Der schwerste Kampf

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lietzensee

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Der schwerste Kampf​

Sein schwerster Kampf war der Brand des alten Gasthauses gewesen. Im Winter Sechsundfünfzig war der Löschteich gefroren und schwarzer Rauch quoll aus den Fenstern des Schankraumes. Bei der Erinnerung spannte Hermann noch einmal die Schultern unter seiner Feuerwehruniform. Natürlich hatte er damals die Kraft eines jungen Mannes gehabt. Aber angekommen war es vor allem auf seinen Mut. Sich am Tisch abstützend, stand er auf und sprach zu der Versammlung: „Mein schwerster Kampf war der Brand des Gasthauses gewesen. Im Winter Fünfundsechzig war der Löschteich gefroren.“
Geduldig hörten die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr ihm zu. Sie saßen im Saal und tranken Kaffee. Ältere Männer nickten. Sicher hatten sie den Brand noch mit eigenen Augen gesehen. Hermann erinnerte sich an staunende Kindergesichter. Sie drängten sich auf der Dorfstraße, während er mit einem Beil die Tür zum Gasthaus aufbrach. Schwarzer Rauch füllte den Flur, an dessen Wänden gerahmte Skatkarten hingen. Er blickte in den Saal. „Schwarzer Rauch füllte den Flur. Dort hing ein Grand Ouvert. Das hatte ich mal gegen Lutz Bankel und Hartmut Krolewski gespielt.“
Als er in den Flur sprang, hatte seine Hand vor Angst gezittert. Darauf hatte er das Beil fester umfasst und daraus Mut geschöpft. Später hatte Hermann Lehrgänge mitgemacht, die über Sauerstoffmangel und Rauchvergiftung aufklärten. Aber damals spürte er nur das ätzende Brennen in seiner Lunge - und die Hitze auf der Haut. Einen Hemdärmel vor den Mund gepresst, kämpfte er sich die Treppe hinauf. Ihn trieb die Sorge an, dass im ersten Stock des Gasthauses ein Mensch in der Falle saß. Gelbe Flämmchen zischten zwischen den Ritzen der Treppe. Im Obergeschoss wusste Hermann auch im dicken Rauch, welche Tür er aufschlagen musste. Stolz schob er die Feuerwehrmütze auf seinem Kopf zurecht. Die Sorge hatte seinen Beilhieben enorme Kraft verliehen, denn die Tochter des Wirtes saß in ihrem Schlafzimmer fest. Diese Tür hatte er schon mehrmals im Dunkeln finden müssen. „Die Sorge hatte meinen Beilhieben enorme Kraft verliehen. Luise saß in ihrem Schlafzimmer fest. Dort stand das geblümte Sofa, auf dem wir …“
Er stockte und blickte in die Versammlung. Hatte er diesen Teil früher nicht immer ausgelassen? Unter seinen Fingern fühlte er die Tischplatte. „Die Flammen …“, fand er dann wieder in die Geschichte zurück. Die Flammen konnte er noch immer vor seinen Augen sehen. Je älter er wurde, desto greller loderten sie. Sie hatten sich an trockenen Maikränzen empor gefressen, als er mit Luise im Arm die Treppe hinab kroch. Die Luft zu heiß zum Atmen, die Haut an den Händen warf Blasen, wann immer sie die kochenden Bohlen berühren musste. Bei dieser Erinnerung krümmte Hermann seine Finger und unter den Uniformärmeln lugten Narben hervor. Er hatte dann wochenlang im Krankenhaus gelegen. Luise lag vier Zimmer weiter. Trotzdem hatte Hermanns Frau Heike dafür gesorgt, dass sie einander nicht besuchen durften. Das ist doch nur Höflichkeit, hatte er zu Heike gesagt. Das glaube ich dir nicht, hatte Heike ihm geantwortet. Danach hatte sie ihn in den Schenkel gekniffen und geküsst. Er suchte Heikes Gesicht im Saal und kam nicht darauf, dass sie schon Jahre auf dem Kirchhof begraben lag. Hermann rang mit seinem Gedächtnis. Dann schien für einen Moment alles wieder klar. Er war bei der Versammlung der Feuerwehr, sein goldenes Jubiläum - und er erzählte den jungen Leuten die Geschichte: „Mein schwerster Kampf war der Brand des Gasthauses gewesen. Im Winter Sechsundsiebzig ...“
„Das hast du gerade schon erzählt“, sprach eine höfliche Stimme.
Da schien es Hermann, dass der Saal um ihn sich zu drehen begann. Schwäche übermannte seine Beine. Er ließ sich auf den Stuhl fallen und die Leute begannen zu applaudieren. Seine Hände zitterten, unfähig, etwas zu greifen. Mein schwerster Kampf, dachte er, während man ihm auf die Schulter klopfte, mein schwerster Kampf fängt vielleicht gerade erst an.
 



 
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