Der schwarze Sperling

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Anonym

Gast
Nachdenklich stehe ich am Fenster und schaue hinaus. Sommerliche Wärme lässt den Asphalt flimmern und jauchzendes Kindergeschrei drängt sich an mein Ohr. Unweigerlich muss ich lächeln.
Die Kastanienbäume in unserem Hinterhof stehen in voller Blüte, und ein Meer aus weißen Blättern bedeckt die kleine grüne Rasenfläche.
Zwei Mädchen sitzen auf den Schaukeln und unterhalten sich. Sie lachen unbeschwert, sind fröhlich und mir scheint es, als wollten sie mit der Schaukel in den weiten Horizont entfliehen. Immer weiter, immer höher.
Dann entdecke ich auf der gegenüberliegenden Seite einen kleinen hölzernen Käfig. Ein weißes Tuch liegt zur Hälfte über dem Vogelhaus. Nur zur Hofseite hin ist dem schwarzen Sperling die Sicht gewährt.
Seine Augen glänzen, seine Stimme trällert und sein Gefieder leuchtet in einem satten schwarz. Angetan von seiner Stimme, seiner Herrlichkeit und seinen Augen höre ich seinem Gesang zu. Die Traurigkeit in seiner Stimme lässt mich nur erahnen unter welchen Qualen er in seinem Gefängnis dahin fristete. Die Melancholie seines Liedes steckt mich an.
Er nimmt mich durch seinen Gesang gefangen – zieht mich in seinen Bann.
Das Rauschen des Windes, das Lachen der Kinder und selbst dass Schaukelschwingen höre ich nicht mehr. Der schwarze Sperling übertönt mit seiner klaren Stimme alles um mich herum.

Jeden Tag sehe ich nach meinem kleinen Freund.
Jeden Tag singt er für mich.
Jeden Tag berührt er mich mehr und mehr.
Und seine Traurigkeit wird für mich unerträglich.

Als der Herbst in unseren Hinterhof Einzug hält, sehe ich in seinen Augen die Sehnsucht nach seiner Freiheit. Seine Melodien werden trauriger und sein Gefieder verliert an Leuchtkraft.
Mit seinen Augen verfolgt er die andern Vögel, weiß er doch, dass er niemals aus seinem Gefängnis entfliehen kann.
Er ergreift mein Herz und eine ungewöhnliche Schwermut kann ich in seinen Augen erkennen.

Tag für Tag lässt er sein Futter unberührt.
Tag für Tag wird sein Gesang dunkler.
Tag für Tag wird der schwarze Sperling schwächer.
Und Tag für Tag liebe ich ihn mehr.

Die strahlende Schneedecke blendet meine Augen. Mit Mühe kann ich den schwarzen Sperling nur erkennen. Er sitzt auf meinem Fenstersims und trällert sein schönstes Lied für mich.
In seinen Augen kann ich wieder das Leben entdecken, in seiner Stimme höre ich seine Freiheit und in seinem Gefieder glänzt die Wintersonne und zaubert für mich einen Regenbogen.
Vorsichtig halte ich ihm meine offene Hand entgegen, mit der gleichen Vorsicht nimmt er mein Geschenk an und schmiegt sich an meine Wange.
Prachtvoll breitet er seine kleinen Flügel aus und stürzt sich in seine neue Freiheit.
Seine Kreise zieht er immer enger und schraubt sich hinauf, der Sonne entgegen.
Am Fenster stehend, den kalten Wind unter meiner Haut spürend, sehe ich meinem schwarzen Freund hinterher und wünsche mir, die Freiheit mit ihm zu genießen.
 

Chakram

Mitglied
Eine wunderschöne Geschichte die mir irgendwie die Sprache verschlägt. Darum fehlen mir die Worte.

Danke, daß ich sie lesen durfte.

LG, Chak
 
H

hoover

Gast
Unglaublich. Echt *gg* das ist gut, verdammt gut, da fehlen einem wirklich die Worte.

hoover
 
P

Phantom

Gast
Der Autor war wohl gestern im Lupe-Chat, eine Textstelle, die ich dort anprangerte, wurde sofort ausgebügelt :D

OK, zur Story: Nette Geschichte, doch steckt da ein Widerspruch drin, den ich mir nicht erklären kann...

Der Vogel macht eine Verwandlung in seinem Käfig durch... vom Geschöpf der Freiheit zum traurigen Sänger, dessen Gefieder an "Leuchtkraft" verliert (das mit der Leuchtkraft könnte man ändern, erinnert mich zu sehr an "Mr. Propper", besser: "Das Gefieder verliert an Farbe")...

Jetzt könntest du das ausbauen, immer dunklerer, düsterer, doch dann folgt: "Er sitzt auf meinem Fenstersims und trällert sein schönstes Lied für mich." Wie kann er das, wenn er vorher noch der traurige Sänger war... usw.? Macht das nur die Wintersonne? Bekanntlich steht der Winter eher für den Tod... wenn der letzte Absatz eine "Traumsequenz" darstellen soll, dann fehlt mir noch ein Schluß, ein paar knappe Worte zum Ende hin, so wirkt die Geschichte irgendwie "unfertig", z.B.:"Ich öffne die Augen, der Mann auf der gegenüberliegenden Seite putzt den Vogelkäfig, ich bücke mich vor um meinen traurigen Freund zu erkennen. Der kleine Sperling ist nicht mehr da - wird nie wieder sein", oder so ähnlich (dann würde auch diese "Traumsequenz" am Ende besser rüberkommen).

Gruß Phantom
 
an Phantom und den Verfasser

Vielleicht ist er einfach aus seinem Käfig ausgebrochen,
und hat sich für die Freiheit entschieden!
So etwas geht meist sehr schnell! Denn wenn die Käfigtüre
offen ist, muss man sich nur entscheiden...
Die Geschichte macht wirklich sprachlos!

black sparrow
 



 
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