Der schwarze Schmetterling

miscs

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Der schwarze Schmetterling

Der leblose Körper liegt vor mir auf dem Boden. Der milde Spätsommerwind spielt kaum sichtbar mit der rotbraunen Mähne. Die Spätsommersonne taucht uns in warmes Licht. Hin und wieder durchbricht der Ruf einer Krähe die Stille. Es ist spät, ich sollte die Abdeckplane holen, um den Leichnam vor den Augen der Spaziergänger und den Schnäbeln der Aasfresser zu bewahren, bis ihn der Lkw abholen würde.

Gedankenverloren überquere ich die Wiese hinauf zu den Stallungen. Bei jedem Schritt springen Grashüpfer auf, um sofort wieder im Gras zu verschwinden. Dreißig Jahre ist es her, dass er die Weiten Russlands verlassen hat, eingepfercht in einen Eisenbahnwaggon. Dreißig Menschenjahre sind ein bemerkenswertes Alter und das Ende war absehbar. Bereits vor Monaten schwanden die Kräfte des einst sprunghaften Budjonny-Wallachs. Das Temperament von Donpferd und Englischem Vollblut, seinen Vorfahren, beugte sich dem Ruf der Vergänglichkeit. Seine Bewegungen wurden langsamer, aber dem russischen Stolz und edlen Dickkopf konnte die Zeit bis zuletzt nichts anhaben.

Die grasgrüne Plastikplane muss irgendwo zwischen den unzähligen Dingen im Geräteschuppen liegen, die sich über die Jahre angesammelt haben und geduldig auf den Moment warten, an dem sie wieder nützlich sind. Mein Blick wandert durch die Unordnung, die mich seit Jahren zum Aufräumen ermahnt. Erfolglos. Zaunpfähle lehnen an der Wand, leere Futtersäcke liegen auf dem Boden, ausgediente Wassereimer und lose aufgewickelte Weidezaunbänder füllen die Regale. Auf dem Lehmboden vor mir entdecke ich einen Schmetterling. Seine schwarzen Flügel bewegen sich sanft.

Dich hat man in diesem Durcheinander schnell übersehen, denke ich, beuge mich hinunter und greife das Insekt behutsam, gehe hinaus ins Freie und öffne die zu einer Kugel geformten Hände wieder. Verwundert beobachte ich den Schmetterling, der sich fest an meinen Finger klammert, anstatt in seine Freiheit zu fliegen. Ich drehe ein paarmal die Hand, gehe langsam zurück in den Schuppen. Der Schmetterling schlägt mit den Flügeln, bleibt aber sitzen.

Die Plane liegt zusammengefaltet im Regal. Ich klemmte sie unter meinen Arm und schlendere mit Schmetterling am abgespreizten Finger zurück zur Weide. Ein letztes Mal blicke ich auf den großen, leblosen Körper. Ich werde dich vermissen, mein Freund. Eine Träne fließt über meine Wange. Im nächsten Augenblick flattert der Schmetterling von meiner Hand auf, hinunter über den Kopf des Pferdes hinweg und wieder nach oben, bis meine Augen ihn zwischen den Baumwipfeln des angrenzenden Waldes verlieren. Die Zeit steht still, die Wiese und ihre Grashüpfer, sogar der Wald scheinen den Atem anzuhalten. Der Körper liegt noch immer reglos vor mir, doch etwas hat sich verändert. Er wirkt leer, verlassen. Ich breite die Plane über ihm aus und verabschiede mich still.

In manchen Kulturen glauben die Menschen, dass Schmetterlinge die Seelen von Verstorbenen ins Jenseits geleiten und den Hinterbliebenen Leichtigkeit und Freude geben. Ich denke oft an jenen Tag zurück, an dem mir dieser kleine, schwarze Schmetterling begegnete. Vielleicht war er ein Botschafter der jenseitigen Welt. Vielleicht war er es, der sich meiner Trauer annahm und mir neue Freude gab.

Gedankenverloren beobachte ich die beiden Shetlandponys im hohen Gras. Der sanfte Spätsommerwind spielt mit den langen Mähnen der kleinen Geschöpfe. Die letzten Sonnenstrahlen tauchen die Wiese und den angrenzenden Wald in warmes Licht. Es ist spät, ich sollte die beiden nach oben zu ihren Stallungen bringen.
 

miscs

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Hallo SilbernerDelfine,
vielen Dank für dein Feedback! Vielleicht spürt man beim Lesen ja irgendwie, dass sich diese Geschichte wirklich so zugetragen hat.

LG miscs
 

ThomasQu

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Hallo miscs,

mir gefällt dein Text auch, aber ohne Gemecker geht es nicht:

Der milde Spätsommerwind spielt kaum sichtbar mit der rotbraunen Mähne. Die Spätsommersonne taucht uns in warmes Licht.
Zweimal Spätsommer, einen könnte man rauswerfen.

Bei jedem Schritt springen Grashüpfer auf, um sofort wieder im Gras zu verschwinden.
Nimm Heuschrecke, dann kannst du diese Wortwiederholung auch vermeiden.

Dreißig Jahre ist es her, dass er die Weiten Russlands verlassen hat … (hatte)

Auf dem Lehmboden vor mir entdecke ich (plötzlich) einen Schmetterling. Seine schwarzen Flügel bewegen sich sanft.
Mit diesem Satz solltest du den nächsten Absatz beginnen.

Dich hat
(könnte!) man in diesem Durcheinander schnell übersehen …

Und ganz zum Schluss noch mal Spätsommerwind. Raus damit.

Viele Grüße,

Thomas
 

miscs

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Hallo Thomas,

vielen Dank für deine konstruktiven Tipps! Jeder einzelne davon macht den Text tatsächlich viel besser. Das verstehe ich unter "konstruktiver Kritik" und hat absolut nichts mit Gemecker zu tun ;)

Dankeschön und viele Grüße,
miscs
 



 
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