Der See

lietzensee

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Der See

Können wir uns überhaupt verstehen? Im Gegensatz zu euch begreife ich, wie verschieden wir sind. Ihr lebt in meiner Welt, aber werdet nie erfahren, wie ich sie erlebe. Ihr seid rastlose Menschen. Aber ich bin ein See.
Ihr seid unfähig zu erleben, wie es ist, ein See zu sein, denn Ihr sterbt schnell. Aber ich kam in die Welt, als ein Eisblock sich vom Rest des Gletschers trennte. Mein Gletscher war mein Schöpfer. Seitdem wechselt mein Wasser ständig, aber ich, ich bin immer ein See. Für euch bin ich nur Wasser. Aber ich bin viel mehr. In mir lösen sich Salze, Gase und die Lebewesen, die in mir entstehen, in mir leben, in mir sterben. Ich kenne die Fische und Enten und toten Herbstblätter besser, als ihr es euch vorstellen könnt.
Und was kennt ihr von mir? Viele von euch halten nur einen Finger in mich hinein. Da kniet ihr dann über meinem Ufer. Euer winziger Finger steckt in mir riesigem See. Ihr fühlt nach meiner Temperatur oder was weiß ich. Aber ich fühle von euch jedes Detail. Das Salz auf eurer Haut und die abgestorbenen Hautschuppen, die von euch abfallen. Wahrscheinlich ist es euch peinlich, aber bei jeder Berührung lösen sich eure toten Zellen in mir auf. Ich schmecke dabei, woraus ihr gemacht seid. Ich schmecke eure Sterblichkeit und sicher ist sie der Grund, dass ihr euch so schnell vermehren müsst. Eure Vielzahl bedrängt mich. Ihr werft tausend Dinge in mich hinein und lasst Chemikalien in mein Wasser sickern. Aromatische Kohlenwasserstoffe breiten sich in mir aus. Es ist ein schlechter Rausch, wenn die Mittagssonne scheint und auf meiner Oberfläche Phenol oxidiert.
Ich verstehe euch nicht. Ihr seid anders als Mäuse und Waschbären. Aber ich muss mir wohl die Mühe machen, euch verstehen zu lernen. Ihr habt die Macht der Aktion, des endlosen Handelns. Aber ich habe die Macht der endlosen Existenz. Die paarhunderttausend Jahre, auf welche die Eutrophierung meine Lebenszeit begrenzt, werde ich euch gegenüber wohl als endlos bezeichnen dürfen.
Notwendigerweise studiere ich euch. Ich studiere euch sehr genau. Ihr fallt in mich hinein. Einige gehen auch in mich schwimmen. Dann seid ihr ein Hohlabdruck in mir und ich erfühle eure Formen. Ich empfinde eure Bewegungen. Und gar nicht so selten geht einer von euch ganz in mir auf. Er zappelt ein bisschen, dann sinkt er zu boden. Früher waren es noch mehr als heute. Aber auch jetzt holt ihr nicht alle raus. Dann liegt ihr auf meinem Grund. Ihr zersetzt euch und löst euch langsam in mir. Ich versuche euch dann zu begreifen, während eure Kohlenwasserstoffe sich verteilen. Es ist nicht leicht, einander zu verstehen. Aber ich habe Zeit.
 



 
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