadt.
Doch findet sich im grau'n Getümmel
nicht einer, der erblickt ihn hat.

Und ewig, ewig wird sich schleppend
die Masse durch die Straßen zieh'n,
und fester sich mit ihm verkettend,
wird sie dem Stillen nicht entflieh'n.

Denn keinen gibt’s, der aus den Massen
hervor noch tritt, ihn nicht mehr scheut.
So wird man ihn auch nicht erfassen,
wenn neu der Menschen Geist ihn zeugt.
 
Vielleicht ist es eine persönliche Idiosynkrasie - aber mich stören Zeilen, die aus dem metrischen Schema fallen, weniger als Apokopen wie "trauernd Himmel"
und "wachsend Bub", wenn erstere dazu dienen, die letzteren zu vermeiden. Warum also nicht:

Er wird die Menschen still begleiten,
den Mann und die Frau und den wachsenden Bub.

und

Schon bricht heraus aus dem trauernden Himmel,
schon peitscht der Schauer kalt die Stadt.
Doch findet sich in dem grauen Getümmel
nicht einer, der ihn gesehen hat. ?

Durch die Veränderung in der letztgenannten Zeile wird zwar das Metrum noch unregelmäßiger, aber dafür wird die Satzstellung "natürlicher".
Ich sehe ein, daß das regelmäßige Metrum die Unentrinnbarkeit des Beschriebenen betont. Andererseits: der wachsende Bub (die Jugend ist ja
eigentlich `zuständig` für Umwälzungen des Bestehenden) und das nahende Unwetter lassen zumindest die Möglichkeit ahnen, daß etwas aufbricht.
Also ist das keine unpassende Stelle für ein paar Unregelmäßigkeiten. Wenn es danach wieder nach dem alten Schema weitergeht, wirkt dieses
umso monotoner, was genau dem Inhalt entspricht ("Und ewig, ewig wird sich schleppend").
Wäre das eine Überlegung?
Viele Grüße
annefröhlich
 
Sorry, mir ist gerade noch mehr aufgefallen:
In der dritten Zeile könnte es auch heißen: "läßt ohne Widerstand erblassen" (Wirkt ungezwungener als das "ohn`");
In der fünften Zeile klingt das "leis` ein" etwas hart. Alternative: Ein Semikolon statt eines Punkts nach der vierten Zeile, dann könnte es in der fünften
so weitergehen:" kehrt leise ein in düstre Kneipen" Der fließendere Übergang zwischen den Strophen würde auch zum Schleichenden des Vorgangs passen.
In der fünftletzten Zeile ist mir aufgefallen "wird sie dem Stillen nicht entfliehn"- ist nicht eher gemeint: "dem Schweigen"? Obwohl, da bin ich mit unsicher,
vielleicht ist eher die Unfähigkeit gemeint, aus dem Stillhalten auszubrechen, also die Lähmung, oder "stillen" (nähren ) die Menschen den Schatten durch ihre
eigene Schattenhaftigkeit? Dieser Gedanke wäre es wert, in einem eigenen Gedicht gestaltet zu werden.
Das Gedicht hat starke Bilder - man spürt die Aufgewühltheit, aus der es entstanden ist. Aber gerade dann lohnt es sich oft, noch ein bißchen zu "feilen".
Nochmals Grüße
annefröhlich
 

Paweł

Mitglied
Vielen Dank für die Beschäftigung mit diesem meinem Gedicht und die Kritik, die mir doch gezeigt hat, dass einige Verse durchaus interessanter (insbesondere auf formeller Ebene) und ästhetischer hätten gestaltet werden können. Ich werde einige Kritikpunkte bei der Niederschrift kommender Gedichte auf jeden Fall zu berücksichtigen versuchen.
In der fünftletzten Zeile ist mir aufgefallen "wird sie dem Stillen nicht entfliehn"- ist nicht eher gemeint: "dem Schweigen"?
"Dem Stillen" war eher als eine synonyme Bezeichnung für den Schatten erdacht worden, da ich diesen als solchen nicht in dem Gedicht erwähnen wollte. Aber da mit "Dem Stillen" sowohl der von niemandem gehörte und erkannte Schatten gemeint sein kann als auch das in der Kritk vorgeschlagene Schweigen, scheint mir dies eine potentielle Doppeldeutigkeit zu sein, die den Leser vielmehr verwirrt, als dass sie die eigentliche Botschaft der Verse akzentuiert. Vielleicht irre ich aber auch mit dieser Einschätzung und dieser Vers besitzt doch eine höhere Geltung, als ich in diesem Moment noch zu glauben geneigt bin.
Viele Grüße
 



 
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