Der Schreiber

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van Geoffrey

Mitglied
Der Schreiber

Ich bin Ariosthenos, Bürger Athens, und ich möchte meinen ein angesehener Bürger, wenn die Zahl der Ämter, die mir aufgebürdet wurden, Ausdruck der Achtung ist, die man meinem weißen Haar entgegenbringt. Ja, weiß ist mein Haar geworden über der Sorge um Athen, die Schöne, wie sie genannt wird.
Ich hatte vor dem Ältestenrat mit glühenden, eindringlichen Worten zu den Vornehmen Athens gesprochen, sie mögen ihre Beutel nicht schonen, um ihren Teil zur Erneuerung der Kriegsflotte beizutragen, ohne ihr Leben in Gefahr zu bringen, wenn die Jugend Athens bereit war, an gefahrvollen und kriegerischen Unternehmungen zum Wohl und zur Verteidigung Athens ihr Leben zu wagen. Mein Gemüt war im Innersten erregt, als ich nach der Versammlung meine Schritte ins Umland lenkte, wo ich beschaulich wandelte, bis mein Geist in Anbetracht der friedvollen Natur seine gewohnte Kraft und Frische zurückgewonnen hatte. Ich verlor mich in Gedanken über die Zweckmäßigkeit der Tierwelt, die mit allem ausgestattet ist, was ihrem Fortleben und ihrer Arterhaltung dient. Ähnlich ist es doch mit den Menschen, und auch mit den Staaten, dachte ich. Ihre Bestimmung ist es, zu leben und zu wachsen, und dieser Bestimmung gemäß verfügt ein Staat über ausreichende Mittel und Talente.
Dort, eingesponnen in meine Betrachtungen, führte mich mein Weg an eine Wegkreuzung, wo ein Mann auf einem Stein saß, und eifrig, ohne aufzublicken, auf eine Schriftrolle schrieb. Ich betrachtete ihn eingehend, was ihn nicht zu stören schien. Er schien keinerlei Notiz von mir zu nehmen, oder einen vollkommenen Mangel an Interesse gegen jeglichen Mitmenschen zu leiden.
Sein Verhalten verblüffte mich in nicht geringem Maß, obgleich ein Mann, der auf eine Schriftrolle schrieb kein Anblick war, der mir fremd war. Der ungewöhnliche Ort aber, sein Eifer und sein Hingegebensein an diese Arbeit fesselten meine Aufmerksamkeit und ließen in mir den Wunsch erwachen, zu erfahren, welchem Thema seine Arbeit galt. Weder Geräusch, noch Lichteinfall, noch Bewegungen in seiner unmittelbaren Nähe schienen ihn auch nur im Geringsten zu bekümmern und seine Aufmerksamkeit auch nur im Geringsten zu trüben.
So sprach ich ihn denn an: „Was schreibst du, Mann, das man meinen könnte, weder der Wechsel von Tag und Nacht, noch die Bedürfnisse der menschlichen Natur würden dir etwas gelten?“
Nun blickte der Mann erstmals auf mit dem Blick eines Menschen, der eben aus einem Traum erwacht, und dessen Verstand noch befasst ist mit den Dingen, die er im Schlaf gesehen und gehört zu haben glaubt.
„Ich schreibe eine umfassende Anleitung, wie man einen Drachen tötet.“
„Nun, dann schreibst du im falschen Zeitalter, denn die Riesen, die du Drachen nennst, gab es vor Urzeiten. Doch sie sind ausgestorben. Warum, ist ein Rätsel, dass unsere Philosophen beschäftigt hat. Du wirst niemanden finden, der Nutzen aus deiner Schrift zu ziehen vermag.“
Der Angesprochene lächelte leise und sagte nur: „Was äußere Drachen anbelangt magst du recht haben. Doch meine Schrift befasst sich mit dem inneren Drachen.“
Der Mann wandte sich wieder seiner Schriftrolle zu und setzte seine Arbeit mit dem gleichen Eifer wie zuvor fort. Ich hatte ihn verstanden. Der Mensch hat nicht nur äußere Feinde zu fürchten, sondern er hat gleicherweise innere Feinde, die sein Seelenleben stören und Streit zwischen ihn und seine Mitmenschen legen. Dies waren die Drachen, die das Thema des Schreibenden gewesen sein mussten.
Ich setzte meinen Weg schweigsam fort, und erwog dies Thema, noch lange, ernsthaft, und eingehend.
 
S

steky

Gast
Hallo, @van Geoffrey!

Mir fiel sofort ein Zitat ein, als ich deinen Text las. Es stammt vom aktuellen Dalai Lama und lautet:

"Das Leben zwingt uns dazu, uns mit dem auseinanderzusetzen, was wir im Innersten sind."

Warum tötet dein Schreiber die Drachen nicht einfach? Anleitungen braucht man, wenn man ein Bücherregal aufstellt!

Die meisten Leute wissen übrigens sehr wohl, was richtig und falsch ist, sie schaffen es nur nicht, der Stimme der Vernunft zu folgen, weil sie Angst haben.

Dein Schreiber schreibt aktueller denn je, finde ich - vermutlich ist er seiner Zeit voraus.

Lass uns die Biester fangen, mein Freund!

LG
Steky
 

van Geoffrey

Mitglied
Anleitungen

Hallo, Steky!

Solche Anleitungen gibt es zum Teil. Viele religioese Texte befassen sich damit, meine ich.
Die Schwierigkeit, den Drachen zu erlegen, besteht wohl darin, dass er letztlich - meiner Meinung nach - das Ego selbst ist.
Ntuerlich nicht das Ich schlechthin, aber das ueberbordende Ego, das nur sich und keinen Mitmenschen kennt.
Sicher bedarf es da beharrlicher Arbeit, diesen Drachen auszumaerzen. Es ist nicht mit einer Kraftanstrengung zu machen. (Dieser Gedanke gefaellt mir - aber er erscheint mir unrealistisch.)
Der Schreiber ist, wie du erraten hast, natuerlich nur eine Metapher dafuer, dass es zu diesem Thema unendlich viel zu sagen gibt.
Dass gerade Ariosthenes, der sich mit dem Wiederaufbau der Flotte beschaeftigt, auf diesen Mann trifft, der sich mit dem Frieden befasst, unterstreicht die Thematik.
Den Text werde ich wohl noch ueberarbeiten. Bis die Ueberarbeitung fuer mich selber reif ist, muss ich ihn so stehen lassen.

LG,

Roman
 
S

steky

Gast
Alles, was du sagst, unterstreiche ich.

Ich persönlich habe aus dem Buch Hiob sehr viel gelernt, was dieses Thema betrifft.

Für ein demütiges Leben bin ich trotzdem noch nicht bereit.

Was macht nur diesen Reiz aus, der Anerkennung und der Gedanke, der Beste sein, ausmacht?

Deine Geschichte ist gut; nur der Text müsste überarbeitet werden.

Wenn du magst, sehe ich mir das mal an.

LG
Steky
 

van Geoffrey

Mitglied
Demut

Hallo, steky!

Der Beste sein zu wollen ist doch eigentlich kein so verkehrter Zug. Man sollte das eben nicht auf Kosten anderer versuchen.
Demut kann man in mancherlei Hinsicht missverstehen.
Fuer den Glaeubigen Menschen ist es leicht - nach aussen hin - demuetig zu sein, weil der Glaeubige grundsaetzlich um seinen eigenen Wert wissen sollte, weil er ja einen liebenden Vatergott kennt.
Mangel an Demut kommt aus einem Mangel an Wissen um den eigenen Wert. Dann ist man versucht, diesen Mangel auf Kosten der Mitmenschen zu kompensieren.
Der demuetigste Mensch waer - nach meiner Ansicht - ein vollkommen freier Mensch, der andere nicht benutzen muss, um sich selber einen Wert zu geben.
Wie steht es mit dem Triebleben? Da sehe ich immer wieder Maenner, die in einer Partnerschaft leben, und sobald sie eine Frau sehen, muessen sie die umgarnen. Das, finde ich, ist auch so ein unendlicher aber wirkungsloser Versuch, dem gefuehlten Mangel abzuhelfen, und sich selber einen Wert zu geben, ein echter Kerl zu sein. Doch es nutzt nichts, der grundlegende Mangel, das Ego, dieses Bombentrichterloch in der Landschaft der Seele, ist auf diese Weise nicht aufzufuellen.

Vorschlaege zum Text lese ich mir gerne durch, wenn ich auch denke, dass er in mir reifen muss, bis ich ihn nach laengerer Zeit mit etwas Distanz wieder lesen moechte.

LG,

Roman
 
S

steky

Gast
Das hast du sehr schön gesagt!

Die Vorschläge erspare ich mir in diesem Fall.

Ich finde, deine Geschichte verdiente mehr Aufmerksamkeit!

LG
Steky
 

van Geoffrey

Mitglied
Hallo, steky!

Angeregt durch deine Worte, habe ich noch einmal gruendlich darueber nachgedacht, WAS denn eigentlich an einem Ego verkehrt sein soll.
Es ist meiner Meinung nach die Gier, dieses endlose kompensieren mit Dingen, die dem Mangel nicht abhelfen koennen.
Als Herr der Ringe-Fan hat mich die Frage beschaeftigt, was der Ring der Macht eigentlich sein soll.
So denke ich heute, dass es die Versuchung der Gier ist.
NICHT gierig die Haende ausstrecken, NICHT unverschaemt zugreifen - das scheint mir so die grosse Herausforderung auf dem Weg zum Menschsein.
Ein wirklich gutes Zitat faeltt mir dazu noch ein:
Ein Loewe kann nicht mehr Loewe werden, aber ein Mensch kann sehr wohl mehr Mensch werden.

LG,

Roman
 
S

steky

Gast
Hier ein schönes Beispiel für ehrliche, reine Kunst, deren Ursprung nicht Hochmut ist:

https://www.youtube.com/watch?v=vWLpby8wBpM

Der Mensch ist eine Blüte - und so sollte er auch leben.

Die Wandlung vom Tier zum Menschen vollzieht sich sehr langsam. Das ist auch gut so; denn nur so kann sie Wurzel fassen.

Ich denke, ich bin gerade dabei, etwas unheimlich Wichtiges zu lernen.

Frohgemut
Steky
 



 
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