der schweigende Gast

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Tula

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Der schweigende Gast


Im Strom am Chiado hinauf, in der Menge
verharrend, inmitten von Hektik und Hast,
dort siehst du vorm alten Café im Gedränge
am Tisch etwas abseits – den schweigenden Gast.

Die Pilger der Neuzeit umringen ihn heiter,
sie rücken und drücken und schmiegen sich an.
Die Pose, das Foto - schon ziehen sie weiter.
Und manchmal fragt einer: wer ist dieser Mann?

Wie durch eine Scheibe starrt er auf das Treiben,
das Leben, das er nicht bewältigen will.
Er denkt nicht, er fühlt - und erfühlt es beim Schreiben,
denn dächte sein Herz, meint er, stünde es still.

Man solle den Irrtum getrost ignorieren,
ihm lesend entfliehen – wer liest, der wird kaum
den Blick aus dem Brunnen gen Himmel verlieren,
wird irgendwann einmal so groß wie sein Traum.




PS: eine kleine Hommage an Fernando Pessoa auf der neuen Seite der lyrischen Reise https://lyrischereiseportugal.wordpress.com/der-schweigende-gast/
 

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(...) Denn ich bin so gross wie das, was ich sehe. (...)

Aus "Das Buch der Unruhe" von Fernando Pessoa

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Tula

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Hallo Marker

vielen Dank! - mit deiner Antwort hatte ich ja fast gerechnet :)

Ja, das Buch ist so reich an sinnreichen Zitaten, da kann man kaum genug davon bekommen kann; die gedankliche Tiefe und Weite Pessoas auch nur annäherungsweise zu skizzieren, bleibt eigentlich ein fast hoffnungsloses Unterfangen.

Ansonsten trifft die Szene der zweiten Strophe durchaus meine Erfahrung, die ich vor wenigen Tagen machte. Da jagt eine kleine Gruppe mit offenem 'Guide' in der Hand an mir vorbei, Minuten später habe ich selbst das iPad-Foto für diese geschossen, dann gehörte Fernando für wenige Sekunden mir! :)

LG
Tula
 

Tula

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Hallo Herbert

das freut mich. Das Café von innen auch sehr interessant, noch in etwa wie zu Lebzeiten Pessoa's.

LG
Tula
 

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Lieber Tula,
Das 'Buch der Unruhe' ist für mich eine Art literarisches Heiligtum. Unantastbar. Ich glaube, ich habe es insgesamt schon vier Mal gelesen. Es gibt für mich nichts Vergleichbares, obschon oder gerade weil vieles fragmentarisch bleibt. Es besitzt insgesamt eine immense philosophische und auch metaphysische Tiefe, bietet vielschichtige und differenzierte Einsichten in die (tragische) menschliche Existenz, dass ich stets von neuem ganz ergriffen bin von diesem Meisterwerk. Manche Texte sind erhebend, manche gar verstörend, aber man muss es gelesen haben, um dies nachzuempfinden.
Ich liebe Pessoa, liebe und verehre ihn von ganzem Herzen.
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Tula

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Lieber Marker
Danke dir für deinen erneuten Kommentar und deine Laudatio auf das Buch der Unruhe und seinen Verfasser. Dem kann ich wirklich nichts hinzufügen, nur vielleicht, dass man das Buch der Unruhe durchaus mit Liebe zur Ruhe und Detail lesen sollte, sonst entgehen einem gewisse Nuancen. In dieser Hinsicht kann ich nachvollziehen, dass du es gleich viermal gelesen hast. Ich habe es erst jetzt vor kurzem durch und mir interessante Stellen für späteres Aufarbeiten markiert.

Bemerkenswert deine Feststellung, dass manche Passagen auch verstörend wirken (können), z.B. wenn er von der Liebe schreibt. Beim folgenden habe ich wirklich eine Weile gegrübelt:

Wir lieben niemals irgendjemanden. Wir lieben ganz allein die Vorstellung, die wir uns von jemandem machen.

Das schmerzt irgendwo und stimmt hoffentlich nicht hundert pro. Andererseits …

Nochmals vielen Dank und LG
Tula
 

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danke, tula
ich zitiere den meister aus dem buch der unruhe, passend zu deinem angefuehrten satz:

wenn es etwas gibt, was dieses leben uns gewaehrt und wofuer wir den goettern, abgesehen von leben selbst, danken sollten, so ist es die gabe der unkenntnis: wir kennen weder uns selbst noch kennen wir einander. die menschliche seele ist ein dunkler, schleimiger abgrund, ein brunnen, aus dem man die oberflaeche der welt nie schoepft. niemand liebte sich selbst, kennte er sich wirklich, und ohne diese aus der unkenntnis resultierende eitelkeit, die das blut unseres geistigen lebens ist, stuerbe unsere seele an anaemie. niemand kennt den anderen, und es ist gut, dass dem so ist, denn kennte er ihn, wuerde er in ihm, selbst in seiner mutter, seiner frau oder seinem kind, den metaphysischen intimfeind erkennen.
 

Silbenstaub

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Hallo Tula,
ich habe mal ein paar Monate in der Nähe von Aveiro verbracht mit etlichen Fahrten nach Lissabon und bin sehr angetan von deinen Texten und deiner Homepage zu Portugal. „Land hinter dem Fluss“ ist ein ebenso wunderbarer Text.
Fernando Pessoa mag ich auch sehr. Lesenswert in diesem Zusammenhang finde ich noch den Roman von Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon.
LG Silbenstaub
 

Tula

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Lieber Marker

Ein erneutes Dankeschön für die Bereicherung dieses threads zum Gedicht.

Mit Wünschen für eine kreative Woche

LG
Tula
 

Tula

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Hallo Silbenstaub

Vielen Dank für deinen Gruß und Berwertung.
Ja, das 'Projekt' steht noch am Anfang, da freue ich mich besonders über den Zuspruch einiger Leser.

LG
Tula
 



 
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