Der Schlossgeist

Morulf

Mitglied
Der Schlossgeist -Teil I

Die Dame ist ins Bad gereist,
das kleine Schlösschen ist verwaist,
allein das Zöfchen blieb zurück,
beklagt gar sehr sein Missgeschick.
Wie üblich hat man’s dagelassen,
um auf das Schlösschen aufzupassen.
Und weil der Tag sich elend zieht,
buchstäblich dabei nichts geschieht,
drum betet’s jeden neuen Tag,
dass irgendwas passieren mag.
Und siehe da, um Mitternacht
ist’s neulich unversehens erwacht,
denn vor der Tür, da hört‘s ein Scharren
und Bodendielen leise knarren.
Und während es im Bette liegt,
spürt’s, wie die Neugier überwiegt.
Gar tapfer hat es sich getraut
und noch im Hemdchen nachgeschaut.
Nanu, im Flur vor seinem Zimmer,
da wabert grüner Phosphorschimmer.
Es hat, was vorher nie passiert,
ein Schlossgeist materialisiert!
Noch nie hat man von ihm vernommen,
ist nie in Sagen vorgekommen,
und auch ansonsten rings im Land
ist er zur Gänze unbekannt.
Das Zöfchen aber denkt: Nun ja,
was soll´s, dann ist er eben da!
Es holt tief Luft und geht sodann
pragmatisch an die Sache ran:
„Du Geist“, sagt´s laut, „lass eins dir sagen,
du kannst mir keine Angst einjagen!
Denn ´s ist seit Olims Zeiten schon
in Zöfchenkreisen Tradition:
Wir Zöfchen sind, das sag ich laut,
durchwegs gespensterfest gebaut!“
Flink dreht es sich dann um im Nu
und wendet ihm den Rücken zu,
hebt hoch das Hemd und stellt zur Schau
das Elfenzeichen, leuchtend blau,
wie es von Elfenhand graviert
die prallen Hinterbacken ziert.[1]
Der Geist des Geistes wird verwirrt,
vergebens hofft er, dass er irrt!
Doch strahlend prangt das Elfenzeichen,
er merkt: er traf auf seinesgleichen!
Das Zeichen fesselt seinen Blick,
so tritt er einen Schritt zurück,
und lüftet den Gespensterhut,
(wie man in Geisterkreisen tut),
blinkt höflich mit dem Phosphorschein
und klappert grüßend im Gebein.
Das Zöfchen knickst und sagt hallo
(In Zöfchenkreisen tut man so)
und meint: „Komm, gib mir deine Hand,
ich denk, wir machen uns bekannt.
Ich bin Jeanette, und du – doch halt!
Dies Händchen ist ja eisekalt!
Bei deinem Alter mag´s wohl sein,
dass Kälte fährt dir ins Gebein!
Und wie du bibberst, welch ein Jammer!
Komm mit in meine warme Kammer!“
Und gleich darauf zeigt Phosphorschimmer
sich dieses Mal im Zofenzimmer.
„Hier ist mein Bettchen, schlüpf hinein,
müsst Wärm‘ von mir noch drinnen sein!
Nur keine Scheu, ich deck ich zu,
damit das Bibbern kommt zur Ruh!“
Der Geist, mit merklichem Behagen,
tut in der Tat wie vorgeschlagen,
entspannt gar wohlig Bein um Bein
schließt müd die Augen und schläft ein.
Die Aura schimmert sanft und mild
in lindem Grün – ein traulich Bild.
Das Zöfchen aber freut sich sehr,
weil´s merkt, der Geist, er friert nicht mehr.
Doch dann - ist´s wirklich, was es scheint?
Der große, starke Geist - er weint!
Im Schlafe zucken Knochenlippen,
und Schluchzen fährt durch blanke Rippen.
Doch woher kommt die Trauer bloß,
was macht das Leid so riesengroß?
Und plötzlich wird dem Zöfchen klar,
wie hart das Geisterdasein war:
Er hat in all den Geisterjahren
noch niemals Mitgefühl erfahren.
Noch nie im langen Geisterleben
wurd´ ihm Geborgenheit gegeben!
Ein Jeder ist davongerannt,
und niemand reichte ihm die Hand!
Das Zöfchen aber hat gezeigt,
dass es ihm durchaus zugeneigt!
Und wie es ihn so weinen sieht,
da geht’s ihm wahrlich ans Gemüt,
möcht‘ weiter Mitgefühl ihm zeigen.
Soll ‘s in das Bettchen zu ihm steigen,
um dann, so denkt es ganz verwegen,
sich tröstend neben ihn zu legen?
Doch halt! Ist er ein Geist, der meint,
er sei der Geist, der stets verneint?
Wird er des Zöfchens enges Nahen
willkommen heißen und bejahen?
Doch als es neben ihm dann liegt
sich sanft an seine Aura schmiegt,
sie mit dem eignen Fleisch berührt
und ihre Vibrationen spürt
(hat gar gewagt, um ihn zu necken,
den Finger kurz hineinzustecken),
da merkt es nichts von Negation.
Im Gegenteil, die Vibration
der Aura wirkt, als ob sie streichelt.
Das Zöfchen fühlt sich sehr geschmeichelt,
und möcht‘ nicht nur im Geist probieren,
sich auf dem Geiste zu platzieren,
die Schenkel weit gespreizt und offen,
um dann erwartungsvoll zu hoffen,
dass bei dem Geist sich etwas rührt,
das zur Gespenstertröstung führt.
Und wirklich, wie von Geisterhand,
kommt aus der Aura was zu Stand.
Wo Geisteskräfte sinnvoll walten,
da kann sich ein Gebild gestalten,
dort, wo sich Geist mit Körper paart:
ein Liebesknochen eigner Art!
Das Zöfchen aber, aufgespreizt
und nicht im Geist nur aufgeheizt,
schnauft tief beglückt und bäumt sich auf
und lässt der Freude ihren Lauf.
Mit wachsender Be-Geisterung
gewinnt des Zöfchens Tun an Schwung,
es freut sich des Durchgeistigtseins,
denn Geist und Körper werden Eins.
Und plötzlich wabert um das Bett
ein leuchtend gelbes Violett,
gefolgt von rosa Meeresgrün
und strahlend weißem Blaukarmin.
Grasgrünes Pink mit Neonglanz
wiegt schwarzumrandet sich im Tanz,
und als dann donnergleich und hell
ein Grünrot blitzt, gespenstergrell,
da spürt es heiß, was Geisteskraft
im Innersten an Wonne schafft,
und tief im Geiste wird ihm klar,
was bisher gänzlich fremd ihm war,
dass nämlich, wiewohl ungewohnt
sich Geistesarbeit trefflich lohnt!


Am nächsten Morgen, früh war’s nicht ,
da tut das Zöfchen seine Pflicht.
Es geht, obwohl schon spät die Stunde
gewissenhaft auf seine Runde,
und gleich darauf kommt es wie immer,
zu jenem interessanten Zimmer
mit Kuriosa, wohlverwahrt
und meist von ganz besondrer Art:

Der Silberbecher vorn im Schrank
enthielt einst Tristans Liebestrank,
und jenes Kleid mit hohem Kragen
hat Marie Antoinette getragen.

Ein Schlüssel hängt da, rostzerfressen,
der Ritter hat ihn einst besessen.
Er diente ihm als Eheherrn,
den Keuschheitsgürtel abzusperrn.

Daneben funkelt ein Rubin,
Kleopatra, die nutze ihn!
Denn als den Caesar sie verführte,
ihr deser Stein den Nabel zierte!

Durch Panzerglas wirksam geschützt
ein Diamantstern blinkt und blitzt.
Einst trug ihn Sissi in den Haaren,
verscholln ist er seit vielen Jahren.
Doch hat er nun, wiewohl verschwunden,
hier seinen Ehrenplatz gefunden.

Da ist in stolzem Aufrechtstehen
just jenes Löffelchen zu sehen,
das Uri Geller widerstand,
blieb kerzengrad in seiner Hand!
Er konnt‘ und konnte es nicht biegen,
war schlechterdings nicht krumm zu kriegen!
Und er, ob derlei Missgeschick,
zog sich aufs Altenteil zurück.

Damit der Schiller Reime fände
bedurfte es, so die Legende,
in seiner Dichterstube Luft
diverser fauler Äpfel Duft.
Der macht den Geist ihm hell und klar,
und er konnt‘ werden, was er war.
Doch eins von diesen Exemplaren,
die damals seine Muse waren
ist nun – bewahrt vor dem Vergehen -
als Apfelmumie hier zu sehen.

Und ganz bescheiden liegt im Eck,
fast so, als wär es ein Versteck,
ein Ding, von dem die Alten sungen:
die Tarnkappe der Nibelungen!
Held Siegfried, so die Sagenlieder,
ringt Alberich, den Wächter, nieder
und macht sodann mit seinem Raub
gen Kriemhild flugs sich aus dem Staub.
Gar mancher Gauner träumt seither:
„Ach wenn die Kapp doch meine wär!“
Denn schließlich ließen ungesehn
sich viele Dinger besser drehn.
Jedoch bewirkt der Kappe List
dass schlicht sie nicht zu sehen ist.
Wie man das Aug‘ auch plagen mag,
es fördert nichts als nichts zutag.
Sie hat, dass Schlimmes nicht passiert,
die Eigentarnung aktiviert

Heiß war vom Rock’n Roll die Stimmung,
doch Elvis‘ Locke hielt die Krümmung.
In Germany beim Militär,
da störte doch die Locke sehr.
„Das Ding muss weg!“ so brüllt der Spieß,
was prompt er auszuführen hieß.
So nahm der Regimentsfriseur
befehlsgemäß die Schere her,
und schon trug Elvis kurz das Haar,
wie’s bei Soldaten üblich war.
Doch hielt der Mann das gute Stück
für sich als Souvenir zurück,
und kunstvoll fertigte er dann
die Elvis-Ausgehlocke an.
Sie steckte jedesmal im Haar
wenn der zivil auf Ausgang war.
So wurde Jahre mit Bedacht
den Elvis-Fans was vorgemacht,
und niemals sind sie draufgekommen,
wie man sie auf den Arm genommen.
Die wahre Locke aber nahm
manch krummen Weg, und schließlich kam,
auf gänzlich ungeklärte Weise,
sie hier ans Ende ihrer Reise.
Dass Elvis lebt, ist überrtrieben
doch ist ein Stückchen uns geblieben.

Der Doktor Faust erhielt Besuch,
umweht von schwefligem Geruch.
Er fragte: „Wieso bist du hier,
trotz Pentagramm an meiner Tür?“
„Zwar sitzt auf deiner Türe Schwelle
der Drudenfuß an richtger Stelle,
doch da die Ritzung, unpräzis,
die rechte Ecke offenließ,
hab ich dein Wehgeschrei vernommen,
bin dir zu helfen hergekommen.
Doch ist die Lücke stark verengt,
hätt‘ mühsam nur mich durchgezwängt.
Das Zeichen aber macht zudem
den Zugang zu dir recht bequem:
Das Pentagramm ist umgedreht,
sodass es auf dem Kopfe steht!
Nur wenn die Spitze oben sitzt,
und zwiefach unten wird gestützt,
nur dann entsteht des Zeichens Kraft,
die Schutz vor unsereinem schafft.“
Der Faust wird hiermit korrigiert,
es ist wie hier erzählt passiert!
So und nur so ist es gewesen,
und nicht so, wie im Faust zu lesen.
Dem Doktor Faust war nicht bekannt,
wie einfach man den Teufel bannt!
Wieso sagt Goethe davon nichts?
Es geht um Wahrung des Gesichts!
Es wär der Faust, der große Held,
als Ignorant sonst bloßgestellt!
Doch ist in diesem Kabinett
korrekt geritzt der Schwelle Brett,
dass jedefrau und jedermann
es unbesorgt betreten kann.

Nunja, das Chaos war sehr groß,
und deshalb ging das Jammern los
der Mathe-Meister aller Klassen.
Wie ist das Chaos bloß zu fassen?
Da kam der Meister Mandelbrot
und meinte, Übersicht tät Not.
Er formt aus Zahlen, die komplex,
als seine Menge einen Klecks,
der übersichtlich sich verzweigt
und manches hübsche Muster zeigt.
Es stärkt die Übersichtlichkeit,
wenn’s Apfelmännchen Julia freit.
Doch ist der Z-Wert größer zwei
ist‘s mit der Übersicht vorbei,
weil dann die Menge explodiert,
sich stets aufs Neue selbst gebiert.
Das Apfelmännchen wird sodann
zum riesenhaften Apfelmann,
der sich – o Wunder – selbst besteigt
und immerwährend Kinder zeugt.
Die Gaußsche Ebene wird eng,
es herrscht Geschwurbel und Gedräng.
Zur Linderung, da ohne Saum,
taugt nur der Gaußsche Zahlenraum.
Obwohl der Raum ihm unbekannt
sei trotzdem er nach ihm benannt.
Erst nach ihm kam die Mengenlehre,
doch ist er würdig dieser Ehre.
Ein Raum mit Höhe, Breite, Länge
schafft neue Formen jener Menge,
sodass im räumlichen Geschehn
die Mandelbrötchen mit entstehn.
Als Gruß in die reelle Welt
sei eins davon hier ausgestellt.


Den Fächer dort, straff ausgespannt
hielt zarte, elegante Hand.
Sein Muster zeigt noch l’art nouveau
tendiert jedoch zum Art deco.
Der Damenwelt in jenen Jahren
galt es als vornehmes Gebaren
sich bei stets ausdrucksarmen Mienen
der Fächersprache zu bedienen,
um nicht der Konkurrenz zu zeigen,
wohin sich die Gefühle neigen.
Denn war der Fächer gänzlich offen,
dann durfte der Verehrer hoffen.
Zeigt er nach rechts, wie’s deutlich scheint,
ist der Galan ganz links gemeint.
Rasch hin und her ihn zu bewegen
bedeutet: „Lasst mich überlegen“.
Berührte flüchtig er das Kinn,
stand ihr nach Rendezvous der Sinn,
bedeckt er gar das Dekolletee,
winkt ihm das Chambre Séparée.
Doch zeigt er auf die Leibesmitte,
meint das lakonisch: „Nächster bitte!“
Bewegte er sich auf und nieder,
dann hieß das: „Gerne, immer wieder.“
Auch hat, wie später ausgeführt,
als Spracherneurer er fungiert.
Denn unterm Fächer zeigt sich hier
in weißer Unschuld ein Papier.
Auf Bütten, klar, mit rotem Stift
in reifer, männlich-starker Schrift,
sind Verse zu Papier gebracht.
Für welche Ahnin wohl gedacht?
Für eine, die für Frausein stand!
In der mondänen Welt bekannt,
galt stets sie als die erste Dame,
madame la femme ihr Ehrenname,
verkörperte die Frau an sich,
begehrenswert und mütterlich.

Ma dame
Des abends auf der Soiree
zeigt mäßig Ihr nur Dekolleté.
Das Kleid ist Euch fast nonnenhaft
bis hin zum Halse hochgerafft,
und gibt im sanften Lampenschein
nur frei der Schultern Elfenbein.
Auch ist der Stoff gekonnt gewebt,
dass er sich trefflich senkt und hebt,
recht kundig eng am Fleische liegt
und manche Rundung so umschmiegt,
dass Ihr, was durchaus Euch behagt,
ein Kleid aus Männerblicken tragt.
Den Fächer hält gar elegant
vor Eurer Brust die zarte Hand.
Doch wenn Ihr Euren Arm bewegt,
die Hand sacht in den Nacken legt,
dann zeigt Ihr, was Euch wahrhaft ziert,
die Achselhöhle, epiliert!
Wenn dann mein Blick die Haut berührt
und Ihr mein Zungenstreicheln spürt,
dann seh nur ich, wie Ihr’s genießt,
dass leiser Schauer Euch durchfließt.
Gar innig lächelnd hebt Ihr dann
nach links verdreht den Fächer an
und offenbart nur meinen Blicken,
wie steil sie durch den Stoff sich drücken,
allein für mich lasst Ihr sie blitzen
die heißgeschwollnen harten Spitzen!


Zeigt Weiterungen das Gedicht?
Wie schade, denn wir wissen‘s nicht!
Die Fächersprache aber war
erweitert im Vokabular.


Quer überm Fenster, gut im Blick,
hängt da als weitres gutes Stück
ein Besen: Wofür wohl gemacht?
Für welchem Zweck ist er gedacht?
Dass tief er in den Schoß sich gräbt,
wenn höher er das Hexlein hebt,
und ihm Genuss und Lust bereitet
wenn’s auf ihm durch die Lüfte reitet!
Da hängt er brav an seiner Schnur,
als ganz normaler Besen – nur
betrachtet man Wand daneben,
scheint frei er in der Luft zu schweben.
Kehrt prüfend dann der Blick zurück,
hängt wieder fest das gute Stück.
Mal hier mal da, mal so, mal so,
wo ist denn nun der Besen, wo?
Auf eins folgt zwei, und dann kommt drei,
ist’s Mode, dass dies anders sei?
Jawohl, denn dann ist ohne Frage
alternativ die Faktenlage:

Du musst verstehn!
Aus Eins mach’ Zehn,
Und Zwei lass gehn,
Und Drei mach’ gleich,
So bist Du reich.
Verlier’ die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex’,
Mach’ Sieben und Acht,
So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins!“[2]


So war die Kunst zu allen Zeiten,
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.
Ums Folgern ist es schlecht bestellt,
denn das ist ein Gesetz der Welt:
Es schmilzt mit der Wahrscheinlchkeit
beim Folgern auch die Sicherheit.
Nicht nur wo Hexenbesen kehren,
wird stets die Entropie sich mehren.
Deshalb kann jeder, der verwirrt,
und nicht mehr weiß, ob er sich irrt.
will er mit Blick den Besen fassen,
das Zimmer rückwärts nur verlassen.
Doch ist, die Entropie zu mindern,
das große Chaos zu verhindern,
ein Spiegel an die Tür geschraubt
der gut gezielten Blick erlaubt

Und dann sind da noch zwei Vitrinen,
von Punktbestrahlung hell beschienen,
worin die Dame, wohlversiert,
die Ringesammlung präsentiert.
Barocke Ringe, schwer und dick
recht protzig fesseln sie den Blick.
Der Jugendstilring gleich daneben
scheint förmlich in der Luft zu schweben;
gefertigt wie von Elfenhand
zeigt er sein Blumenrankenband.
Zwei Platindreiecke erglänzen,
die dann zur Raute sich ergänzen,
wenn, kunstvoll um sich selbst gewunden,
nach Art des Art.deco verbunden.
Mit Bronzeschimmer reicht ein Stück
bis in die Römerzeit zurück.
Für Sklavinnen war es gemacht;
die Herrin trug‘s in goldner Pracht.
So blinkt und blitzt im hellen Schein
der Ringe edler Glanz - allein
für Finger sind sie nicht gemacht,
weil anderweitig angebracht,
versehn mit Glöckchen als Gewichten,
galante Dienste sie verrichten.
Im Übrigen, nicht wenig Damen,
die zu Besichtigungen kamen,
die fragten sich: Soll ich es wagen
derart aparten Putz zu tragen?
(Und spürten schmeichenld warmes Schwellen
an dafür vorgesehnen Stellen.)

Auch Bilder sieht man an der Wand
gemalt von kenntnisreicher Hand:
Die Ahnin, die hier dargestellt
und in der Hand ein Glöckchen hält,
sie hieß die Dame mit Geläut
und lebte in galanter Zeit,
als man die Tage sich verschönte,
indem man Schäferspielen frönte.
Bei Reigentanz und Blindekuh
rief man sich freche Scherze zu,
man pflegte sich galant zu necken
und spielerisch dann zu verstecken.
Die Damen aber, im Bestreben,
das Spielen hautnah zu erleben,
warn voller Sorgfalt hochgeschnürt,
und zeigten her, was Damen ziert.
Gar manches Röckchen war gekürzt
wie unabsichtlich hochgeschürzt,
manch rosa Strumpfband trat ans Licht -
und bloßer Zufall war das nicht.
Denn so gelang es, manchem Herrn
gleich zwiefach Einblick zu gewährn.
Auch pflegte man in diesen Tagen,
ein Lämmchen auf dem Schoß zu tragen;
ein Halsband trug’s, mit einem Ring,
an dem ein Silberglöckchen hing.
Doch manchmal, so geht das Gerücht,
entzog es sich der schweren Pflicht,
auf bloßer Haut und ganz allein
auf Dauer Unschuldslamm zu sein.
So kam’s, dass es den Kopf bewegt,
ihn auf den Venushügel legt,
den Hals nach vorne unten reckt
und dann die Dame so beleckt,
dass heiß sie ihre Mitte spürt
und bald die Contenance verliert.
Laut fordernd war der Glöckchenklang
der dann aus den Gebüschen drang,
um mit gebotner Dringlichkeit
ihm zu vermitteln: Es wird Zeit.
Seither weiß man, was das bedeutet:
zum Schäferstündchen wird geläutet.
Nicht allzu selten kam’s auch vor:
Der Klang traf auf ein falsches Ohr.
Doch wurd‘s nicht so genau genommen,
solang nur irgendwer gekommen.
Doch scheint er, muss sie sich gestehen,
auch anderwärts sich umzusehen.
Lang denkt sie nach, etwas zu finden,
um enger ihn an sich zu binden
Was könnte Freude ihm bereiten?
Da fiel ihr ein, es ist das Läuten,
und ließ von ihrer Brüste Spitzen
verführerisch die Ringe blitzen,
wobei an den besagten Ringen
wie selbstverständlich Glöckchen hingen.
Indem sie ihm die Glöckchen zeigt,
zeigt Sie, wie sehr sie ihm geneigt,
worauf er seinerseits ihr zeigt,
wie man mit Nachhalt sie besteigt.
Als er, von Glöckchenklang begleitet,
erst Trab und dann Gelopp sie reitet,
als ihr im Takt die Brüste springen
und laut und hell die Glöckchen klingen,
der Klang bei jedem Stoß erschallt
und ihm im Geiste widerhallt,
wird, was er da bekommt zu hören,
in Ganzheitlichkeit ihn betören.
Genauso wie das Netz der Spinne
umgarnt der Klang ihm Geist und Sinne,
zur Fessel wird ihm das Gehör
und kein Entrinnen gibt es mehr:
Ertönt nur leise dann ein Glöckchen,
schon springt er hurtig übers Stöckchen.
Betören heißt: Zum Toren machen,
um dann den Toren zu verlachen.
Die Ahnin aber wahrt den Schein
lässt gütig scheinbar Herr ihn sein.
Sie senkt den Blick und lächelt still,
wenn er befiehlt, was längst sie will.

Die Ringesammlung wird ergänz
durch das, was gleich daneben glänzt:
Ob Silber, Gold, ob groß ob klein
stehn dort als Paare und in Reihn,
(und wecken mancherlei Begehren)
die Glöckchen, die dazugehören.
So manche Dame bleibt hier stehen
und zögert mit dem Weitergehen.
Sie seufzt verstohln und blickt verträumt;
ihr ist, als hätt sie was versäumt.
Und:hört sie jetzt die Lampen knistern?
Doch nein, es ist das Glöckchenflüstern!
Aus der Vitrine dringt`s hervor,
trifft schmeichelnd auf der Dame Ohr:
„Spürst du dein tiefes innres Drängen,
ein Pärchen von uns anzuhängen?
Zum Zweck, für den man uns gemacht,
an jenen Ort, für uns gedacht?
Ein Silberpärchen, ziseliert,
ein goldenschweres, glattpoliert?
Gesteh’s dir ein, du bist bereit!
In schmerzender Geschwollenheit
spürst du in harten steilen Spitzen,
die Ringe schon daran dir sitzen.
Das bloße Fleisch, mit uns bestückt,
wird so erst recht ins Licht gerückt.
Das Langersehnte tritt dann ein:
in Ganzheit bloßgestellt zu sein,
sich klangentblößt zu präsentieren
und dem Geliebten vorzuführen,
dass Glöckchen Töne innewohnen
die die Entblößung noch betonen,
und die, wenn das Geläut erklingt,
sich völlig zur Vollendung bringt.“
Das alles geht ihr durch den Sinn,
im Geiste eilt sie zu ihm hin,
zeigt stolz ihm die Errungenschaft.
Und prompt wird er von jener Kraft
die viel verspricht und manches hält,
in Steilheit ihr bereitgestelt,
dass ihr die ganze pralle Pracht
verheißungvoll entgegenlacht.
Als dann in seiner Stöße Takt,
von heißer Leidenschaft gepackt,
die heiße Geilheit sie durchschießt
da schreit sie freudig und genießt
gemeinsam mit ihm höchstes Glück.
Jedoch: bei ihr spielt die Musik!


Ein zweites Bild hängt an der Wand,
auch das gemalt von Kennerhand.
Darauf ist dar- und ausgestellt,
wie hochgerafft das Kleid sie hält,
die Urgroßahnin linker Hand -
Madame Kallipygos genannt -
und wie sie lächelnd vorgebeugt
die prallen Hinterbacken zeigt.
Sie lebte einst im Frankenland,
dort ist der Pelzmärtel bekannt.
Er nimmt Sankt Martins Stelle ein
und hilft den Sündern zu bereun.
Die Rute ist sein Instrument,
wie man’s zum Bußetun gut kennt.
Ein Rest des Heidentums der Alten
hat sich im Brauchtum hier erhalten.
Warn brav die Mädchen und die Knaben,
dann dann bringt er ihnen süße Gaben.
Doch ist das weniger der Fall,
dann schallt der Rute Widerhall.
Denn „pelzen“ mittelhochdeutsch war
so sagt die Germanistenschar
ein alter Ausdruck für „verhauen“,
und nur die Sündelosen schauen
dem Märtel unverzagt entgegen.
Bei anderen sich Ängste regen,
denn nur die jahresüber Braven
entgehen seiner Rute Strafen.
DIe Ahnin aber hört man klagen,
bevorzugt an Novembertagen,
sie habe gar viel zu bereun,
und Buße müsse nunmehr sein.
Als Sünderin sei sie bereit,
bei passender Gelegenheit
durch kenntnisreiches Märtelpelzen
die Last der Sünden abzuwälzen,
denn ohne wohlgepelzt zu sein,
sei sie nicht wahrhaft sündenrein.
So pflegte sie an jenen Tagen
bewusst kein Unterkleid zu tragen,
wobei der elfte Monatstag
besonders ihr am Herzen lag,
wo von des Märtels Hand geführt
sie heiß der Rute Küsse spürt,
sodass ein warmes rotes Licht
die kalte Dunkelheit durchbricht.
Und sie, als leuchtend Aufgeheizte
und Hinterbackenaufgespreizte:
zeigt zuckend der Rosette Rund,
tut so nur allzudeutlich kund,
wie bös die Ängste sie durchwühlen,
als Unerfüllte abzukühlen.
Die Heidensage macht nun Platz
dem christlichen Legendenschatz.
Es nimmt Sankt Martin sich sodann
mit Nächstenliebe ihrer an,
zeigt sich als wahres Christenkind,
dem Nöte Andrer dringlich sind,
und zieht voll Edelmut sein Schwert,
wie’s laut Legende sich gehört.
Er ändert jedoch gleich darauf
der klassischen Legende Lauf
und teilt mit kurzen schnellen Schnitten
den Mantel waagrecht in der Mitten.
Den untren Teil wirft er beiseit -
dient jenem Bettler nun als Kleid -
und zeigt, auch dies legendenfremd,
in weißem, allzu kurzem Hemd
sich nun als wahrer Herr von Stand
(erneut legendenunbekannt).
In ritterlicher Frömmigkeit
erweist er sich alsdann bereit,
von aller Angst und allem Bösen
die Großurahnin zu erlösen.
Und unterm Bild, da sind zu sehen
drei Ruten, die am Boden stehen.
Als Blickfang sind sie hergesetzt
wiewohl erheblich abgewetzt.

Als nun das Zöfchen Ronde geht,
vor dem bewussten Zimmer steht,
und gleich darauf mit flottem Schritt
nichts ahnend durch die Türe tritt,
da fällt sein Blick auf zwei Gestalten,
die wahrlich sich bizarr verhalten:
Zwei Diebe sind’s, sie wollten stehlen!
Warn grad dabei, sich auszuwählen
was in den Schränken und Vitrinen
als gute Beute könnte dienen.
Doch dann ist irgendwas passiert,
was zur Bizarrheit hat geführt!
Die offnen Augen schreckverdreht,
in denen nur noch Grauen steht,
das Fleisch wie Mamor, kalt und hart
in namenlosem Schreck erstarrt,
gefrornes Schlottern im Gebein,
so stehn die beiden starr wie Stein.
Das Zöfchen schaut sie prüfend an,
fragt sich, wie das passieren kann,
und vorsichtshalber weicht’s ein Stück
vor diesem Schreckensbild zurück.
Doch was ist das? Das Zöfchen merkt,
wie etwas ihm den Rücken stärkt.
Nach hinten lehnt sich‘s voll Vertrauen:
es weiß, es kann auf jemand bauen.
So lässt der Aura weiches Kissen
an Rückenstärkung nichts vermissen,
und solchermaßen upgebackt
gibt’s nichts mehr, was das Zöfchen schreckt.
Es lächelt deshalb amüsiert:
„Schon wieder irgendwas passiert!“
Es weiß, was nächtens ist geschehen:
Sie haben ein Gespenst gesehen!
„Verpisst euch“, sagt es laut und barsch,
„sonst gibt’s was auf den blanken Arsch!
Und der ist dann statt kalt und weiß
geschwollen, rot und glühend heiß!
Seht ihr die Ruten an der Wand?
Mit denen mach ich euch bekannt!
Der Birkenreiser kommt zunächst
dass der Geschmack in euch erwächst,
wie Hitze euch den Arsch durchzieht
und was euch sonst an Streichen blüht.
Die Weidenrute ist sodann
als nächste mit dem Streichen dran.
Ein elegantes Instrument,
das man seit altersher gut kennt
und das mit seiner Federkraft
auf weichem Fleisch flugs Röte schafft.
Es schnellt mit Schwung auf blanke Haut
und deutlich wird dann Jaulen laut.
Doch schließlich kommt zum guten Schluss
die Rute aus der Haselnuss.
Sie gerbt mit Nachhalt euch das Fleisch
und aus dem Jaulen wird Gekreisch.
Ganz sicher wird es ihr gelingen,
zum Dauerkreischen euch zu bringen.
Ist euch nun klar, worum es geht.
warum ihr festgebannt hier steht?
Habt ihr begriffen, was geschieht,
wenn ihr nicht schleunigst euch verzieht?
Ich sprech in Güte euch nun frei,
zieht Leine und haut ab, ihr zwei!“
Und in der Tat, die beiden rennen,
gepeitscht von Angst so schnell sie können,
zum offnen Fenster und hinaus.
Nur weg von diesem Geisterhaus!
Statt Beute Beine in der Hand,
sind sie so schnell wie nie gerannt,.
und spürn genau, wie schnell man rennt,
Wenn aus dem Arsch die Lunte brennt!
Und jwd, janz weit dahinten,
sieht man sie winzig klein verschwinden.
Das Zöfchen aber freut sich sehr,
beklagt sein Los nun gar nicht mehr,
denn erstens: irgendwas fand statt,
und zweitens, weil’s Gesellschaft hat.


[1]Zum Elfenzeichen siehe die Ballade von den Pilzen (noch unveröffentlicht)
[2]Falls Ihnen diese Verse bekannt vorkommen, haben Sie recht.


Der Schlossgeist - Teil 2
(An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass auch Goethes Faust teilweise im Prosa verfasst wurde.)

Das Zöfchen saß auf der Bank neben dem Eingangstor des Schlösschens und genoss die wärmenden Strahlen der Morgensonne. Daneben saß der Geist und tat desgleichen.
Seit zwei Tagen hatte er sich nicht mehr bemerkbar gemacht, und das Zöfchen hatte schon befürchtet, ihn unwissentlich düpiert oder gar ernsthaft verstimmt zu haben. Voller Missmut hatte es zwei einsame Nächte verbracht.
Doch heute morgen auf der Bank war es plötzlich von einem Gefühl der Geborgenheit und engen Vertrautheit umfasst worden, und gleich darauf war der Geist neben ihm gesessen - einfach so!
Als es eine federleichte Hand auf dem Oberschenkel spürte, zupfte es den störenden Stoff des Rockes nach oben und nahm lächelnd die Knie auseinander, sodass das zartfingrige Gebilde auf warmem, weichem Fleisch ruhte.
Außerdem beschloss es, sich vorerst zufrieden zu geben und der Frage nach seiner Abwesenheit zu einem geeigneteren Zeitpunkt nachzugehen.
Eine halbe Stande mochte so vergangen sein, als ein Automobil in die Auffahrt zum Schlösschen einbog. Das Zöfchen erkannte den Wagen sofort. Es handelte sich um das Käfer-Cabriolet der Dame, ein Elektro-Auto, das mindestens so wohlfrisiert war wie ihre Haarpracht, nachdem das Zöfchen seine Kunst hatte walten lassen.
Schon kam der Wagen näher, und Kies spritzte auf, als die 400 PS kontrolliert ins Schleudern gerieten, das Auto sich quer stellte und zwei Armeslängen vor der Bank zum Stehen kam.
Ohne die Tür zu öffnen, sprang die Dame heraus, und als das Zöfchen aufstand und zum Begrüßungsknicks ansetzte, sagte sie nur: „Keine Fisimatenten, setz dich hin und hör zu!“
Das Zöfchen nickte, warf einen Blick zur Seite und stellte beruhigt fest, dass der Geist verschwunden war.
„Wie du weißt, bin ich im Vorstannd der Liga für Damenhaftigkeit “, fuhr die Dame fort und setzte sich neben das Zöfchen auf die Bank, „und du konntest dir sicher denken, dass ich nicht nach Bad Digital in die Ligazentrale gefahren bin, um dort eine Wellness-Woche zu verleben." (Die Liga für Damenhaftigkeit ist eine seit Jahrhunderten existierende Schwesternschaft, die sich die Förderung des Frauseins zum Ziel gesetzt hat. )
Das Zöfchen nickte erneut, denn in der Tat hatte es am Zweck der Reise gezweifelt.
„In Wirklichkeit haben wir vom Vorstand begonnen, das Liga-Archiv zu digitalisieren. Eine Heidenarbeit, kann ich dir sagen! Die Scanner sind heiß gelaufen, die Texterkennungsprogramme sind verzweifelt, und die Festplatten haben sich beim Rotieren beinahe in uraltem Akten- und Urkundenstaub festgefressen.
Natürlich haben wir auch diverse Algorithmen über die Daten laufen lassen, und du glaubst nicht, was da alles zum Vorschein gekommen ist! Wer mir wem und wer überraschenderweise nicht mit wem, und welche Besitzurkunden falsch sind und welche Erbschaften erschlichen und welche Landmarken versetzt wurden und so weiter und so fort, denn schließlich reicht das Archiv zurück bis ins 11. Jahrhundert. Aber kommen wir zum Punkt: Wir hatten die Algorithmen aufgeteilt und jeder von uns einen zu näheren Auswertung zugewiesen. Und der meinige, wenn ich das so sagen darf, meldete nun - stell dir das vor! - dass wir hier mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Schlossgeist haben. Ich habe mich sofort ins Auto geworfen und bin hergefahren, denn ich will mir keinesfalls entgehen lassen, wenn er tatsächlich auftaucht.
Ich frage dich nun: hast du irgendetwas bemerkt, was auf einen Schlossgeist hindeuten könnte? Der kleinste Hinweis könnte wichtig sein!
Das Zöfchen schlug die Augen nieder. „Ach, Madame“, sagte es; „der Geist und ich, wir haben schon Bekanntschaft geschlossen. Ich glaube, er mag mich.“
Das Zöfchen stand nun schon einige Jahre im Dienst der Dame, doch unmittelbar nachdem es zu Ende gesprochen hatte, geschah etwas, das es während dieser doch recht langen Zeit noch nie auch nur in Ansätzen erlebt hatte: Mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund gab Dame diverse isolierte uvulare Frikative von sich, die der Lautgabe eines asthmakranken Seehunds glichen, sich aber schließlich doch zu einem gekrächzten „Wie? Was? Wo? Erzähl!“ verdichteten.
Und das Zöfchen berichtete, wie der Geist erschienen war und wie er sich in seinem Bett gewärmt hatte. Was dann geschehen war, überging es, sondern es fuhr mit dem fort, was sich im Kuriositätenkabinett ereignet hatte.
Kaum hatte es zu Ende gesprochen, als die Luft vor der Bank grünlich flimmerte und der Geist erschien - prächtig angetan mit Stulpenstiefeln, bunt besticktem Wams und Federhut.
Er nahm den Hut vor die Brust, setzte den linken Fuß vor, holte mit dem rechten Arm aus und vollführte eine Verbeugung von solch vollendeter Eleganz, dass ihm die Dame unwillkürlich die Hand zum Kuss entgegenhielt. „Ihr seid willkommen in meinem Hause“, sagte sie dabei.
Tatsächlich nahm der Geist die Hand und drückte die Knochenlippen auf den Handrücken. Unmittelbar darauf wurde er durchsichtig und verschwand.
Die Dame aber spürte ein anregendes Kribbeln, das ihr den Arm bis zur Schulter hochlief und von dort hinab in die rechte Brust bis hin zur Spitze, wo es verharrte.
In der folgenden halben Stunde erfüllte der Nachhall des fulminanten Auftritts des Geistes den Geist des Zöfchens. Richtig stolz war’s auf ihn, und es gestand sich ein, dass es ihn zunehmend als den seinen zu betrachten geneigt war.
Die Dame aber lauschte nachdenklich dem schmeichelnden Pulsieren in ihrer Brustspitze.

Bald darauf kam die Mittagszeit heran, und nicht nur beim Zöfchen stellte sich ein nicht mehr zu ignorierendes Hungergefühl ein.
Die beiden Frauen gingen ins Arbeitszimmer der Dame, die setzte sich an den Computer, loggte sich in den Großrechner der Ligazentrale ein und rief die neuesten Informationen in Sachen Schlossgeist ab.
Wahrenddessen richtete das Zöfchen in der integrierten Küchenzeile einen Imbiss aus Räucherlachs, Meerrettich, Butter und Toast an - nicht zu vergessen die selbst angerührte Mayonnaise.
Während die beiden aßen, erzählte die Dame weiter von der Digitalisierung des Liga-Archivs.
„Wir arbeiten mit den neuesten KI-unterfütterten Quantencomputern, und da kann es nachgewiesenermaßen zur Aktivierung von Quanteneffeken kommen. Die Algorithmen wirken gleichsam als Beobachter und lösen entsprechende Reaktionen aus. Unser Schlossgeist ist anscheinend eine Art Schrödinger-Katze, bei der momentan die Existenzvariante der Superpostion zum Tragen kommt. Allerdings meldet der Rechner, dass die Amplitude des Existenzpotenzials schwankt, sodass der Geist - um es nachvollziehbar auszudrücken - einmal da und einmal nicht da ist.“
Das Zöfchen hatte kaum etwas verstanden, aber bei den letzen Worten nickte es. Deshalb also war es zwei Nächte lang einsam geblieben.
„Außerdem“, fuhr die Dame fort, „liefert der Algorithmus noch einige Informationen, mit denen ich nichts anfangen kann. So verweist er auf ein berühmtes Liebesgedicht des Mittelalters. Es wird auch als das älteste Liebesgedicht in deutscher Sprache bezeichnet und geht so:
Du bist min, ich bin din, des solt du gewis sin. Du bist beslozzen in minem herzen; Verlorn ist daz sluzzelin. Du muost immer drinne sin.
Das Orginal entstand um das Jahr 1180 und befindet sich in der Bibliothek des Klosters Tegernsee.“
Der Computer gab einen sanften Glockenton von sich.
„Eine neue Nachricht“, meinte die Dame und ging zum Rechner. „Es kommen nur noch einzelne Wörter mit Zahlen dazwischen. Aha, das sieht aus wie Wahrscheinlichkeiten für einen kausalen Zusammenhang. Zum Beispiel wird die Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenhang zwischen Liebe und Vereinnahmung mit 0,979 angegeben, also eine vereinnahmende, besitzergreifende Liebe. Das wäre fast krankhaft.
Die Dame druckte die Datei aus und setzte sich mit dem Papier in der Hand wieder an den Tisch.
„Da, lies selbst“, sagte sie und reichte den Ausdruck dem Zöfchen. „Vielleicht kannst du mehr damit anfangen als ich, du kennst den Geist schleßlich intensiver“.
Bei dem Wort „internsiver“ schwang leiser Neid mit.
Das Zöfchen las die folgenden Worte und Zahlen:
Liebe 0,979 Vereinnahmung
Liebe 0,183 Selbstlosigkeit
Gefangensein 0,887 Schlüssel
Gefangensein 0,999 Tod
„Ich weiß nicht“, sagte das Zöfchen, „nach wahrer Liebe klingt das nicht. Sogar der Tod kommt vor. Aber was es bedeuten soll, kann ich mir auch nicht vorstellen.“
„Uns bleibt nur noch eins: Abwarten“, meinte die Dame, „abwarten, bis der Computer neue Informationen ausspuckt oder der Geist wieder erscheint.“

Am Abend saßen das Zöfchen und die Dame in der kleinen Bibliothek des Schlösschens. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Kamin, vor dem ein Schaukelstuhl stand; und die Wände waren bedeckt mit Bücherregalen. Meistens enthielten sie ledergebundene Folianten; doch nicht selten waren auch moderne Leinenbände zu sehen. Dem Kamin gegenüber war ein riesiger Bildschirm in die Wand eingelassen.
Das Zöfchen war damit beschäftigt, einige Neuerwerbungen in die Strumpfbandsammlung der Dame einzuordnen und kompetent zu beschriften. Erschien eine rosa Zungenspitze zwischen seinen Lippen, zeigte dies an, dass eventuell vorhandene kleine Risse oder Löcher mit winzigen Stichen ausgebessert wurden.
Die Dame hatte es sich auf einer Chaiselongue bequem gemacht und las in den Tolldreisten Geschichten von Honoré de Balzac. Sie hatte sich an das französische Original gewagt, und wenn sie auch zuweilen ihr Handy zu Hilfe nehmen musste, um in ein Wort nachzusehen, so genoss sie doch die mit grandioser Derbheit verbundene Eleganz des Französischen. Gerade las sie die Geschichte von der Edelhure Imperia, die anlässlich des großen Konzils von Konstanz in ebendieser Stadt Quartier genommen hatte, dann aber überraschenderweise ein kleines Priesterlein mit festem Fleisch und glatter Haut zum Favoriten erkor, was dazu führte, dass mancher kirchliche Würdenträger über Gebühr lange warten musste, bis die Reihe an ihn kam, ihr beizuliegen.
Plötzlich bemerkte das Zöfchen im Augenwnikel eine Bewegung. Der Schaukelstuhl!
Er schaukelte, was eigentlch nicht ungewöhnlich war, aber der Geist saß darin.
Die beiden Frauen sahen sich an, und ein stillschweigendes Übereinkommen wuchs zwischen ihnen heran. Sie würden die Anwesenheit des Geistes als selbstverständlich betrachten. Er gehörte einfach dazu und war hier zu Hause. Als wäre nichts geschehen fuhren die beiden mit ihrer Beschäftigung fort.
Offenbar genoss der Geist die ruhigen, gleichförmigen Bewegugen des Stuhles, und dazu die im Raum herrschende friedvolle Atmosphäre. Er schien sie förmlich einzusaugen, denn die giftgrünen Stellen seiner Aura wurden immer blasser und verwandelten sich zunehmend in ein sanftes, freundliches Lindgrün.
Auch das Flackern der Aura ließ nach, und als sie ihn als stabiler, in sich ruhender Schimmer umhüllte, wurde das Wiegen des Schaukelstuhls langsamer und kam schließlich zum Stillstand.
Doch als das Zöfchen das letzte Strumpfband flickte und die Dame das Ende der Geschichte erreicht hatte, wurde die Aura blasser, die Konturen des Geistes verschwammen, und gleich darauf war er verschwunden.
„Er ist schlafen gegangen“, sagte das Zöfchen, „jetzt ist er wirklich daheim!“
Und dann erzählte es von der denkwürdigen Nacht, als der Geist zum ersten Mal erschienen war. Die Dame hörte aufmerksam zu, und zuweilen huschte ein amüsiertes Lächeln über ihr Gesicht.
„So etwas habe ich mir schon gedacht“, sagte sie, „ich kenne dich doch, du und dein weites Herz.“
„So bin ich halt“, sagte das Zöfchen, und meinte dann, dass sein Tun vielleicht dazu beigetragen habe, dem Geist das Gefühl des Daheimseins zu vermitteln.
Das sei sicher der Fall, erwiderte die Dame. Das Zöfchen habe den Geist auf der emotionalen Ebene willkommen geheißen, sie aber habe das gleiche auf der rationalen Eben getan, indem sie über seine Herkunft nachgedacht und ihn als Gast begrüßt habe.
Am nächsten Morgen war das Zöfchen gerade dabei, Kaffee aufzubrühen, als die Dame ins Frühstückszimmer kam. Prüfend sahen sich die beiden Frauen an, lächelten jedoch gleich darauf erleichtert. Keine hatte der Geist in der Nacht besucht.
Nach dem Frühstück ging die Dame in ihr Arbeitszimmer und erledigte diversen „Papierkram“, wie sie zu sagen pflegte, obwohl kaum noch Papier zur Verwendung kam. Das meiste „Papier“ lag schließlich in Form von Dateien vor. Dabei runzelte sie manchmal missmutig die Stirn, denn aus dem „Papierkram“ ging deutlich hervor, dass die Unterhaltskosten für das Schlösschen die verfügbaren Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung deutlich überstiegen. Es würde wohl nichts anderes übrigbleiben, als ein Stück Land zu verkaufen. Aber wie lange würde das reichen?
Das Zöfchen hingegen widmete sich seinen häuslichen Pflichten, die es während der Abwesenheit der Dame etwas vernachlässigt hatte.
Der Tag ging schnell vorbei, und am Abend saßen die beiden Frauen wieder in der Bibliothek. Die Dame hatte sich die Geschichte von den Späßen Ludwigs des Elften vorgenommen, einem als Witzbold bekanntem König, welcher einem ältlichen Fräulein einen jungen frisch Gehenkten ins Bett schmuggeln ließ, der aber wegen schlampiger Arbeit des Henkers wieder zum Leben erwachte und dem Fräulein noch viel Freude bereitete. Das Zöfchen hingegen bosselte an der geklöppelten Borte eines parfümierten Seidentüchleins von jener Art herum, das dem jungen Hitzkopf d’Artagnan in dem berühmten Roman Die drei Musketiere zu einem Rencontre mit dem Musketier Aramis verhalf.
Plötzlich blickten die beiden auf. Der Bildschirm begann zu flimmern, und ein kurzer Text in altertümlicher Schrift erschien. Er sah aus wie die Titelzeile eines längeren Artikels. Nach einigen Sekunden wechselte das Bild zu einer neuen Überschrift, und auf diese Weise bauten sich nach und nach die folgenden Zeilen auf:

Wie das Fräulein von Göchern um sein Erbe betrogen wurde.

Wie die resche Witwe Kreszentia Mühlbergerin vergebens versuchte, ihr Glockenspiel einzuweihen und zur vertrockneten Witfrau wurde.

Wie der junge Freiherr von Waldheim wegen Fideikommiss und Geizkragen von älterem Bruder nach Amerika ging, es dort aber zu nichts brachte.

Wie die späte Jungfer Walburga Granninger ein altes Gesetz nutzte und gegen Ende des großen Krieges einen schwedischen Feldweibel, weil er gar so schmuck war und sie nicht, vom Galgen weg zum Ehegespons nahm, die beiden aber bald darauf in Dauerzank verfielen, der Weibel sich in die Büsche schlug und sie der Trunksucht verfiel.

Wie der jungvermählten Baroness Gammersheim wegen rammdösigem Stinkbock von Ehekrüppel die körperliche Liebe verhasst wurde.

Wie der junge Graf Waldenburg einer entlaufenen Nonne im Turmstübchen seines verlassenen Schlosses Zuflucht gewährte und schließlich seinem Leben ein Ende setzte.

Nach der letzten Überschrift wurde der Bildschirm schwarz.
„Das sind alles Beschreibungen von unschönen bis traurigen Begebenheiten“, meinte die Dame. „Ich glaube, sie stammen vom Großrechner in der Liga-Zentrale, Andeutungen in dieser Richtung zeigten sich ja gleich zu Anfang unserer Digitalisierungsbemühungen. Der Computer scheint eigenständig weitergearbeitet zu haben.“
„Das ist ja grauenhaftes Zeug“, sagte das Zöfchen. „Hat er denn gar nichts Schönes zutage gefördert?“
„Ich habe das Gefühl, all diese unguten Dinge haben etwas mit unserem Geist zu tun“, erwiderte die Dame nachdenklich.
Indiesem Augenblick flimmerte der Bildschirm erneut, aber diesmal erschien keine Schrift, sondern ein in Grautönen gehaltenes Bild. Es zeigte eine kleine Burg mit hohem Turm, der in der oberen Hälfte ein vergittertes glasloses Fenster besaß.
Die Perspektive wechselte, und ein spärlich möblierter Raum wurde sichtbar. Unter dem Fenster befand sich eine einfache Lagerstatt, und daneben stand eine große, Truhe mit kunstvoll beschlagenen Ecken.
Die Tür öffnete sich, und ein Jüngling trat ein, begleitet von einer Nonne! Diese zog einen Schlüssel aus ihrem Gewand, schloss die Tür von innen ab und stecke ihn wieder ein. Die Bewegungen der Gestalten wirkten ruckhaft und ungelenk, und die Konturen der Körper waren unscharf und verschwommen, aber noch gut zu erkennen.
„Wie es scheint, ist es dem Computer gelungen, die erschlossenen Informationen zu Gestalten hochzurechnen“, sagte die Dame beeindruckt.
An dieser Stelle des Geschehens begann ein Fließtext durch den unteren Teil des Bildes zu laufen:
Du bist min, ich bin din, des solt du gewis sin
Die Nonne presste sich an den Jüngling, versuchte ihn zu küssen und umschlang ihn mit den Armen.
Du bist beslozzen in minem herzen
Doch er wehrte sich! Die Nonne ließ aber nicht ab, der Jüngling versuchte, sie mit den Armen auf Abstand zu halten und schien auf sie einzureden. Plötzlich riss sie sich los, griff nach dem Schlüssel, lief zum Fenster und warf ihn hinaus.
Verlorn ist daz sluzzelin
Mit gespenstischem Lächeln stürzte sie sich wieder auf ihn, doch er wehrte sie erneut ab.
Du muost immer drinne sin.
Er stieß sie zurück, sie stolperte, geriet ins Hohlkreuz und fiel nach rückwärts mit dem Hinterkopf auf die rechte obere Ecke der Truhe.
Als das Zöfchen das sah, mochte es sich lieber nicht vorstellen, welches Geräusch damit verbunden war.
Reglos blieb die Nonne liegen, eine große Blutlache breitete sich rings um den Kopf aus.
Der Jüngling beugte sich zu ihr nieder, tätschelte ihre Wangen, schaute ihr ins Gesicht. Doch er sah nur in die blicklosen Augen einer Leiche.
Er setzte sich auf das Bett, schlug die Hände vors Gesicht und blieb so einige Zeit sitzen. Dann sprang er auf, hastete zum Fenster und sah hinaus. Enttäuscht wandte er sich ab, lief zur Tür und rüttelte am Schloss. Vergebens.
Das Bild wurde dunkel, aber schon bald darauf wieder hell. Erneut war der Jüngling zu sehen, wie er ruhelos umherlief, immer wieder an der Tür rüttelte, oder wild mit wunden Fäusten dagegen hämmerte. Fünf Mal wurde der Bildschirm dunkel und wieder hell.
„Das symbolisiert Tag und Nacht“, flüsterte die Dame-
Als es zum sechsten Mal hell wurde, kniete sich der Jüngling nach einigem Zögern neben die Tote und zog ihr das Zingulum vom Leib. Das eine Ende band er um das Fenstergitter, das andere formte er zu einer Schlinge.
Dann wurde das Bild dunkel, aber nur für einige Sekunden. Als es wieder hell wurde, scheuten sich die beiden Frauen, genauer hinzusehen. Zu erkennen war das Erwartete: Der Jüngling hing mit hervorgequollenen Augen und heraushängender, schwarzgeschwollener Zunge am Fenstergitter.
„Madame, sehen Sie nur! Der Geist!“, rief das Zöfchen plötzlich. Die beiden Frauen hatten so gebannt auf den Bildschirm geblickt, dass sie das Erscheinen des Geistes überhaupt nicht bemerkt hatten. Tatsächlich! Er saß im heftig schaukelnden Stuhl, wurde förmlich vor- und zurückgeschleudert und schien die wilden Bewegungen des Möbels nicht mehr beherrschen zu können. Die Aura flackerte giftgrün, wurde von schmutzigbraunen Schlieren durchzogen und schleuderte eitergelbe Eruptionen in den Raum.
„Er hat uns sein Schicksal gezeigt“, sagte die Dame. „Wieviel Vertrauen muss er zu uns haben, um sich so weit zu öffnen!“
Dem Zöfchen aber wurde klar, warum er geweint hatte. Nicht in erster Linie wegen seiner Einsamkeit, sondern wegen seines Schicksals!
Und dann taten die beiden Frauen etwas, das sie sich auch im Nachhinein nicht im Entferntesten erklären konnten. Es kam einfach über sie, aber sie wussten genau, was zu tun war.
Sie liefen zum Stuhl und ergriffen links und rechts die Lehnen, um die wilden Bewegungen zu verlangsamen. All ihre Kraft mussten sie aufwenden, doch schließlich gelang es, ihn zur Ruhe zu bringen. Dann beugten sie sich vor und drückten die Stirn seitlich auf jenen Bereich der Aura, die den Kopf des Geistes überspannte. Das Zöfchen stand links vom Geist und berührte mit der rechten Seite der Stirn die rechte Kopfseite des Geistes. Damit aber stellte es einen Kontakt auf der emotionalen Ebene zwischen seiner rechten Hirnhälfte und der Geistes her. Die Dame stand zur Rechten des Geistes und hatte mit ihrer linken Hirnhälfte Kontakt auf der rational-kognitiven Ebene zu dessen linker Hemisphäre aufgenommen.
Auf diese Weise wurde dem Geist auf zwei psychischen Dimensionen zugleich noch einmal und intensiv Geborgenheit und Zugehörgkeit signalisiert.
Wie Saugnäpfe klebten ihre Köpfe am Geist, und tatsächlich beruhigte sich das Flackern, und die Aura nahm wieder eine warme, lindgrüne Farbe an. Kurz darauf wurde sie blasser und löste sich schließlich ganz auf. Der Geist war verschwunden.
Die beiden Frauen fühlten sich müde, geradezu erschöpft, aber auch durchflossen von einem Gefühl hochgradiger Zufriedenheit. Sie hatten eine noch nie dagewesene Leistung vollbracht.

Am nächsten Morgen verkündete die Dame, sie wolle nun ordentlich mit dem Computer schmusen. Vielleicht würde er dann etwas Tröstliches in Sachen Geist zutage fördern. Sie werde der Leistungsfähigkeit seines RAM schmeicheln, das Motherboard herzen und um die CPU scharwenzeln, kurz: ihn ganzheitlich karessieren. Zudem habe sie einige Leckerli für ihn vorbereitet, zum Beispiel die Schwarzloch-analoge Datenkompression und diverse selbstreferentielle Trifurkationen, nicht zu vergessen die Kaltentalsche Unschärfeschärfung und die autopoietische Systemquadratur - und wenn er besonders brav sei, kriege er noch elf Frauenfußballmolküle in Superposition. Zuversichtlich lächelnd verließ sie den Raum, um ihren Plan umzusetzen.
Das Zöfchen aber ging seine Ronde.
Beim Mittagessen (sie hatten sich schwäbische Maultaschen in klarer Rindersuppe kommen lassen) meinte die Dame, es sehe so aus, als ob ihre computertechnischen Bemühungen Erfolg hätten. Der Rechner schien das Karessieren zu genießen und habe öfters selbstproduzierte Updates abgearbeitet. Sie glaube, da habe er onaniert. Kurz vor Mittag sei jedoch eine rote Überlastungsmeldung auf dem Bildschirm erschienen, zusammen mit der Auskunft, dass noch mindestens sieben Stunden Rechenzeit erforderlich seien, bei der keinerlei Störung eintreten dürfe. Dann habe er die Verbindung getrennt. Es bleibe wohl nichts anderes übrig, als abzuwarten. Eines aber sei beim Durchrechnen der unzähligen Möglichkeiten immer wieder aufgetaucht: die Sache mit dem Schlüssel. Das müsse ein entscheidender Kristallisationspunkt im Schicksalsverlauf des Geistes sein.
Da fiel dem Zöfchen etwas ein.
„Aber Madame“, sagte es, „wir haben doch einen Schlüssel. Im Kabinett hängt er.“
„Den für den Keuschheitsgürtel?“ fragte die Dame. „Hm, wenn ich mir‘s genau überlege, habe ich keine Ahnung, wo er herkommt. Er hängt jedenfalls schon ewig da.“
„Aber wenn er wirklch etwas mit dem Geist zu tun hat“, meinte das Zöfchen, „dann könnte das auch erklären, wieso er gerade hier bei uns auftauchte:“
„In der Tat! Hol ihn doch mal her!“
Sie brauchte das Zöfchen nicht zur Eile zu mahnen, denn es sprang sofort auf und sauste los.
„Da ist er“, sagte es kurz darauf.
Nachdenklch wog die Dame den Schlüssel in der Hand. „Zu einem Keuschheitsgürtel soll er also gehören“, sagte sie, „dann würde die Zeit jedenfalls stimmen. Aber wie sahen die Schlüssel im 12. Jahrhundert wohl aus?“
„Und wenn wir im Internet nachschauen?“, schlug das Zöfchen vor.
Die Dame zückte ihr Handy, und wrklich war schnell eine Abbildung gefunden, die laut Unterschrift einen Schlüssel aus dem Hochmittelaler darstellte.
„Der sieht ja fast so aus wie unserer“, sagte das Zöfchen, „gezackter Bart, und der Griff ist rund wie ein Kreis“.
„Tatsächlich!“, stellte die Dame fest und fuhr fort: „Pass auf, wir machen jetzt folgendes: Wir legen den Schlüssel auf den Schaukeltsuhl, schließen dieTüre ab und sehen nach sieben Sunden nach, ob etwas geschehen ist.“
Gesagt getan, und dann kam der längste Nachmittag ihres Lebens. Doch sie blieben standhaft, und erst nach wahren sieben Stunden öffneten sie die Tür zur Bibilothek.
Der Schlüssel war verschwunden!
Sie hatten sich noch nicht gesetzt, als sich schon ein Bild auf dem Schirm aufbaute. Es zeigte einen Mann und eine Frau, die - offenbar in einem Fernsehstudio - auf einem großen rechteckigen Sofa saßen. Die Frau begann zu sprechen und begrüßte die „Lieben Zuschauer:innnen“ zur erstmaligen Ausstrahlung von „Kultur am Freitag“, einem Format, das von nun an als aktuelle Life-Sendung in Echtzeit jeden Freitag ausgestrahlt werden würde.
Das Zöfchen und die Dame sahen sich an. Heute war Montag!
Indes fuhr die Frau fort und wies auf den Schwerpunkt der heutigen Sendung hin. Man werde sich mit einer germanistischen Sensation von geradezu erdumspannender Tragweite befassen und habe zu diesem Zweck Enno Graf Waldenburg eingeladen. Er sei als Professor für Germanistik Spezialist für mittelhochdeutsche Literatur und außerdem Psychiater.
Die Frau richtete nun das Wort an den Gast, und es ergab sich folgendes Gespräch:
„Noch einmal guten Tag Herr Professor und vielen Dank für ihre Bereitschaft, heute zu uns zu kommen. Sie sind Professor für Germanistik und Psychiater. Das ist eine ungewöhnliche Kombination. Was hat es denn damit auf sich?“
„Na ja, zunächst befasste ich mich ausführlich mit der deutschen Literatur des Hochmittelalters. Dabei fiel mir aber auf, dass häufig Ergüsse dabei waren, die nach meiner laienhaften Meinung auf eine rmentale Störung des Verfassers hindeuteten. Deshalb wandte ich mich zusätzlich der Psychiatrie zu, und meiner Überzegung nach hat sich mein Verdacht bestätigt. Das gilt vor allem für die Mystik mit ihren wahnhaften Phantasmen, zum Beispiel bei Hildegard von Bingen, aber auch für manche Minnesänger, die eine eingebildete Dame zunächst jubelnd im Geiste erobern, sie dann aber geradezu heulend anjammern, sie möge dem Dichter doch als allerhöchste Gnade ein Füßchen zeigen. Das lässt eine bipolare Störung vermuten, früher hätte man manisch-depressiv gesagt.“
„Sehr interessant, Herr Professor. Aber würden Sie unseren Zuschauer:innen jetzt bitte kurz erklären, worum es sich bei der angesprochenen Sensation handelt.“
„Gerne. Bei der Probedurchleuchtung mittels eines quantenbasierten tomographischen Verfahrens erwies sich ein bislang unbeachtetes Pergament in unserer Bibliothek als Dreifach-Palimpsest, in dessen unterer Schicht wir aus den Resten der ursprünglichen Beschriftung mit Hilfe eines KI-gesteuerten Rekonstruktionsprogramms einen Text visualisieren konnten, der sich als Variante des berühmtesten Liebesgedichts des deutschen Hochmittelalters erwies.“
„Äh, nun ja… könnten Sie das vielleicht etwas erläutern, insbesondere, was man unter einem, äh, Palimps.. äh versteht?“
„Ein Palimpsest ist ein Pergament, dessen Beschriftung abgeschabt wurde, um Platz für einen neuen Text zu schaffen. Pergament war teuer, und deshalb hat man ziemlich häufig zu dieser recht brutalen Methode gegriffen. Normalerweis wurde nur einmal geschabt, weil sonst das Pergament zu dünn geworden wäre. In unserem Fall aber wurden zwei Texte entfernt, und nur wegen der neuartigen Durchleuchtungsmethode konnten wir zur ursprünglichen Beschriftung der dritten Schicht vordringen.“
„Entschuldigen sie bitte meine nochmalige Unterbrechung, aber Ihre Familie ist sehr alt, könnte es nicht sein, dass einer Ihrer Vorfahren genau an diesem Pergament – hihihi – geschabt hat?“
„Der Stammbaum meiner Familie reicht in der Tat zurück bis ins 12. Jahrhundert, aber was Sie da andeuten, ist reine Spekulation und führt uns nicht weiter. Wenden wir uns lieber der Faktenlage zu.“
„Selbstverständlich, Herr Professor:“
„Um das wahrhaft Sensationelle unserer Entdeckung zu verdeutlichen, muss ich etwas ausholen. Ich werde zunächst die bisher bekannte Fassung des Gedichtes vorstellen.
Es stammt aus dem 12. Jahrhundert, wurde von einer Nonne verfasst und richtet sich an einen fiktiven Geliebten. Es entsprang also der Phantasie einer zur Keuschheit verpflichteten, wenn nicht gar gezwungenen Person.
Hier haben wir eingeblendet das Originaldokument. (Der werten Leserschaft sei empfohlen, sich mit Hilfe des Internets und eines allseits bekannten General-Lexikons unter dem Stichwort "du bist min" eine Abbildung des zur Debatte stehenden Textes zeigen zu lassen. )
Wie man sieht, ist das Gedicht nicht zu sehen. Das Blatt ist bedeckt mit Buchstaben, die ohne Punkt und Komma aneineinandergereiht sind, und nur wer Latein kann, ist in der Lage, bei genauem Hinsehen lateinische Wörter zu erkennen. Aber die Buchstaben bilden nicht nur lateinische Wörter, sondern auch mittelhochdeutsche!
Erst wenn ich diesen Knopf drücke, wird das Gedicht farbig hervorgehoben und damit sichtbar. Wie man nun erkennt, ist es eingebettet in einen längeren lateinischen Text. Es handelt sich dabei übrigens um eine Sammlung von Musterbriefen, worunter sich auch der eines Geistlichen befindet, der einer Dame Avancen macht.
Wenden wir uns nun dem Text zu. Er ist zwar in einer sogenannten Minuskelschrift geschrieben, aber wenn ich ihn vorlese, müssten die Wörter erkennbar werden. Das Gedicht beginnt mit einer kategorischen Feststellung: Du bist min. Erst dann erfolgt ein Angebot zum Ausgleich: Ich bin din, aber sofort danach kommt ein Befehl: des solt du gewis sin. Da steht ein ‚du sollst‘, und das ist im Mittelhochdeutschen ein Befehl! Da steht nicht etwa ein ‚du kannst‘ (wenn du magst).
Und dann: Du bist beslozzen in minem herzen. Beschlossen heißt eingeschlossen, und das Hohlorgan Herz dient hier als Gefängnis, wenn nicht gar als Kerker. Es besteht auch keinerlei Aussicht auf Befreiung, denn der Schlüssel ging verloren oder wurde vielleicht sogar absichtlich weggeworfen: Verlorn ist daz sluzzelin. Das Schicksal der imaginierten Person ist damit besiegelt: Du muost immer drinne sin.
„Aber Herr Professor, das klingt ja gar nicht nach romantischer mittelalterlicher Minne.“
„In der Tat! Deshalb kommen wir nun zu der merkwürdigen Platzierung des Gedichts. Dabei fällt wie bereits erwähnt zunächst auf, dass die Buchstaben zwar einigermaßen lesbar sind, man aber nach dem Gedicht suchen muss. Der lateinische Text hört ganz plötzlich auf, und schlagartig bilden die Buchstaben keine lateinischen Wörter mehr, sondern mittelhochdeutsche, um dann am Ende des Gedichts übergangslos wieder lateinische zu formen. Diese Textstruktur aber ist typisch für Verfasser, die an einer psychischen Störung aus dem schizophrenen Formenkreis leiden. In unserem Fall werden die Avancen des eingangs erwähnten Briefes auf das imaginierte Subjekt bezogen und lösen einen schizophrenen Schub aus. Der Kontext springt vollkommen unvermittelt, und beflügelt durch die einsetzende psychotische Gedankenflucht tut sich eine völlig andere Welt auf, durchsetzt von wahnhaften Situationsbeschreibungen und unerfüllbaren Wunschvorstellungen. In diesem Fall ist ein imaginierter Geliebter gefangen und kann nicht entkommen.
Zudem zeigt sich hier auch die Sehnsucht des Schizophrenen nach einem festen Anker in einer zerrissenen und zerfetzten Welt, die ohne jeglichen inneren Zusammenhang am Individuum verbeiläuft. Dazu noch eine Bemerkung zur Situation der Verfasserin: Ich glaube nicht, dass sie es noch lange im Kloster aushält. Denn Personen mit dieser psychischen Störung neigen zum sogenannten Eskapismus, das heißt, sie entfliehen ihrer Situation, sie laufen einfach davon – und sie sind sehr einfallsreich dabei, eine Möglichkeit dazu zu finden. Dann irren sie eventuell orientierungslos und von Wahnideen getrieben durch eine Welt, die sie nicht verstehen und die ihnen Angst macht.
Soweit das Original, nun aber zum neuentdeckten Text. Auch der wird nun eingeblendet, und es fällt sofort auf, dass er in der Mitte des Blattes als Block angeordnet ist. Die Schrift ist die gleiche, und auch diesmal lese ich vor:
Ich bin din. du bist min, des kanst du gewis sin. Du bist beslozzen in minem herzen; geborgen ist daz sluzzelin, kann niemals mehr verloren sin, und du darfst immer drinne sin.
Das Gedicht steht wie gesagt für sich allein auf einem sonst leeren Pergament. Es zeigt sich sozusagen selbstbewusst und voller Stolz. Insgesamt wirkt .das Blatt wie ein Geschenk.
Auch der Unterschied im Text wird sofort deutlich. Hier werden keine Feststellungen getroffen oder Befehle gegeben, es handelt sich vielmehr um ein von Zuneigung getragenes Geben und Nehmen. Besonders der Umgang mit dem Schlüssel sticht hervor: Er ist nicht verloren, sondern geborgen; auf ihn wird besonders aufgepasst – und er kann jederzeit benutzt werden.
„Vielen Dank, Herr Professor, für Ihre Ausführungen. Aber von wem ist denn nun das Gedicht.“
„Eine gute Frage, denn das wissen wir nicht! Und wir können diese Frage trotz verzweifelter Suche in sämtlichen verfügbaren Datenbanken und Bibliothekskatalogen nicht enimal ansatzweise beantworten. Es gibt nichts Vergleichbares. Man könnte fast glauben, das Gedicht stamme aus einem anderen Universum. Einen Trost aber gibt es: Wie es scheint, wurde es von der Geliebten eines Geliebten verfasst und weist somit auf Glück in der Liebe und im Leben hin. Auch könnte es tatsächlich als Geschenk gedacht gewesen sein, so ähnlich wie die Gedichte des verliebten Jünglings in der deutschen Romantik, nur dass es von einer Frau stammt.“
„Ein frühes Zeichen von Emanzipation?“
„Das kann man in der Tat so sehen!“
„Liebe Zuschauer:innen, mit dieser Hoffnung stiftenden Vermutung wollen wir schließen. Noch einmal herzlichen Dank Herr Professor.“
Der Bildschirm wurde dunkel.
„Ja heiliger Strohsack, was war denn das!“ sagte das Zöfchen und blickte die Dame ratlos an.
„Ich glaube, das war ein Blick in die Zukunft“, meinte diese. „Aber pass auf, da kommt noch etwas.“
Tatsächlich erschien wieder eine Schrift:
Ergebnisbericht:
Gravitationstsunamibedingte Falschverschränkungen im Mikrouniversenbereich, daher Quantenverdichtung vom Typ Schrödinger-Katze mit Fehlknick im Feynman-Pfad des Schicksalsverlaufs. Rückbildung mit Löschung fehlknickverursachter Irrläufer bei Anwesenheit eines Katalysators und Autorisierung durch mindestens zwei bewusstseinsbegabte Existenzen möglich.
„Sag ich‘s doch: Schrödinger-Katze“, sage die Dame. „Aber so ganz verstehe ich das trotzdem nicht. Anscheinend ist er in ein Paralleluniversum gerutscht, in dem all diese schrecklichen Dinge geschahen. Allerdings wird die Möglichkeit zur Rückbildung erwähnt, bedingt durch einem Katalysator. Der Schlüssel! Das muss der Schlüssel sein! Ein Katalysator wirkt durch die bloße Anwesenheit. Vielleicht nimmt`s mit unserem Geist doch noch ein gutes Ende.“
„Ach wenn`s doch so wäre!“, rief das Zöfchen. „Wie mich das freuen würde! Aber sehen sie nur, Madame, da ist die Rede von zwei Existenzen, sollen das vielleicht wir sein?“
In diesem Augenblick erschienen auf dem Bildschirm in ungefähr einem Meter Abstand zwei postkartengroße integrierte Touchscreens mit folgendem Text:
Stirn hier gegendrücken um Autorisierung zu bestätigen und Rückbildung zu starten.
Die beiden Frauen zögerten keinen Augenblick. Sie stellten sich nebeneinander vor den Bildschirm und folgten der Aufforderung.
Zunächst geschah nichts, doch nach einigen Sekunden glaubten sie zu spüren, dass ihnen Kriechströme durchs Gehirn liefen, die an bestimmten Stellen kurz verharrten, sich dann trennten und an anderen Stellen wieder zusammenfanden. Als angenehme Wärme sich ausbreitete, war es ihnen, als hielten sie die Erlaubnis, den Kopf zurückzunehmen, und es erschien dichter, quellender grauweißer Qualm auf dem Schirm. Wolkenartige Gebilde ohne wahrnehmbare Grenze flossen aus sich selbst heraus und wieder in sich zurück, bildeten hier und dort Verdichtungen oder durchscheinende Stellen, und schienen insgesamt ein stetiges Werden und Vergehen abzubilden. Doch schließlich bekamen dunkle Flecken Konturen und wurden zu Buchstaben, die Wörter und Sätze bildeten:
Rückbildung autorisiert und eingeleitet
Dann erschienen wieder Schriften. Sie ähnelten jenen vom Vortag, zeigten aber gravierende Unterschiede:

Wie das Fräulein von Göchern ums Erbe betrogen wurde, es aber kurz danach zurückbekam und sein Onkel von da an nur noch zitternd und sabbernd herumschlich, als hätte er einen Geist gesehen.

Wie die resche Witwe Kreszenzia Mühlbergerin ihr Glockenspiel einweihte und sich und den Bäckermeister Grambauer zu glücklichen Menschen machte.

Wie die jungvermählte Baronin Gammersheim nicht nur die Petersburger Schlittenfahrt kennen und lieben lernte, sondern auch die Zwiefache Schanghaier Hernahme und sogar das Große Lalula.

Wie die späte Jungfer Walburga Granninger ein altes Gesetz nutzte und gegen Ende des großen Krieges einen schwedischen Feldweibel, weil er gar so schmuck war und sie nicht, vom Galgen weg zum Ehegespons nahm, der Weibel sich nach Kriegsende als Sohn zur linken Hand einer schwedischen Baronin erwies, die beiden ins Schwedische zogen und Eltern von drei schmucken Söhnen wurden.

Wie der junge Freiherr von Waldheim wegen Fideikommiss und Geizkragen von älterem Bruder nach Amerika ging, es dort zu etwas brachte, zurückkam und das wegen Misswirtschaft heruntergekommene Familiengut rettete.

Wie der junge Graf Waldenburg ein Gedicht las, einen Ring verschenkte, seine Liebste in den Schlaf streichelte und selber einschlief.

Danach wurde der Bildschirm dunkel.
„Da hat der Geist aber gehörig aufgeräumt!“ sagte das Zöfchen und klatschte beifällig in die Hände.
Doch schon nach wenigen Sekunden flimmerte der Bildschirm wieder, diesmal jedoch durchzogen farbige Elemente das Bild. Die Turmkammer erschien, die Tür ging auf und ein junges Paar betrat den Raum. Das Mädchen hielt einen Schlüssel in der Hand, drehte sich um und schloss die Tür ab.
Das Bid war jetzt farbig, und die Personen hoben sich mit deutlichen Konturen von der Umgebung ab.
„Aha; die Irrtumswahrscheinlichkeit der Hochrechnungen geht gegen null, deshalb die gute Bildqualität“, stellte die Dame fest.
Das Mädchen steckte den Schlüssel in den Ausschnitt seines Gewandes und holte ein zusammengerolltes Pergament hervor, das sie dem Jüngling mit einem Lächeln überreichte. Der entrollte es und las den Text. Dann öffnete er die Truhe und kramte darin herum, wobei er sich so stellte, dass das Mädchen nicht in die Truhe blicken konnte. Auf dem Bildschirm jedoch wechselte die Perspektive, und im Inneren der Truhe wurde eine kleine Schatulle sichtbar, in der zwei Ringe lagen, einer mit blauem und einer mit lindgrünem Stein. Der Jüngling schloss die Truhe wieder, steckte den Ring mit dem grünen Stein dem Mädchen an den Finger und nahm es in die Arme. Eng umschlungen setzten sich die beiden auf die Lagerstatt, doch schon bald sanken ihre Oberkörper nach hinten, und sie lagen, die Gesichter einander zugewandt, nebeneinander auf dem Bett.
Schon bald stützte sich der Jüngling auf einen Ellenbogen und begann, das Mädchen mit der freien Hand zu streicheln. In zärtlicher Berührung bewegten sich seine Fingerkuppen über die Wange der jungen Frau.
Als das Zöfchen das sah, seufzte es.
Der Jüngling streichelte weiter, die Finger wanderten zum Ohrläppchen, umkreisten es und kehrten wieder zurück zur Wange. Das Mädchen schloss die Augen, der Atem wurde tiefer, langsam und regelmäßig hob und senkte sich die Brust.
Die Hand des Jünglings machte indes einen Ausflug zur Nase, liebevoll bewegte er die weichen Knorpel der Spitze hin und her.
Als das Zöfchen das sah, seufzte es sehr.
Doch was war das? Ein Ruck durchzuckte den Körper des Mädchens! Der Vorbote des Schlafes in Form einer Einschlafmyoklonie war gekommen und löste die letzten Verspannungen in den Muskeln. Das Mädchen schlief tief und fest, der Jüngling aber hob den Kopf, und nicht ohne Stolz schien er sein Werk zu betrachten.
Doch dann streckte er sich neben dem Mädchen aus, schloss die Augen und schlief ebenfalls ein.
Als sich ein feiner grüner Schimmer über den beiden ausbreitete, wurde der Bildschirm dunkel und folgende Schrift erschien:
Rückbildung beendet

„Ich glaube nicht, dass wir den Geist noch einmal sehen werden“, sagte die Dame. Das Zöfchen schniefte und brachte nur einen Schluchzer hervor.
„Das ist wirklich schade, und auch ich bin – das muss ich gestehen – ein bisschen traurig. Aber Kopf hoch, Jeanette, wir wollen ihm von ganzem Herzen alle Gute wünschen, und dass er und sein Mädchen ein langes, glückliches Leben vor sich haben.“
„Genau, Madame, das tun wir“, meinte das Zöfchen und gab einen bestätigenden Abschluss-Schniefer von sich.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück machte sich das Zöfchen wie gewohnt auf seine Runde, doch schon kurz nachdem es gegangen war, stürzte es ganz aufgeregt zurück in den Frühstückssalon.
„Madame, Madame, sehen sie nur!“ stieß es atemlos hervor und hielt der Dame einen Ring unter die Nase. „Stellen Sie sich vor, er hing an dem Haken, wo vorher der Schlüssel hing.“
Die Dame betrachtete den schimmernden blauen Stein. „Das ist ein Saphir“, sagte sie. „Er gilt als Stein der Ruhe und des Friedens. Das bezieht sich bestimmt auf das weitere Schicksal des Geistes, und du hast ihm zum guten Teil dazu verholfen. Du hast ihn dir redlich verdient.“
Diverse mentale Bilder leuchteten im Geist des Zöfchens auf, und es lächelte versonnen.
Dann öffnete die Dame einen eingeschriebenen Brief mit amtlichem Siegel, der am Morgen gekommen war, und den ihr der Briefträger nur gegen Unterschrift und Überprüfung des Ausweises ausgehändigt hatte.
Neugierig sah das Zöfchen der Dame beim Lesen, oder wie es eher den Anschein hatte, beim Studieren des Schriftstückes zu.
Erst nach geraumer Zeit, als das Zöfchen bereits mit erheblicher Frequenz auf dem Stuhl hin- und herrutschte, hob die Dame den Kopf.
„Jeanette“, sagte sie, „pack die Koffer, wir fahren nach Schweden! Und jetzt mach den Mund zu und die Ohren auf!“
„Dieser Brief“, fuhr die Dame fort, „stammt von einem Notar, der, wie er schreibt, im Namen eines schwedischen Kollegen handelt. Demnach habe ich ein Stück Land im Norden Schwedens geerbt – in der Gegend von Kiruna. Man habe lange gebraucht, mich ausfindig zu machen, aber schließlich sei es gelungem die Familie der Erblasserin – eine ledige Baronin Oxenbröst - zu dem Sohn eines schwedischen Landsknechts aus dem 30-jährigen Krieg zuückzuverfolgen und von da ausgehend existiere ein Zweig meiner Familie, deren letzte erbberechtigte Nachkommin ich sei. Der Notar fragt an, ob ich bereit sei, das Erbe anzutreten und für die Kosten der Nachforschungen aufzukpmmen.
Und dann fügt er hinzu, dass auf dem Stück Land seltene Erden gefunden worden seien und ob ich - gegen entsprechende Pacht selbstverständlich – die Lizenz zum Abbau vergeben würde. Aber das will ich persönlich in die Hand nehmen.“
So kam es, dass sich das Zöfchen mit nie dagewesenem Eifer ans Kofferpacken machte, das Käfer-Cabrio seine Leistung endlich voll zum Tragen bringen konnte, und der Geist – aber das sahen sie nicht – ihnen vom Turmstübchen des Schlösschens aus nachwinkte.

Ende
 
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