Der schützende Ring

Heinrich VII

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„Wir müssen diese Sache unbedingt anpacken“, sagte der Präsident.
Er schlug mit der Faust auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen und wartete auf die Reaktion seines Beraters. George Wush steckte sich eine Zigarette an und drückte sich bequem nach hinten in den Sessel. Er inhalierte einen tiefen, ersten Zug. Dann nahm er die Zigarette aus dem Mund, legte sie in die Vertiefung des Aschenbechers und antwortete: „Das ist reine Paranoia. Eines Tages werden die Dinger sogar in den Klos und in den Küchen installiert. Weil die Schaben beobachtet werden müssen. Sie könnten sich schlagartig vermehren, zusammen rotten und einen Aufstand anzetteln.“
Der Präsident lachte.
„Glaub´ mir, Wush“, sagte er, „wir werden eine Mehrheit dafür finden. Die Leute haben Angst, von Tag zu Tag mehr, vor allem und jedem.
Also bieten wir ihnen Schutz und Sicherheit.“
George Wush nahm erneut seine Zigarette in die Hand, rauchte ein paar Züge und sagte: „Man kann sich auch Probleme schaffen, wo gar keine sind.“
Der Präsident legte die Füße auf die Tischplatte, so dass man seine teuren Stiefel bewundern konnte. Nach einer wegwerfenden Handbewegung, sagte er: „Komm mir doch nicht so. Man kann ein Bewusstsein schaffen, für jedes Problem. Ob das nun nötig ist oder nicht, spielt keine Rolle. Es wird, wie immer, gutes Geld damit verdient.“ Er nahm die Füße vom Tisch, setzte sich gerade und beugte sich nach vorne: „Wir können das tun, weil wir die Macht haben.
Ist das so schwer zu begreifen?“

Im nächsten Moment klopfte es und ein zweiter Berater erschien. Der Präsident hieß ihn willkommen und bat ihn freundlich, sich zu setzen.
„George und ich“, sagte er, „reden gerade über die Kameras.“
Norman Meyo, der zweite Berater, horchte auf.
„Kameras? Kann man irgendwo noch welche installieren?“
George Wush und der Präsident lachten -
„Mal im Ernst“, fuhr der Präsident fort, „wir haben eine Sicherheitslücke entdeckt. Stell dir vor, eine fremde Macht aus dem All würde bei uns landen.“
Norman Meyo sah ihn verwundert an.
„Gibt es dafür nicht Satelliten?“
„Das reicht bei weitem nicht aus“, brauste der Präsident auf, „darum geht es ja.“
Er räusperte sich und fuhr ruhiger fort: „Wir überwachen bereits die Straßen und die Häuser. Wir können, dank der neuesten Verfassungsänderung, jederzeit Wohnungen überwachen. Wir hören Telefongespräche, Faxe und Handys ab, nicht nur von uns. Wir überwachen den Verkehr, die Flugzeuge, die Schiffe. Wenn in der Wüste Gobi ein Skorpion einen Furz lässt, haben wir eine Datei davon und können sie auswerten.“

Eine Weile herrschte Stille im Raum.

George Wush sagte schließlich: „Neulich hab´ ich von einem Waldbesitzer gehört, der tatsächlich die Eichelhäher, Rebhühner und Füchse in seinem Revier von Kameras observieren lässt. Das schaffe Arbeitsplätze in der Elektronik-Branche, sagte er, auf der anderen Seite wisse er über jeden Schritt seines Getiers bestens Bescheid.“
„Das sind doch Auswüchse“, polterte Norman Meyo, „das sind doch wahnsinnig gewordene Paranoiker, deren eigene Scheiße in ihrem Gehirn angekommen ist.“
Der Präsident grinste über die Ausdrucksweise, hob dann aber die Hand und sagte: „Ich muss doch sehr bitten Meyo, schließlich bin auch ich ein Befürworter der systematischen Überwachung. Und ich sage euch, bevor wir nicht alles und jeden auf diesem Planeten überwachen und gegebenenfalls dingfest machen können, wird es keine wirkliche Sicherheit und keinen wahren Schutz geben. Wie du gerade geschildert hast, ist dieses Denken in den Köpfen der Leute da draußen bereits vorhanden.“
Der Präsident angelte nach einer Havanna aus der Kiste, die links vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Er roch daran, als er sie in der Hand hielt, schnitt das hintere Ende gekonnt ab und zündete sie an. Nach ein paar Zügen, die er genüsslich paffte, wandte er sich wieder seinen Beratern zu. „Du hast Unrecht, Norman. Unsere Zeit hat diese Kameras hervor gebracht; also werden sie auch benutzt. Die Leute sind wohlständig, luxusverwöhnt und genußsüchtig. Willst du ihnen das vermasseln, indem du ihnen die Sicherheit und den Schutz vorenthältst? Wir setzen lediglich noch eins drauf mit unserem Vorhaben. Es ist weltweit zu unser aller Vorteil.“

Norman Meyo schwieg. Er stand auf und trat ans Fenster. Dort holte er hörbar Luft und erklärte: „Rücken wir doch mal die Tatsachen zurecht. Wir wurden noch nie von Außerirdischen besucht. Geschweige denn, dass sie uns bekämpft hätten. Es bleibt also wilde Spekulation, dass das tatsächlich passieren könnte.“ Er sah einen Moment aus dem Fenster, als wäre dort irgendwo der Rest seines Textes lesbar, den er noch zu verkünden hatte. Da dem nicht so war, drehte er sich zu seinen politischen Mitstreitern um und ergänzte: „Allein, wie sollte das technisch realisiert werden? Und woher sollte das Geld kommen?“
Er machte erneut eine Pause, sah dem Präsidenten geradewegs in die Augen und fügte hinzu: „Halten Sie das wirklich für ein geeignetes Konzept?“

Tage später hatte der Präsident die Vertreter aller wichtigen Länder zu einem Gipfel versammelt. „Meine Damen und Herren“, begann er seine Rede, „das Weltall ist ein gigantisches Werk Gottes. Aber es ist auch ein Einfallstor, für wen, das wissen wir noch nicht. Gott hat uns nicht verraten, wer sich da draußen befindet und ob er uns wohl gesonnen ist.“
Es wurde sehr leise im Saal, die Versammlung war aufmerksam geworden und lauschte gespannt den weiteren Worten.
„Es muss ein Ring von Hochleistungskameras um die Erde installiert werden, der alle Richtungen überschauen und aufzeichnen kann. Ein weltweites Team von Wachleuten muss ständig vor Monitoren sitzen und jede Kleinigkeit registrieren, auswerten und entsprechend einordnen. Wenn wir diese letzte Sicherheitslücke nicht schließen, ist jeder andere Schutz, den wir installiert haben, wertlos. Wer kann sich sicher sein, dass nicht jemand aus dem Weltall zu uns stößt und vielleicht immensen Schaden anrichtet?“

Der chinesische Vertreter wandte ein, dass uns bisher noch nie jemand aus dem All angegriffen habe. Der Russe meinte, dass das raus geschmissene Rubel seien. Der Afrikaner mutmaßte, dass die Außerirdischen vielleicht friedlich sein könnten und eine Bereicherung. Der Deutsche versicherte, dass so eine Kamera-Überwachung durchaus zu realisieren wäre, im höchsten Falle notwendig sei und er dem Vorschlag uneingeschränkt zustimme. Der Engländer wollte sich der Sache enthalten.
Als alle Sprecher zu ende geredet hatten, sagte der Präsident: „Mag sein, dass wir nicht angegriffen werden, mag sein, dass sie friedlich sind und uns nicht schaden wollen, wenn sie auftauchen. Aber wir können dessen wirklich sicher sein? Und auch das wäre wichtig: Niemand soll im Nachhinein sagen können, wir hätten nicht vorsorglich etwas zu unserem Schutz getan.“
Tage später ließ der Präsident die Presse und das Fernsehen über sein Vorhaben informieren. Mit der Anweisung, was genau sie zu schreiben und zu berichten hatten. Und dass das natürlich pro und nicht kontra ausfallen müsse. Im gegenteiligen Fall würden die Unterstützungs-Gelder gestrichen werden. Verschiedene „Experten“ wurden eingekauft, die in Talkshows massiv Werbung für den Ring von Kameras um die Welt warben und deren Notwendigkeit betonten. Der Bevölkerung wurde gleichzeitig auf dramatische Art klar gemacht, in welcher Gefahr sie waren, sollte das alles nicht geschehen. Schreckliche Bilder wurden gezeigt; Horror-Szenarios entworfen. Junge Leute mit Plakaten Verhindert eine Invasion aus dem All klebten sich auf Fahrbahnen von Hauptstraßen fest und blockierten den Verkehr.

Widerstand kam von den alternativen Medienkanälen. Man wolle die Menschheit total überwachen, hieß es da, das sei der wirkliche Grund für das Vorhaben. Die Kosten würden jegliches Staatsbudget übersteigen und wären zudem so unnötig wie Pickel am Hinterteil. In den großen Städten gab es Demonstrationen. Viele tausend Leute versammelten sich, um zu protestieren. Flammende Reden wurden gehalten. Am Ende ließ die Regierung Hakenkreuze an die Wände schmieren, Aktivisten wurden zum Hitlergruß in die Kameras der Medien ermuntert. Vermummte Gewalttäter, von der Regierung bezahlt, zettelten Tumulte und Schlägereien an. Die Demos konnten darauf hin verboten werden. Der Widerstand in den alternativen Kanälen wurde ebenfalls als rechts, rassistisch und antisemitisch eingestuft. Bei den vermeintlichen Rädelsführern gab es Hausdurchsuchungen und Festnahmen. Regierungskritische Posts in den Social Medias wurden gelöscht und die User gesperrt. Ein Gesetz wurde im Schnellverfahren beschlossen, dass jeglicher Widerstand gegen die Verfassung verstoße, die Arbeit der Regierung behindere und somit strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehe. Am Ende traute sich keiner mehr etwas zu sagen. Auch die Leute, die dagegen waren, äußerten sich nicht mehr.

Nicht lange später konnte mit der Installation begonnen werden; der Präsident lag richtig mit seiner Prognose.
 
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