Der Schmunzelbaum

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stwin

Mitglied
Als es klingelte, war Anne wie immer als Erste an der Tür. Davor stand Opa, einen großen Jutesack in den Händen, aus dem oben ein kleines Bäumchen ragte. „Was ist das denn?“, fragte Anne.
„Na, wonach sieht’s denn aus? Das ist ein Baum, den ich heute Nachmittag mit dir im Garten einpflanzen möchte. Hast du Lust?“
„Au ja! Wo hast du den denn bekommen?“
„Das bleibt mein Geheimnis. Es ist ein ganz besonderer Baum. Aber jetzt lass ihn mich erst mal auf der Terrasse abstellen, sonst fallen mir noch die Arme ab.“

Anne liebte es, mit ihrem Opa im Garten zu arbeiten. Er hatte früher selbst eine kleine Gärtnerei. Aber irgendwann machte ihm sein Rücken immer mehr zu schaffen. Seine Hände wurden zittrig und konnten die kleinen Stecklinge nicht mehr richtig greifen. Als Oma starb, gab er die Gärtnerei schließlich auf, denn alleine konnte er die Arbeit nicht mehr bewältigen. So zog er zu Anne und ihren Eltern in das Haus am Waldrand. Seitdem half ihm Anne bei der Arbeit im Garten. Gemeinsam säten sie in einer Ecke Blumen, damit die Schmetterlinge und Bienen Nektar finden konnten. Einen kleinen Teil der Wiese gruben sie um und machten daraus ein Gemüsebeet. Inzwischen war Anne ein Meister darin, Salat zu säen, Unkraut zu jäten und Radieschen zu ernten.

Nach dem Mittagessen gingen sie gemeinsam nach draußen. „Übernimm dich nicht“, sagte Annes Mama zu Opa. „Ja, ja“, grummelte er. So wie immer, wenn er nicht hören wollte, dass er alt wurde. „Anne, hol schon mal den Spaten. Wir werden ein großes Loch graben müssen, damit die Baumwurzeln schön tief anwachsen können.“ Als Anne mit dem Spaten zurückkam, hatte Opa gerade den Baum in die Mitte der Wiese getragen. Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn. In letzter Zeit kam er immer schneller außer Atem. Annes Mutter sah ihn an. „Bist du sicher, dass du nicht auf Patrick warten willst?“ „Dein Mann kann immer noch helfen, falls wir nicht fertig sind, bis er aus der Arbeit kommt.“ „Ich helfe doch auch mit!“, rief Anne dazwischen. Also gruben sie gemeinsam. Zuerst hoben sie die Wiese von der Erde ab, damit sie später den Boden rund um den Baum wieder schützen sollte. Dann hob Annes Opa Schaufel um Schaufel die schwarze Erde aus dem Loch. Immer, wenn er nicht mehr konnte, übernahm Anne. Mit ihren elf Jahren war sie schon ziemlich geübt darin, wie man richtig mit einem Spaten gräbt. Gemeinsam kamen sie langsam, aber stetig voran. „Das ist jetzt tief genug“, meinte Opa. „Öffne mal den Knoten da am Jutesack, damit ich den Baum herausholen kann.“ Mit geschickten Fingern löste Anne die Schleife und Opa hob das Bäumchen in das frisch gegrabene Loch. Das hatte ihn ziemlich angestrengt, sodass Anne die lockere Erde zurück in die Grube schob und festdrückte. „Sehr gut“, brummelte Opa und schüttelte den Baum. Sein schmaler Stamm gab zwar nach, aber er steckte stabil im Boden. „Der fliegt uns so schnell nicht weg, Anne. Jetzt legen wir das Gras wieder außen herum, damit die Sonne den Boden nicht austrocknet. Danach hol mir bitte eine Gießkanne mit Wasser. Du musst den Baum angießen, damit die Wurzeln gut wachsen können.“
Als die Wiese wieder an ihrem Platz und der Baum gegossen war, fragte Anne: „Was ist das eigentlich für ein Baum? So einen habe ich noch nie gesehen.“ „Das ist ein Schmunzelbaum.“ „Was? Das habe ich noch nie gehört.“ „Natürlich nicht. Außer diesem wirst du vielleicht niemals einen sehen, weil sie so selten sind. Wichtig ist aber auch nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ „Das verstehe ich nicht“ „Jetzt noch nicht, Anne. Hab Geduld. Eines Tages wirst du es verstehen.“

In den folgenden Wochen besuchte Anne ‚ihren‘ Baum jeden Tag. Sie sorgte dafür, dass der Bereich um den Stamm herum immer genug Wasser abbekam, damit der Baum anwachsen konnte. Gleichzeitig sah sie, wie die Blätter jeden Tag ein Stückchen mehr wuchsen. „Opa, schau mal!“, rief sie. „Da sind schon wieder neue Blätter!“ Opa kam langsam über die Wiese auf sie zu. In den vergangenen Tagen hatte ihm sein Husten schwer zu schaffen gemacht und die Hüftschmerzen waren wieder schlimmer geworden. „Du kümmerst dich sehr gut um den Baum“, sagte er, noch ziemlich außer Atem. „Noch ein paar Tage und er ist kräftig genug, um alleine weiter zu wachsen. Dann musst du ihn nicht mehr gießen, weil die Wurzeln genug Wasser aus dem Boden ziehen können.“

Den ganzen Sommer über beobachtete Anne, wie der Baum wuchs und gedieh. Sie musste schmunzeln, wenn sie kleine Raupen entdeckte, die ihre Raupentänze aufführten, während sie den Stamm erklommen. Bald schon waren die Äste länger als Annes Arme. Sie betrachtete die kleinen Furchen und Rillen in der Baumrinde und stellte sich lächelnd vor, wie wohl Blattläuse mit kleinen Blattlaus-Rucksäcken eine Bergwanderung über diese Hügel und Täler machen würden.

Im Herbst wurde es kalt und grau. Anne sah vom Wohnzimmerfenster aus, wie die Blätter des Baumes erst rot und braun wurden, bevor sie anfingen zu Boden zu segeln. Sie half Opa, das Laub in eine Ecke des Gartens zu bringen, damit Igel darin überwintern könnten. Opa alleine konnte diese Arbeit nicht mehr erledigen. Seine Hüfte ließ kaum noch zu, dass er mehr als ein paar Meter ging und immer wieder schüttelte ihn ein rasselnder Husten. Egal, was Annes Mutter kochte, richtig Appetit hatte er nie.

In einer Nacht fegte ein furchtbarer Sturm über das Haus. Ein lauter Donnerschlag weckte Anne auf. Als sie aus ihrem Fenster sah, zuckte ein Blitz quer über den Himmel und erleuchtete den Garten taghell. Schon krachte der nächste Donner. Sie sah, dass der Baum auch die letzten Blätter verloren hatte. Der Wind peitschte sie durch die Luft. Sie wollte sich zu Opa ins Zimmer zu schleichen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Doch ihre Eltern standen vor seinem Bett. Ihre Mama schluchzte. „Opa ist gestorben. Er ist eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.“ Anne schossen Tränen in die Augen. Das durfte doch nicht sein! Sie hatte ihm noch so viel zu erzählen!

Ab diesem Zeitpunkt war Annes Welt grau. Der Herbst ging in den Winter über und auch in Anne fühlte sich alles eiskalt an. Opa fehlte ihr. Immer. Wenn sie aus dem Fenster auf den Baum sah, fühlte sie einen Stich in ihrem Herz. Oft stellte ihre Mama aus Gewohnheit einen Teller für Opa auf den Tisch. Wenn sie es bemerkte, setzte sie sich einfach auf Opas Stuhl und weinte. Am Nikolausabend saßen Anne und ihre Eltern im Wohnzimmer. Sie wussten, dass der Nikolaus in diesem Jahr nicht kommen würde. Dass sie Fotos von früher ansahen, füllte die Leere nicht. An Weihnachten besuchten sie gemeinsam Opas Grab. Anne hatte ihm schon im Herbst eine Schaufel mit einem extra großen Griff gekauft, damit seine zittrigen Finger im Frühjahr sie gut greifen könnten. Jetzt blieb ihr nichts mehr, außer die Schaufel in die gefrorene Erde auf dem Grab zu stecken. „Du fehlst mir so sehr, Opa“, flüsterte sie. „Ich weiß nicht, ob das jemals wieder besser wird!“

Mit der Zeit veränderte sich der Schmerz. Er überraschte Anne nicht mehr stechend wie eine Nadel, sondern schlummerte meistens in ihrer Magengrube. Manchmal klopfte er dumpf an und erinnerte sie daran, dass Opa nicht mehr da war. Hin und wieder überfiel das Gefühl sie wie eine plötzliche Windböe, wenn sie an Opas Zimmer vorbeiging oder ihr Blick auf den Schuppen mit den Gartengeräten fiel.

Doch eines Tages sah Anne etwas. Im Garten lag noch Schnee. Er war schon ganz grau, weil es seit Tagen leicht taute. Die alten Grashalme aus dem letzten Jahr kamen langsam zum Vorschein. Doch der Baum in der Mitte des Gartens hatte über Nacht tausende grüner Punkte bekommen. Anne zog schnell ihre Stiefel und die dicke Jacke an, um sich das näher anzusehen. Am Baum angekommen, entdeckte sie, dass die Äste über und über bedeckt waren mit winzigen Blättchen. Eingerollt wie Eichhörnchen trotzten sie der Kälte. Anne musste schmunzeln, zum ersten Mal seit langer Zeit. Endlich etwas Grün in all dem Grau!

Ab diesem Tag besuchte sie ihren Baum wieder regelmäßig. Die kleinen Blättchen rollten sich nach und nach aus und reckten sich in die Höhe, um Sonne zu tanken. Nach einigen Wochen zeigten sich zwischen den Blättern kleine, hellgrüne Kugeln. Langsam wurde es wärmer und Vögel sangen auf den Ästen des Baumes aus Leibeskräften den Frühling herbei. Wann immer man sie durchs Fenster in der Küche hörte, schmunzelte Annes Mama. Die kleinen Kugeln an den Ästen entwickelten sich zu Knospen, die nach und nach an Größe gewannen. Eines Morgens, als Anne gerade mit ihrer Mama das Geschirr vom Frühstück aufräumte, sahen sie es: Winzige, gelbe Blüten strahlten wie Sonnen an den Zweigen. Anne stürmte zu ihrem Baum. Die Blüten dufteten wie Honig und Zimt. Bienen summten. Sie bemühten sich, nur ja keinen Tropfen Nektar zu übersehen. Vom Pollen der Blüten hatten sie dicke, gelbe Päckchen an ihren Hinterbeinen, die sie aussehen ließen, als hätten sie ihre Hosentaschen bis zum Rand mit Essen vollgestopft. Anne schmunzelte. „Passt auf, dass eure Pollenhosen nicht herunterrutschen!“, rief sie den Bienen auf dem Weg zurück ins Haus zu.

Nach und nach wurde der Rest des Gartens wieder grün. Es summte und zwitscherte, Schmetterlinge steckten ihre Rüssel in Blütenkelche und Regenwürmer gingen ihrer Arbeit in der Erde des Gemüsebeets nach. Trotzdem war Anne an ihrem Geburtstag nicht zum Feiern zumute. Dieser Tag zeigte ihr wieder besonders stark, wie sehr ihr Opa fehlte. Normalerweise hatten sie um diese Zeit schon die ersten Radieschen geerntet und zum Geburtstagsfrühstück verspeist. Traurig sah sie aus dem Küchenfenster und erschrak.

Die Sonne schien, doch es schneite! Dicke Flocken wirbelten vor dem Fenster über die Wiese, landeten auf den Hecken und der Fensterbank. Aber Moment mal – das waren keine richtigen Schneeflocken. Aufgeregt rief Marie ihre Eltern. „Schaut mal, was mit dem Baum im Garten passiert ist!“ Die kleinen, gelben Sonnenblüten hatten all ihren Nektar an die Bienen übergeben. Danach hatten sie sich in feste, grüne Samenpäckchen verwandelt. Nun waren sie auf einen Schlag aufgeplatzt und hatten dicke, flauschige Pusteblumen gebildet. Sobald etwas Wind über den Baum strich, machten sich Hunderte Samen auf den Weg und zauberten ein Schneegestöber, das den ganzen Garten ausfüllte. Annes Eltern staunten nicht schlecht. „Wer hätte das gedacht? Wir haben Schnee im Juni! So ein Geburtstagsgeschenk hattest du noch nie, Anne!“ Sie gingen gemeinsam in den Garten und stellten sich lachend in das Schneegestöber. Da fiel Anne wieder ein, was ihr Opa über den Schmunzelbaum gesagt hatte. „Wichtig ist nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ Endlich verstand sie ihn. Wann immer der Baum Anne oder ihre Eltern zum Schmunzeln brachte, war ihr Opa ganz nahe bei ihnen. „Das ist das schönste Geschenk von allen“, dachte sie, während sie über das ganze Gesicht grinsend durch die Schneeflocken des Schmunzelbaums tanzte.
 

hera

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo stwin, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von hera

Redakteur in diesem Forum
 

stwin

Mitglied
Als es klingelte, war Anne wie immer als Erste an der Tür. Davor stand Opa, einen großen Jutesack in den Händen, aus dem oben ein kleines Bäumchen ragte. „Was ist das denn?“, fragte Anne.
„Na, wonach sieht’s denn aus? Das ist ein Baum, den ich heute Nachmittag mit dir im Garten einpflanzen möchte. Hast du Lust?“
„Au ja! Wo hast du den denn bekommen?“
„Das bleibt mein Geheimnis. Es ist ein ganz besonderer Baum. Aber jetzt lass ihn mich erst mal auf der Terrasse abstellen, sonst fallen mir noch die Arme ab.“

Anne liebte es, mit ihrem Opa im Garten zu arbeiten. Er hatte früher selbst eine kleine Gärtnerei. Aber irgendwann machte ihm sein Rücken immer mehr zu schaffen. Seine Hände wurden zittrig und konnten die kleinen Stecklinge nicht mehr richtig greifen. Als Oma starb, gab er die Gärtnerei schließlich auf, denn alleine konnte er die Arbeit nicht mehr bewältigen. So zog er zu Anne und ihren Eltern in das Haus am Waldrand. Seitdem half ihm Anne bei der Arbeit im Garten. Gemeinsam säten sie in einer Ecke Blumen, damit die Schmetterlinge und Bienen Nektar finden konnten. Einen kleinen Teil der Wiese gruben sie um und machten daraus ein Gemüsebeet. Inzwischen war Anne ein Meister darin, Salat zu säen, Unkraut zu jäten und Radieschen zu ernten.

Nach dem Mittagessen gingen sie gemeinsam nach draußen. „Übernimm dich nicht“, sagte Annes Mama zu Opa. „Ja, ja“, grummelte er. So wie immer, wenn er nicht hören wollte, dass er alt wurde. „Anne, hol schon mal den Spaten. Wir werden ein großes Loch graben müssen, damit die Baumwurzeln schön tief anwachsen können.“ Als Anne mit dem Spaten zurückkam, hatte Opa gerade den Baum in die Mitte der Wiese getragen. Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn. In letzter Zeit kam er immer schneller außer Atem. Annes Mutter sah ihn an. „Bist du sicher, dass du nicht auf Patrick warten willst?“ „Dein Mann kann immer noch helfen, falls wir nicht fertig sind, bis er aus der Arbeit kommt.“ „Ich helfe doch auch mit!“, rief Anne dazwischen. Also gruben sie gemeinsam. Zuerst hoben sie die Wiese von der Erde ab, damit sie später den Boden rund um den Baum wieder schützen sollte. Dann hob Annes Opa Schaufel um Schaufel die schwarze Erde aus dem Loch. Immer, wenn er nicht mehr konnte, übernahm Anne. Mit ihren elf Jahren war sie schon ziemlich geübt darin, wie man richtig mit einem Spaten gräbt. Gemeinsam kamen sie langsam, aber stetig voran. „Das ist jetzt tief genug“, meinte Opa. „Öffne mal den Knoten da am Jutesack, damit ich den Baum herausholen kann.“ Mit geschickten Fingern löste Anne die Schleife und Opa hob das Bäumchen in das frisch gegrabene Loch. Das hatte ihn ziemlich angestrengt, sodass Anne die lockere Erde zurück in die Grube schob und festdrückte. „Sehr gut“, brummelte Opa und schüttelte den Baum. Sein schmaler Stamm gab zwar nach, aber er steckte stabil im Boden. „Der fliegt uns so schnell nicht weg, Anne. Jetzt legen wir das Gras wieder außen herum, damit die Sonne den Boden nicht austrocknet. Danach hol mir bitte eine Gießkanne mit Wasser. Du musst den Baum angießen, damit die Wurzeln gut wachsen können.“
Als die Wiese wieder an ihrem Platz und der Baum gegossen war, fragte Anne: „Was ist das eigentlich für ein Baum? So einen habe ich noch nie gesehen.“ „Das ist ein Schmunzelbaum.“ „Was? Das habe ich noch nie gehört.“ „Natürlich nicht. Außer diesem wirst du vielleicht niemals einen sehen, weil sie so selten sind. Wichtig ist aber auch nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ „Das verstehe ich nicht“ „Jetzt noch nicht, Anne. Hab Geduld. Eines Tages wirst du es verstehen.“

In den folgenden Wochen besuchte Anne ‚ihren‘ Baum jeden Tag. Sie sorgte dafür, dass der Bereich um den Stamm herum immer genug Wasser abbekam, damit der Baum anwachsen konnte. Gleichzeitig sah sie, wie die Blätter jeden Tag ein Stückchen mehr wuchsen. „Opa, schau mal!“, rief sie. „Da sind schon wieder neue Blätter!“ Opa kam langsam über die Wiese auf sie zu. In den vergangenen Tagen hatte ihm sein Husten schwer zu schaffen gemacht und die Hüftschmerzen waren wieder schlimmer geworden. „Du kümmerst dich sehr gut um den Baum“, sagte er, noch ziemlich außer Atem. „Noch ein paar Tage und er ist kräftig genug, um alleine weiter zu wachsen. Dann musst du ihn nicht mehr gießen, weil die Wurzeln genug Wasser aus dem Boden ziehen können.“

Den ganzen Sommer über beobachtete Anne, wie der Baum wuchs und gedieh. Sie musste schmunzeln, wenn sie kleine Raupen entdeckte, die ihre Raupentänze aufführten, während sie den Stamm erklommen. Bald schon waren die Äste länger als Annes Arme. Sie betrachtete die kleinen Furchen und Rillen in der Baumrinde und stellte sich lächelnd vor, wie wohl Blattläuse mit kleinen Blattlaus-Rucksäcken eine Bergwanderung über diese Hügel und Täler machen würden.

Im Herbst wurde es kalt und grau. Anne sah vom Wohnzimmerfenster aus, wie die Blätter des Baumes erst rot und braun wurden, bevor sie anfingen zu Boden zu segeln. Sie half Opa, das Laub in eine Ecke des Gartens zu bringen, damit Igel darin überwintern könnten. Opa alleine konnte diese Arbeit nicht mehr erledigen. Seine Hüfte ließ kaum noch zu, dass er mehr als ein paar Meter ging und immer wieder schüttelte ihn ein rasselnder Husten. Egal, was Annes Mutter kochte, richtig Appetit hatte er nie.

In einer Nacht fegte ein furchtbarer Sturm über das Haus. Ein lauter Donnerschlag weckte Anne auf. Als sie aus ihrem Fenster sah, zuckte ein Blitz quer über den Himmel und erleuchtete den Garten taghell. Schon krachte der nächste Donner. Sie sah, dass der Baum auch die letzten Blätter verloren hatte. Der Wind peitschte sie durch die Luft. Sie wollte sich zu Opa ins Zimmer zu schleichen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Doch ihre Eltern standen vor seinem Bett. Ihre Mama schluchzte. „Opa ist gestorben. Er ist eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.“ Anne schossen Tränen in die Augen. Das durfte doch nicht sein! Sie hatte ihm noch so viel zu erzählen!

Ab diesem Zeitpunkt war Annes Welt grau. Der Herbst ging in den Winter über und auch in Anne fühlte sich alles eiskalt an. Opa fehlte ihr. Immer. Wenn sie aus dem Fenster auf den Baum sah, fühlte sie einen Stich in ihrem Herz. Oft stellte ihre Mama aus Gewohnheit einen Teller für Opa auf den Tisch. Wenn sie es bemerkte, setzte sie sich einfach auf Opas Stuhl und weinte. Am Nikolausabend saßen Anne und ihre Eltern im Wohnzimmer. Sie wussten, dass der Nikolaus in diesem Jahr nicht kommen würde. Dass sie Fotos von früher ansahen, füllte die Leere nicht. An Weihnachten besuchten sie gemeinsam Opas Grab. Anne hatte ihm schon im Herbst eine Schaufel mit einem extra großen Griff gekauft, damit seine zittrigen Finger im Frühjahr sie gut greifen könnten. Jetzt blieb ihr nichts mehr, außer die Schaufel in die gefrorene Erde auf dem Grab zu stecken. „Du fehlst mir so sehr, Opa“, flüsterte sie. „Ich weiß nicht, ob das jemals wieder besser wird!“

Mit der Zeit veränderte sich der Schmerz. Er überraschte Anne nicht mehr stechend wie eine Nadel, sondern schlummerte meistens in ihrer Magengrube. Manchmal klopfte er dumpf an und erinnerte sie daran, dass Opa nicht mehr da war. Hin und wieder überfiel das Gefühl sie wie eine plötzliche Windböe, wenn sie an Opas Zimmer vorbeiging oder ihr Blick auf den Schuppen mit den Gartengeräten fiel.

Doch eines Tages sah Anne etwas. Im Garten lag noch Schnee. Er war schon ganz grau, weil es seit Tagen leicht taute. Die alten Grashalme aus dem letzten Jahr kamen langsam zum Vorschein. Doch der Baum in der Mitte des Gartens hatte über Nacht tausende grüner Punkte bekommen. Anne zog schnell ihre Stiefel und die dicke Jacke an, um sich das näher anzusehen. Am Baum angekommen, entdeckte sie, dass die Äste über und über bedeckt waren mit winzigen Blättchen. Eingerollt wie Eichhörnchen trotzten sie der Kälte. Anne musste schmunzeln, zum ersten Mal seit langer Zeit. Endlich etwas Grün in all dem Grau!

Ab diesem Tag besuchte sie ihren Baum wieder regelmäßig. Die kleinen Blättchen rollten sich nach und nach aus und reckten sich in die Höhe, um Sonne zu tanken. Nach einigen Wochen zeigten sich zwischen den Blättern kleine, hellgrüne Kugeln. Langsam wurde es wärmer und Vögel sangen auf den Ästen des Baumes aus Leibeskräften den Frühling herbei. Wann immer man sie durchs Fenster in der Küche hörte, schmunzelte Annes Mama. Die kleinen Kugeln an den Ästen entwickelten sich zu Knospen, die nach und nach an Größe gewannen. Eines Morgens, als Anne gerade mit ihrer Mama das Geschirr vom Frühstück aufräumte, sahen sie es: Winzige, gelbe Blüten strahlten wie Sonnen an den Zweigen. Anne stürmte zu ihrem Baum. Die Blüten dufteten wie Honig und Zimt. Bienen summten. Sie bemühten sich, nur ja keinen Tropfen Nektar zu übersehen. Vom Pollen der Blüten hatten sie dicke, gelbe Päckchen an ihren Hinterbeinen, die sie aussehen ließen, als hätten sie ihre Hosentaschen bis zum Rand mit Essen vollgestopft. Anne schmunzelte. „Passt auf, dass eure Pollenhosen nicht herunterrutschen!“, rief sie den Bienen auf dem Weg zurück ins Haus zu.

Nach und nach wurde der Rest des Gartens wieder grün. Es summte und zwitscherte, Schmetterlinge steckten ihre Rüssel in Blütenkelche und Regenwürmer gingen ihrer Arbeit in der Erde des Gemüsebeets nach. Trotzdem war Anne an ihrem Geburtstag nicht zum Feiern zumute. Dieser Tag zeigte ihr wieder besonders stark, wie sehr ihr Opa fehlte. Normalerweise hatten sie um diese Zeit schon die ersten Radieschen geerntet und zum Geburtstagsfrühstück verspeist. Traurig sah sie aus dem Küchenfenster und erschrak.

Die Sonne schien, doch es schneite! Dicke Flocken wirbelten vor dem Fenster über die Wiese, landeten auf den Hecken und der Fensterbank. Aber Moment mal – das waren keine richtigen Schneeflocken. Aufgeregt rief Anne ihre Eltern. „Schaut mal, was mit dem Baum im Garten passiert ist!“ Die kleinen, gelben Sonnenblüten hatten all ihren Nektar an die Bienen übergeben. Danach hatten sie sich in feste, grüne Samenpäckchen verwandelt. Nun waren sie auf einen Schlag aufgeplatzt und hatten dicke, flauschige Pusteblumen gebildet. Sobald etwas Wind über den Baum strich, machten sich Hunderte Samen auf den Weg und zauberten ein Schneegestöber, das den ganzen Garten ausfüllte. Annes Eltern staunten nicht schlecht. „Wer hätte das gedacht? Wir haben Schnee im Juni! So ein Geburtstagsgeschenk hattest du noch nie, Anne!“ Sie gingen gemeinsam in den Garten und stellten sich lachend in das Schneegestöber. Da fiel Anne wieder ein, was ihr Opa über den Schmunzelbaum gesagt hatte. „Wichtig ist nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ Endlich verstand sie ihn. Wann immer der Baum Anne oder ihre Eltern zum Schmunzeln brachte, war ihr Opa ganz nahe bei ihnen. „Das ist das schönste Geschenk von allen“, dachte sie, während sie über das ganze Gesicht grinsend durch die Schneeflocken des Schmunzelbaums tanzte.
 

molly

Mitglied
Hallo stwin,

Das ist eine Geschichte für ältere Kinder, die zu vielen Gedanken und Gesprächen anregt, über Freude, Schmerzen, Tod und Trost.

Deine Geschichte vom Schmuzelbaum gefällt mir sehr gut.
Zuerst schilderst Du die große Verbundenheit von Opa und Anne. Er hat ihr im Garten viel gezeigt und Anne hilft ihm bei der Gartenarbeit, auch weil er Schmerzen hat. Sie pflanzen zusammen den Schmunzelbaum.

In einer Herbstnacht stirbt der Opa, man spürt, wie sehr Anne ihn vermisst.

Doch als der Frühling die Blüten des Baumes wie Schneeflocken tanzen lässt, versteht Anne den Satz des Opas:

„Wichtig ist nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“

So wird der Baum, den sie mit Opa gepflanzt hat, zum Trost.

Gern gelesen und viele Grüße

molly
 

stwin

Mitglied
Als es klingelte, war Anne wie immer als Erste an der Tür. Davor stand Opa, einen großen Jutesack in den Händen, aus dem oben ein kleines Bäumchen ragte. „Was ist das denn?“, fragte Anne.
„Na, wonach sieht’s denn aus? Das ist ein Baum, den ich heute Nachmittag mit dir im Garten einpflanzen möchte. Hast du Lust?“
„Au ja! Wo hast du den denn bekommen?“
„Das bleibt mein Geheimnis. Es ist ein ganz besonderer Baum. Aber jetzt lass ihn mich erst mal auf der Terrasse abstellen, sonst fallen mir noch die Arme ab.“

Anne liebte es, mit ihrem Opa im Garten zu arbeiten. Er hatte früher selbst eine kleine Gärtnerei. Aber irgendwann machte ihm sein Rücken immer mehr zu schaffen. Seine Hände wurden zittrig und konnten die kleinen Stecklinge nicht mehr richtig greifen. Als Oma starb, gab er die Gärtnerei schließlich auf, denn alleine konnte er die Arbeit nicht mehr bewältigen. So zog er zu Anne und ihren Eltern in das Haus am Waldrand. Seitdem half ihm Anne bei der Arbeit im Garten. Gemeinsam säten sie in einer Ecke Blumen, damit die Schmetterlinge und Bienen Nektar finden konnten. Einen kleinen Teil der Wiese gruben sie um und machten daraus ein Gemüsebeet. Inzwischen war Anne ein Meister darin, Salat zu säen, Unkraut zu jäten und Radieschen zu ernten.

Nach dem Mittagessen gingen sie gemeinsam nach draußen. „Übernimm dich nicht“, sagte Annes Mama zu Opa. „Ja, ja“, grummelte er. So wie immer, wenn er nicht hören wollte, dass er alt wurde. „Anne, hol schon mal den Spaten. Wir werden ein großes Loch graben müssen, damit die Baumwurzeln schön tief anwachsen können.“ Als Anne mit dem Spaten zurückkam, hatte Opa gerade den Baum in die Mitte der Wiese getragen. Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn. In letzter Zeit kam er immer schneller außer Atem. Annes Mutter sah ihn an. „Bist du sicher, dass du nicht auf Patrick warten willst?“ „Dein Mann kann immer noch helfen, falls wir nicht fertig sind, bis er aus der Arbeit kommt.“ „Ich helfe doch auch mit!“, rief Anne dazwischen. Also gruben sie gemeinsam. Zuerst hoben sie die Wiese von der Erde ab, damit sie später den Boden rund um den Baum wieder schützen sollte. Dann hob Annes Opa Schaufel um Schaufel die schwarze Erde aus dem Loch. Immer, wenn er nicht mehr konnte, übernahm Anne. Mit ihren elf Jahren war sie schon ziemlich geübt darin, wie man richtig mit einem Spaten gräbt. Gemeinsam kamen sie langsam, aber stetig voran. „Das ist jetzt tief genug“, meinte Opa. „Öffne mal den Knoten da am Jutesack, damit ich den Baum herausholen kann.“ Mit geschickten Fingern löste Anne die Schleife und Opa hob das Bäumchen in das frisch gegrabene Loch. Das hatte ihn ziemlich angestrengt, sodass Anne die lockere Erde zurück in die Grube schob und festdrückte. „Sehr gut“, brummelte Opa und schüttelte den Baum. Sein schmaler Stamm gab zwar nach, aber er steckte stabil im Boden. „Der fliegt uns so schnell nicht weg, Anne. Jetzt legen wir das Gras wieder außen herum, damit die Sonne den Boden nicht austrocknet. Danach hol mir bitte eine Gießkanne mit Wasser. Du musst den Baum angießen, damit die Wurzeln gut wachsen können.“
Als die Wiese wieder an ihrem Platz und der Baum gegossen war, fragte Anne: „Was ist das eigentlich für ein Baum? So einen habe ich noch nie gesehen.“ „Das ist ein Schmunzelbaum.“ „Was? Das habe ich noch nie gehört.“ „Natürlich nicht. Außer diesem wirst du vielleicht niemals einen sehen, weil sie so selten sind. Wichtig ist aber auch nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ „Das verstehe ich nicht“ „Jetzt noch nicht, Anne. Hab Geduld. Eines Tages wirst du es verstehen.“

In den folgenden Wochen besuchte Anne ‚ihren‘ Baum jeden Tag. Sie sorgte dafür, dass der Bereich um den Stamm herum immer genug Wasser abbekam, damit der Baum anwachsen konnte. Gleichzeitig sah sie, wie die Blätter jeden Tag ein Stückchen mehr wuchsen. „Opa, schau mal!“, rief sie. „Da sind schon wieder neue Blätter!“ Opa kam langsam über die Wiese auf sie zu. In den vergangenen Tagen hatte ihm sein Husten schwer zu schaffen gemacht und die Hüftschmerzen waren wieder schlimmer geworden. „Du kümmerst dich sehr gut um den Baum“, sagte er, noch ziemlich außer Atem. „Noch ein paar Tage und er ist kräftig genug, um alleine weiter zu wachsen. Dann musst du ihn nicht mehr gießen, weil die Wurzeln genug Wasser aus dem Boden ziehen können.“

Den ganzen Sommer über beobachtete Anne, wie der Baum wuchs und gedieh. Sie musste schmunzeln, wenn sie kleine Raupen entdeckte, die ihre Raupentänze aufführten, während sie den Stamm erklommen. Bald schon waren die Äste länger als Annes Arme. Sie betrachtete die kleinen Furchen und Rillen in der Baumrinde und stellte sich lächelnd vor, wie wohl Blattläuse mit kleinen Blattlaus-Rucksäcken eine Bergwanderung über diese Hügel und Täler machen würden.

Im Herbst wurde es kalt und grau. Anne sah vom Wohnzimmerfenster aus, wie die Blätter des Baumes erst rot und braun wurden, bevor sie anfingen zu Boden zu segeln. Sie half Opa, das Laub in eine Ecke des Gartens zu bringen, damit Igel darin überwintern könnten. Opa alleine konnte diese Arbeit nicht mehr erledigen. Seine Hüfte ließ kaum noch zu, dass er mehr als ein paar Meter ging und immer wieder schüttelte ihn ein rasselnder Husten. Egal, was Annes Mutter kochte, richtig Appetit hatte er nie.

In einer Nacht fegte ein furchtbarer Sturm über das Haus. Ein lauter Donnerschlag weckte Anne auf. Als sie aus ihrem Fenster sah, zuckte ein Blitz quer über den Himmel und erleuchtete den Garten taghell. Schon krachte der nächste Donner. Sie sah, dass der Baum auch die letzten Blätter verloren hatte. Der Wind peitschte sie durch die Luft. Sie wollte sich zu Opa ins Zimmer zu schleichen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Doch ihre Eltern standen vor seinem Bett. Ihre Mama schluchzte. „Opa ist gestorben. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen.“ Anne schossen Tränen in die Augen. Das durfte doch nicht sein! Sie hatte ihm noch so viel zu erzählen!

Ab diesem Zeitpunkt war Annes Welt grau. Der Herbst ging in den Winter über und auch in Anne fühlte sich alles eiskalt an. Opa fehlte ihr. Immer. Wenn sie aus dem Fenster auf den Baum sah, fühlte sie einen Stich in ihrem Herz. Oft stellte ihre Mama aus Gewohnheit einen Teller für Opa auf den Tisch. Wenn sie es bemerkte, setzte sie sich einfach auf Opas Stuhl und weinte. Am Nikolausabend saßen Anne und ihre Eltern im Wohnzimmer. Sie wussten, dass der Nikolaus in diesem Jahr nicht kommen würde. Dass sie Fotos von früher ansahen, füllte die Leere nicht. An Weihnachten besuchten sie gemeinsam Opas Grab. Anne hatte ihm schon im Herbst eine Schaufel mit einem extra großen Griff gekauft, damit seine zittrigen Finger im Frühjahr sie gut greifen könnten. Jetzt blieb ihr nichts mehr, außer die Schaufel in die gefrorene Erde auf dem Grab zu stecken. „Du fehlst mir so sehr, Opa“, flüsterte sie. „Ich weiß nicht, ob das jemals wieder besser wird!“

Mit der Zeit veränderte sich der Schmerz. Er überraschte Anne nicht mehr stechend wie eine Nadel, sondern schlummerte meistens in ihrer Magengrube. Manchmal klopfte er dumpf an und erinnerte sie daran, dass Opa nicht mehr da war. Hin und wieder überfiel das Gefühl sie wie eine plötzliche Windböe, wenn sie an Opas Zimmer vorbeiging oder ihr Blick auf den Schuppen mit den Gartengeräten fiel.

Doch eines Tages sah Anne etwas. Im Garten lag noch Schnee. Er war schon ganz grau, weil es seit Tagen leicht taute. Die alten Grashalme aus dem letzten Jahr kamen langsam zum Vorschein. Doch der Baum in der Mitte des Gartens hatte über Nacht tausende grüner Punkte bekommen. Anne zog schnell ihre Stiefel und die dicke Jacke an, um sich das näher anzusehen. Am Baum angekommen, entdeckte sie, dass die Äste über und über bedeckt waren mit winzigen Blättchen. Eingerollt wie Eichhörnchen trotzten sie der Kälte. Anne musste schmunzeln, zum ersten Mal seit langer Zeit. Endlich etwas Grün in all dem Grau!

Ab diesem Tag besuchte sie ihren Baum wieder regelmäßig. Die kleinen Blättchen rollten sich nach und nach aus und reckten sich in die Höhe, um Sonne zu tanken. Nach einigen Wochen zeigten sich zwischen den Blättern kleine, hellgrüne Kugeln. Langsam wurde es wärmer und Vögel sangen auf den Ästen des Baumes aus Leibeskräften den Frühling herbei. Wann immer man sie durchs Fenster in der Küche hörte, schmunzelte Annes Mama. Die kleinen Kugeln an den Ästen entwickelten sich zu Knospen, die nach und nach an Größe gewannen. Eines Morgens, als Anne gerade mit ihrer Mama das Geschirr vom Frühstück aufräumte, sahen sie es: Winzige, gelbe Blüten strahlten wie Sonnen an den Zweigen. Anne stürmte zu ihrem Baum. Die Blüten dufteten wie Honig und Zimt. Bienen summten. Sie bemühten sich, nur ja keinen Tropfen Nektar zu übersehen. Vom Pollen der Blüten hatten sie dicke, gelbe Päckchen an ihren Hinterbeinen, die sie aussehen ließen, als hätten sie ihre Hosentaschen bis zum Rand mit Essen vollgestopft. Anne schmunzelte. „Passt auf, dass eure Pollenhosen nicht herunterrutschen!“, rief sie den Bienen auf dem Weg zurück ins Haus zu.

Nach und nach wurde der Rest des Gartens wieder grün. Es summte und zwitscherte, Schmetterlinge steckten ihre Rüssel in Blütenkelche und Regenwürmer gingen ihrer Arbeit in der Erde des Gemüsebeets nach. Trotzdem war Anne an ihrem Geburtstag nicht zum Feiern zumute. Dieser Tag zeigte ihr wieder besonders stark, wie sehr ihr Opa fehlte. Normalerweise hatten sie um diese Zeit schon die ersten Radieschen geerntet und zum Geburtstagsfrühstück verspeist. Traurig sah sie aus dem Küchenfenster und erschrak.

Die Sonne schien, doch es schneite! Dicke Flocken wirbelten vor dem Fenster über die Wiese, landeten auf den Hecken und der Fensterbank. Aber Moment mal – das waren keine richtigen Schneeflocken. Aufgeregt rief Anne ihre Eltern. „Schaut mal, was mit dem Baum im Garten passiert ist!“ Die kleinen, gelben Sonnenblüten hatten all ihren Nektar an die Bienen übergeben. Danach hatten sie sich in feste, grüne Samenpäckchen verwandelt. Nun waren sie auf einen Schlag aufgeplatzt und hatten dicke, flauschige Pusteblumen gebildet. Sobald etwas Wind über den Baum strich, machten sich Hunderte Samen auf den Weg und zauberten ein Schneegestöber, das den ganzen Garten ausfüllte. Annes Eltern staunten nicht schlecht. „Wer hätte das gedacht? Wir haben Schnee im Juni! So ein Geburtstagsgeschenk hattest du noch nie, Anne!“ Sie gingen gemeinsam in den Garten und stellten sich lachend in das Schneegestöber. Da fiel Anne wieder ein, was ihr Opa über den Schmunzelbaum gesagt hatte. „Wichtig ist nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ Endlich verstand sie ihn. Wann immer der Baum Anne oder ihre Eltern zum Schmunzeln brachte, war ihr Opa ganz nahe bei ihnen. „Das ist das schönste Geschenk von allen“, dachte sie, während sie über das ganze Gesicht grinsend durch die Schneeflocken des Schmunzelbaums tanzte.
 

stwin

Mitglied
Als es klingelte, war Anne wie immer als Erste an der Tür. Davor stand Opa, einen großen Jutesack in den Händen, aus dem oben ein kleines Bäumchen ragte. „Was ist das denn?“, fragte Anne.
„Na, wonach sieht’s denn aus? Das ist ein Baum, den ich heute Nachmittag mit dir im Garten einpflanzen möchte. Hast du Lust?“
„Au ja! Wo hast du den denn bekommen?“
„Das bleibt mein Geheimnis. Es ist ein ganz besonderer Baum. Aber jetzt lass ihn mich erst mal auf der Terrasse abstellen, sonst fallen mir noch die Arme ab.“

Anne liebte es, mit ihrem Opa im Garten zu arbeiten. Er hatte früher selbst eine kleine Gärtnerei. Aber irgendwann machte ihm sein Rücken immer mehr zu schaffen. Seine Hände wurden zittrig und konnten die kleinen Stecklinge nicht mehr richtig greifen. Als Oma starb, gab er die Gärtnerei schließlich auf, denn alleine konnte er die Arbeit nicht mehr bewältigen. So zog er zu Anne und ihren Eltern in das Haus am Waldrand. Seitdem half ihm Anne bei der Arbeit im Garten. Gemeinsam säten sie in einer Ecke Blumen, damit die Schmetterlinge und Bienen Nektar finden konnten. Einen kleinen Teil der Wiese gruben sie um und machten daraus ein Gemüsebeet. Inzwischen war Anne ein Meister darin, Salat zu säen, Unkraut zu jäten und Radieschen zu ernten.

Nach dem Mittagessen gingen sie gemeinsam nach draußen. „Übernimm dich nicht“, sagte Annes Mama zu Opa. „Ja, ja“, grummelte er. So wie immer, wenn er nicht hören wollte, dass er alt wurde. „Anne, hol schon mal den Spaten. Wir werden ein großes Loch graben müssen, damit die Baumwurzeln schön tief anwachsen können.“ Als Anne mit dem Spaten zurückkam, hatte Opa gerade den Baum in die Mitte der Wiese getragen. Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn. In letzter Zeit kam er immer schneller außer Atem. Annes Mutter sah ihn an. „Bist du sicher, dass du nicht auf Patrick warten willst?“ „Dein Mann kann immer noch helfen, falls wir nicht fertig sind, bis er aus der Arbeit kommt.“ „Ich helfe doch auch mit!“, rief Anne dazwischen. Also gruben sie gemeinsam. Zuerst hoben sie die Wiese von der Erde ab, damit sie später den Boden rund um den Baum wieder schützen sollte. Dann hob Annes Opa Schaufel um Schaufel die schwarze Erde aus dem Loch. Immer, wenn er nicht mehr konnte, übernahm Anne. Mit ihren elf Jahren war sie schon ziemlich geübt darin, wie man richtig mit einem Spaten gräbt. Gemeinsam kamen sie langsam, aber stetig voran. „Das ist jetzt tief genug“, meinte Opa. „Öffne mal den Knoten da am Jutesack, damit ich den Baum herausholen kann.“ Mit geschickten Fingern löste Anne die Schleife und Opa hob das Bäumchen in das frisch gegrabene Loch. Das hatte ihn ziemlich angestrengt, sodass Anne die lockere Erde zurück in die Grube schob und festdrückte. „Sehr gut“, brummelte Opa und schüttelte den Baum. Sein schmaler Stamm gab zwar nach, aber er steckte stabil im Boden. „Der fliegt uns so schnell nicht weg, Anne. Jetzt legen wir das Gras wieder außen herum, damit die Sonne den Boden nicht austrocknet. Danach hol mir bitte eine Gießkanne mit Wasser. Du musst den Baum angießen, damit die Wurzeln gut wachsen können.“
Als die Wiese wieder an ihrem Platz und der Baum gegossen war, fragte Anne: „Was ist das eigentlich für ein Baum? So einen habe ich noch nie gesehen.“ „Das ist ein Schmunzelbaum.“ „Was? Das habe ich noch nie gehört.“ „Natürlich nicht. Außer diesem wirst du vielleicht niemals einen sehen, weil sie so selten sind. Wichtig ist aber auch nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ „Das verstehe ich nicht“ „Jetzt noch nicht, Anne. Hab Geduld. Eines Tages wirst du es verstehen.“

In den folgenden Wochen besuchte Anne ‚ihren‘ Baum jeden Tag. Sie sorgte dafür, dass der Bereich um den Stamm herum immer genug Wasser abbekam, damit der Baum anwachsen konnte. Gleichzeitig sah sie, wie die Blätter jeden Tag ein Stückchen mehr wuchsen. „Opa, schau mal!“, rief sie. „Da sind schon wieder neue Blätter!“ Opa kam langsam über die Wiese auf sie zu. In den vergangenen Tagen hatte ihm sein Husten schwer zu schaffen gemacht und die Hüftschmerzen waren wieder schlimmer geworden. „Du kümmerst dich sehr gut um den Baum“, sagte er, noch ziemlich außer Atem. „Noch ein paar Tage und er ist kräftig genug, um alleine weiter zu wachsen. Dann musst du ihn nicht mehr gießen, weil die Wurzeln genug Wasser aus dem Boden ziehen können.“

Den ganzen Sommer über beobachtete Anne, wie der Baum wuchs und gedieh. Sie musste schmunzeln, wenn sie kleine Raupen entdeckte, die ihre Raupentänze aufführten, während sie den Stamm erklommen. Bald schon waren die Äste länger als Annes Arme. Sie betrachtete die kleinen Furchen und Rillen in der Baumrinde und stellte sich lächelnd vor, wie wohl Blattläuse mit kleinen Blattlaus-Rucksäcken eine Bergwanderung über diese Hügel und Täler machen würden.

Im Herbst wurde es kalt und grau. Anne sah vom Wohnzimmerfenster aus, wie die Blätter des Baumes erst rot und braun wurden, bevor sie anfingen zu Boden zu segeln. Sie half Opa, das Laub in eine Ecke des Gartens zu bringen, damit Igel darin überwintern könnten. Opa alleine konnte diese Arbeit nicht mehr erledigen. Seine Hüfte ließ kaum noch zu, dass er mehr als ein paar Meter ging und immer wieder schüttelte ihn ein rasselnder Husten. Egal, was Annes Mutter kochte, richtig Appetit hatte er nie.

In einer Nacht fegte ein furchtbarer Sturm über das Haus. Ein lauter Donnerschlag weckte Anne auf. Als sie aus ihrem Fenster sah, zuckte ein Blitz quer über den Himmel und erleuchtete den Garten taghell. Schon krachte der nächste Donner. Sie sah, dass der Baum auch die letzten Blätter verloren hatte. Der Wind peitschte sie durch die Luft. Sie wollte sich zu Opa ins Zimmer zu schleichen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Doch ihre Eltern standen vor seinem Bett. Ihre Mama schluchzte. „Opa ist gestorben. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen.“ Anne schossen Tränen in die Augen. Das durfte doch nicht sein! Sie hatte ihm noch so viel zu erzählen!

Ab diesem Zeitpunkt war Annes Welt grau. Der Herbst ging in den Winter über und auch in Anne fühlte sich alles eiskalt an. Opa fehlte ihr. Immer. Wenn sie aus dem Fenster auf den Baum sah, fühlte sie einen Stich in ihrem Herz. Oft stellte ihre Mama aus Gewohnheit einen Teller für Opa auf den Tisch. Wenn sie es bemerkte, setzte sie sich einfach auf Opas Stuhl und weinte. Am Nikolausabend saßen Anne und ihre Eltern im Wohnzimmer. Sie wussten, dass der Nikolaus in diesem Jahr nicht kommen würde. Dass sie Fotos von früher ansahen, füllte die Leere nicht. An Weihnachten besuchten sie gemeinsam Opas Grab. Anne hatte ihm schon im Herbst eine Schaufel mit einem extra großen Griff gekauft, damit seine zittrigen Finger im Frühjahr sie gut greifen könnten. Jetzt blieb ihr nichts mehr, außer die Schaufel in die gefrorene Erde auf dem Grab zu stecken. „Du fehlst mir so sehr, Opa“, flüsterte sie. „Ich weiß nicht, ob das jemals wieder besser wird!“

Mit der Zeit veränderte sich der Schmerz. Er überraschte Anne nicht mehr stechend wie eine Nadel, sondern schlummerte meistens in ihrer Magengrube. Manchmal klopfte er dumpf an und erinnerte sie daran, dass Opa nicht mehr da war. Hin und wieder überfiel das Gefühl sie wie eine plötzliche Windböe, wenn sie an Opas Zimmer vorbeiging oder ihr Blick auf den Schuppen mit den Gartengeräten fiel.

Doch eines Tages sah Anne etwas. Im Garten lag noch Schnee. Er war schon ganz grau, weil es seit Tagen leicht taute. Die alten Grashalme aus dem letzten Jahr kamen langsam zum Vorschein. Doch der Baum in der Mitte des Gartens hatte über Nacht tausende grüner Punkte bekommen. Anne zog schnell ihre Stiefel und die dicke Jacke an, um sich das näher anzusehen. Am Baum angekommen, entdeckte sie, dass die Äste über und über bedeckt waren mit winzigen Blättchen. Eingerollt wie Eichhörnchen trotzten sie der Kälte. Anne musste schmunzeln, zum ersten Mal seit langer Zeit. Endlich etwas Grün in all dem Grau!

Ab diesem Tag besuchte sie ihren Baum wieder regelmäßig. Die kleinen Blättchen rollten sich nach und nach aus und reckten sich in die Höhe, um Sonne zu tanken. Nach einigen Wochen zeigten sich zwischen den Blättern kleine, hellgrüne Kugeln. Langsam wurde es wärmer und Vögel sangen auf den Ästen des Baumes aus Leibeskräften den Frühling herbei. Wann immer man sie durchs Fenster in der Küche hörte, schmunzelte Annes Mama. Die kleinen Kugeln an den Ästen entwickelten sich zu Knospen, die nach und nach an Größe gewannen. Eines Morgens, als Anne gerade mit ihrer Mama das Geschirr vom Frühstück aufräumte, sahen sie es: Winzige, gelbe Blüten strahlten wie Sonnen an den Zweigen. Anne stürmte zu ihrem Baum. Die Blüten dufteten wie Honig und Zimt. Bienen summten. Sie bemühten sich, nur ja keinen Tropfen Nektar zu übersehen. Vom Pollen der Blüten hatten sie dicke, gelbe Päckchen an ihren Hinterbeinen, die sie aussehen ließen, als hätten sie ihre Hosentaschen bis zum Rand mit Essen vollgestopft. Anne schmunzelte. „Passt auf, dass eure Pollenhosen nicht herunterrutschen!“, rief sie den Bienen auf dem Weg zurück ins Haus zu.

Nach und nach wurde der Rest des Gartens wieder grün. Es summte und zwitscherte, Schmetterlinge steckten ihre Rüssel in Blütenkelche und Regenwürmer gingen ihrer Arbeit in der Erde des Gemüsebeets nach. Trotzdem war Anne an ihrem Geburtstag nicht zum Feiern zumute. Dieser Tag zeigte ihr wieder besonders stark, wie sehr ihr Opa fehlte. Normalerweise hatten sie um diese Zeit schon die ersten Radieschen geerntet und zum Geburtstagsfrühstück verspeist. Traurig sah sie aus dem Küchenfenster und erschrak.

Die Sonne schien, doch es schneite! Dicke Flocken wirbelten vor dem Fenster über die Wiese, landeten auf den Hecken und der Fensterbank. Aber Moment mal – das waren keine richtigen Schneeflocken. Aufgeregt rief Anne ihre Eltern. „Schaut mal, was mit dem Baum im Garten passiert ist!“ Die kleinen, gelben Sonnenblüten hatten all ihren Nektar an die Bienen übergeben. Danach hatten sie sich in feste, grüne Samenpäckchen verwandelt. Nun waren sie auf einen Schlag aufgeplatzt und hatten dicke, flauschige Pusteblumen gebildet. Sobald etwas Wind über den Baum strich, machten sich Hunderte Samen auf den Weg und zauberten ein Schneegestöber, das den ganzen Garten ausfüllte. Annes Eltern staunten nicht schlecht. „Wer hätte das gedacht? Wir haben Schnee im Juni! So ein Geburtstagsgeschenk hattest du noch nie, Anne!“ Sie gingen gemeinsam in den Garten und stellten sich lachend in das Schneegestöber. Da fiel Anne wieder ein, was ihr Opa über den Schmunzelbaum gesagt hatte. „Wichtig ist nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ Endlich verstand sie ihn. Wann immer der Baum Anne oder ihre Eltern zum Schmunzeln brachte, war ihr Opa ganz nahe bei ihnen. „Das ist das schönste Geschenk von allen“, dachte sie, während sie über das ganze Gesicht grinsend durch die Schneeflocken des Schmunzelbaums tanzte.
 

stwin

Mitglied
Für Kinder ab etwa 9 Jahren

Als es klingelte, war Anne wie immer als Erste an der Tür. Davor stand Opa, einen großen Jutesack in den Händen, aus dem oben ein kleines Bäumchen ragte. „Was ist das denn?“, fragte Anne.
„Na, wonach sieht’s denn aus? Das ist ein Baum, den ich heute Nachmittag mit dir im Garten einpflanzen möchte. Hast du Lust?“
„Au ja! Wo hast du den denn bekommen?“
„Das bleibt mein Geheimnis. Es ist ein ganz besonderer Baum. Aber jetzt lass ihn mich erst mal auf der Terrasse abstellen, sonst fallen mir noch die Arme ab.“

Anne liebte es, mit ihrem Opa im Garten zu arbeiten. Er hatte früher selbst eine kleine Gärtnerei. Aber irgendwann machte ihm sein Rücken immer mehr zu schaffen. Seine Hände wurden zittrig und konnten die kleinen Stecklinge nicht mehr richtig greifen. Als Oma starb, gab er die Gärtnerei schließlich auf, denn alleine konnte er die Arbeit nicht mehr bewältigen. So zog er zu Anne und ihren Eltern in das Haus am Waldrand. Seitdem half ihm Anne bei der Arbeit im Garten. Gemeinsam säten sie in einer Ecke Blumen, damit die Schmetterlinge und Bienen Nektar finden konnten. Einen kleinen Teil der Wiese gruben sie um und machten daraus ein Gemüsebeet. Inzwischen war Anne ein Meister darin, Salat zu säen, Unkraut zu jäten und Radieschen zu ernten.

Nach dem Mittagessen gingen sie gemeinsam nach draußen. „Übernimm dich nicht“, sagte Annes Mama zu Opa. „Ja, ja“, grummelte er. So wie immer, wenn er nicht hören wollte, dass er alt wurde. „Anne, hol schon mal den Spaten. Wir werden ein großes Loch graben müssen, damit die Baumwurzeln schön tief anwachsen können.“ Als Anne mit dem Spaten zurückkam, hatte Opa gerade den Baum in die Mitte der Wiese getragen. Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn. In letzter Zeit kam er immer schneller außer Atem. Annes Mutter sah ihn an. „Bist du sicher, dass du nicht auf Patrick warten willst?“ „Dein Mann kann immer noch helfen, falls wir nicht fertig sind, bis er aus der Arbeit kommt.“ „Ich helfe doch auch mit!“, rief Anne dazwischen. Also gruben sie gemeinsam. Zuerst hoben sie die Wiese von der Erde ab, damit sie später den Boden rund um den Baum wieder schützen sollte. Dann hob Annes Opa Schaufel um Schaufel die schwarze Erde aus dem Loch. Immer, wenn er nicht mehr konnte, übernahm Anne. Mit ihren elf Jahren war sie schon ziemlich geübt darin, wie man richtig mit einem Spaten gräbt. Gemeinsam kamen sie langsam, aber stetig voran. „Das ist jetzt tief genug“, meinte Opa. „Öffne mal den Knoten da am Jutesack, damit ich den Baum herausholen kann.“ Mit geschickten Fingern löste Anne die Schleife und Opa hob das Bäumchen in das frisch gegrabene Loch. Das hatte ihn ziemlich angestrengt, sodass Anne die lockere Erde zurück in die Grube schob und festdrückte. „Sehr gut“, brummelte Opa und schüttelte den Baum. Sein schmaler Stamm gab zwar nach, aber er steckte stabil im Boden. „Der fliegt uns so schnell nicht weg, Anne. Jetzt legen wir das Gras wieder außen herum, damit die Sonne den Boden nicht austrocknet. Danach hol mir bitte eine Gießkanne mit Wasser. Du musst den Baum angießen, damit die Wurzeln gut wachsen können.“
Als die Wiese wieder an ihrem Platz und der Baum gegossen war, fragte Anne: „Was ist das eigentlich für ein Baum? So einen habe ich noch nie gesehen.“ „Das ist ein Schmunzelbaum.“ „Was? Das habe ich noch nie gehört.“ „Natürlich nicht. Außer diesem wirst du vielleicht niemals einen sehen, weil sie so selten sind. Wichtig ist aber auch nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ „Das verstehe ich nicht“ „Jetzt noch nicht, Anne. Hab Geduld. Eines Tages wirst du es verstehen.“

In den folgenden Wochen besuchte Anne ‚ihren‘ Baum jeden Tag. Sie sorgte dafür, dass der Bereich um den Stamm herum immer genug Wasser abbekam, damit der Baum anwachsen konnte. Gleichzeitig sah sie, wie die Blätter jeden Tag ein Stückchen mehr wuchsen. „Opa, schau mal!“, rief sie. „Da sind schon wieder neue Blätter!“ Opa kam langsam über die Wiese auf sie zu. In den vergangenen Tagen hatte ihm sein Husten schwer zu schaffen gemacht und die Hüftschmerzen waren wieder schlimmer geworden. „Du kümmerst dich sehr gut um den Baum“, sagte er, noch ziemlich außer Atem. „Noch ein paar Tage und er ist kräftig genug, um alleine weiter zu wachsen. Dann musst du ihn nicht mehr gießen, weil die Wurzeln genug Wasser aus dem Boden ziehen können.“

Den ganzen Sommer über beobachtete Anne, wie der Baum wuchs und gedieh. Sie musste schmunzeln, wenn sie kleine Raupen entdeckte, die ihre Raupentänze aufführten, während sie den Stamm erklommen. Bald schon waren die Äste länger als Annes Arme. Sie betrachtete die kleinen Furchen und Rillen in der Baumrinde und stellte sich lächelnd vor, wie wohl Blattläuse mit kleinen Blattlaus-Rucksäcken eine Bergwanderung über diese Hügel und Täler machen würden.

Im Herbst wurde es kalt und grau. Anne sah vom Wohnzimmerfenster aus, wie die Blätter des Baumes erst rot und braun wurden, bevor sie anfingen zu Boden zu segeln. Sie half Opa, das Laub in eine Ecke des Gartens zu bringen, damit Igel darin überwintern könnten. Opa alleine konnte diese Arbeit nicht mehr erledigen. Seine Hüfte ließ kaum noch zu, dass er mehr als ein paar Meter ging und immer wieder schüttelte ihn ein rasselnder Husten. Egal, was Annes Mutter kochte, richtig Appetit hatte er nie.

In einer Nacht fegte ein furchtbarer Sturm über das Haus. Ein lauter Donnerschlag weckte Anne auf. Als sie aus ihrem Fenster sah, zuckte ein Blitz quer über den Himmel und erleuchtete den Garten taghell. Schon krachte der nächste Donner. Sie sah, dass der Baum auch die letzten Blätter verloren hatte. Der Wind peitschte sie durch die Luft. Sie wollte sich zu Opa ins Zimmer zu schleichen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Doch ihre Eltern standen vor seinem Bett. Ihre Mama schluchzte. „Opa ist gestorben. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen.“ Anne schossen Tränen in die Augen. Das durfte doch nicht sein! Sie hatte ihm noch so viel zu erzählen!

Ab diesem Zeitpunkt war Annes Welt grau. Der Herbst ging in den Winter über und auch in Anne fühlte sich alles eiskalt an. Opa fehlte ihr. Immer. Wenn sie aus dem Fenster auf den Baum sah, fühlte sie einen Stich in ihrem Herz. Oft stellte ihre Mama aus Gewohnheit einen Teller für Opa auf den Tisch. Wenn sie es bemerkte, setzte sie sich einfach auf Opas Stuhl und weinte. Am Nikolausabend saßen Anne und ihre Eltern im Wohnzimmer. Sie wussten, dass der Nikolaus in diesem Jahr nicht kommen würde. Dass sie Fotos von früher ansahen, füllte die Leere nicht. An Weihnachten besuchten sie gemeinsam Opas Grab. Anne hatte ihm schon im Herbst eine Schaufel mit einem extra großen Griff gekauft, damit seine zittrigen Finger im Frühjahr sie gut greifen könnten. Jetzt blieb ihr nichts mehr, außer die Schaufel in die gefrorene Erde auf dem Grab zu stecken. „Du fehlst mir so sehr, Opa“, flüsterte sie. „Ich weiß nicht, ob das jemals wieder besser wird!“

Mit der Zeit veränderte sich der Schmerz. Er überraschte Anne nicht mehr stechend wie eine Nadel, sondern schlummerte meistens in ihrer Magengrube. Manchmal klopfte er dumpf an und erinnerte sie daran, dass Opa nicht mehr da war. Hin und wieder überfiel das Gefühl sie wie eine plötzliche Windböe, wenn sie an Opas Zimmer vorbeiging oder ihr Blick auf den Schuppen mit den Gartengeräten fiel.

Doch eines Tages sah Anne etwas. Im Garten lag noch Schnee. Er war schon ganz grau, weil es seit Tagen leicht taute. Die alten Grashalme aus dem letzten Jahr kamen langsam zum Vorschein. Doch der Baum in der Mitte des Gartens hatte über Nacht tausende grüner Punkte bekommen. Anne zog schnell ihre Stiefel und die dicke Jacke an, um sich das näher anzusehen. Am Baum angekommen, entdeckte sie, dass die Äste über und über bedeckt waren mit winzigen Blättchen. Eingerollt wie Eichhörnchen trotzten sie der Kälte. Anne musste schmunzeln, zum ersten Mal seit langer Zeit. Endlich etwas Grün in all dem Grau!

Ab diesem Tag besuchte sie ihren Baum wieder regelmäßig. Die kleinen Blättchen rollten sich nach und nach aus und reckten sich in die Höhe, um Sonne zu tanken. Nach einigen Wochen zeigten sich zwischen den Blättern kleine, hellgrüne Kugeln. Langsam wurde es wärmer und Vögel sangen auf den Ästen des Baumes aus Leibeskräften den Frühling herbei. Wann immer man sie durchs Fenster in der Küche hörte, schmunzelte Annes Mama. Die kleinen Kugeln an den Ästen entwickelten sich zu Knospen, die nach und nach an Größe gewannen. Eines Morgens, als Anne gerade mit ihrer Mama das Geschirr vom Frühstück aufräumte, sahen sie es: Winzige, gelbe Blüten strahlten wie Sonnen an den Zweigen. Anne stürmte zu ihrem Baum. Die Blüten dufteten wie Honig und Zimt. Bienen summten. Sie bemühten sich, nur ja keinen Tropfen Nektar zu übersehen. Vom Pollen der Blüten hatten sie dicke, gelbe Päckchen an ihren Hinterbeinen, die sie aussehen ließen, als hätten sie ihre Hosentaschen bis zum Rand mit Essen vollgestopft. Anne schmunzelte. „Passt auf, dass eure Pollenhosen nicht herunterrutschen!“, rief sie den Bienen auf dem Weg zurück ins Haus zu.

Nach und nach wurde der Rest des Gartens wieder grün. Es summte und zwitscherte, Schmetterlinge steckten ihre Rüssel in Blütenkelche und Regenwürmer gingen ihrer Arbeit in der Erde des Gemüsebeets nach. Trotzdem war Anne an ihrem Geburtstag nicht zum Feiern zumute. Dieser Tag zeigte ihr wieder besonders stark, wie sehr ihr Opa fehlte. Normalerweise hatten sie um diese Zeit schon die ersten Radieschen geerntet und zum Geburtstagsfrühstück verspeist. Traurig sah sie aus dem Küchenfenster und erschrak.

Die Sonne schien, doch es schneite! Dicke Flocken wirbelten vor dem Fenster über die Wiese, landeten auf den Hecken und der Fensterbank. Aber Moment mal – das waren keine richtigen Schneeflocken. Aufgeregt rief Anne ihre Eltern. „Schaut mal, was mit dem Baum im Garten passiert ist!“ Die kleinen, gelben Sonnenblüten hatten all ihren Nektar an die Bienen übergeben. Danach hatten sie sich in feste, grüne Samenpäckchen verwandelt. Nun waren sie auf einen Schlag aufgeplatzt und hatten dicke, flauschige Pusteblumen gebildet. Sobald etwas Wind über den Baum strich, machten sich Hunderte Samen auf den Weg und zauberten ein Schneegestöber, das den ganzen Garten ausfüllte. Annes Eltern staunten nicht schlecht. „Wer hätte das gedacht? Wir haben Schnee im Juni! So ein Geburtstagsgeschenk hattest du noch nie, Anne!“ Sie gingen gemeinsam in den Garten und stellten sich lachend in das Schneegestöber. Da fiel Anne wieder ein, was ihr Opa über den Schmunzelbaum gesagt hatte. „Wichtig ist nicht, wie er heißt. Wichtig ist, was er tut.“ Endlich verstand sie ihn. Wann immer der Baum Anne oder ihre Eltern zum Schmunzeln brachte, war ihr Opa ganz nahe bei ihnen. „Das ist das schönste Geschenk von allen“, dachte sie, während sie über das ganze Gesicht grinsend durch die Schneeflocken des Schmunzelbaums tanzte.
 



 
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