Der See

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julimaus

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Davon, dass der Sommer sich ganz allmählich, aber unaufhaltsam seinem Ende näherte, war am Tage nichts zu bemerken. Erst gegen sieben, wenn die Sonnenanbeter von ihren Plätzen am See nach und nach verschwanden um der Jugend Platz zu machen, die bei der ersten abendlichen Brise, Nachttieren gleich, wie aus dem nichts auftauchte, spürte man bereits einen Unterschied zu den Tagen zuvor. Als würde man durch das von der Sonne aufgeheizte Meer schwimmen und ganz plötzlich in eine kalte Strömung geraten, war es nicht unangenehm, sondern geradezu erleichternd in seiner Frische. Und doch weckte es in Tara die Sehnsucht nach dem nächsten Frühling. Denn jetzt, im August, wo die Tage längst wieder an Länge verloren, erinnerte jede Wolke, jeder kühle Wind an den bevorstehenden Herbst und den Winter, der folgen würde.
Der Pinsel tauchte in das bereits dunkle Wasser in dem kleinen Glas, das neben ihr auf dem welken Gras stand. Dann versank die weiche Haarspitze in dem Grün, mischte es mit einem Tropfen Schwarz und malte eine letzte zarte Linie, die das Bild vollendete.
Tara betrachtete ihr Werk. Es gefiel ihr, was sie gemalt hatte. Ihr schien, als hätte sie die Stimmung, die die immer tiefer sinkende Sonne schuf, tatsächlich festgehalten. Ruhig, friedlich, mit einem Hauch von anrührend schöner Melancholie.
Entspannt, halb schlafend, ohne einen einzigen Gedanken im Kopf, blieb sie noch sitzen und sog jede Empfindung in sich ein. Den Geruch des Sees, der sich mit dem von abkühlender Luft vermischte, ein bisschen an Sand und Stein denken ließ, wollte sie nicht vergessen. Aber sie würde. Er ließ sich nicht malen, nicht beschreiben.
Unvermittelt zerriss eine raue Stimme die Luft.
"Lass mich in Ruhe!" Es klang schroff, hektisch, gereizt und gleichzeitig unglaublich verletzlich, fast weinerlich, zerbrechlich- oder zerbrochen? Die Stimme zitterte, ebenso wie die Frau, der sie gehörte.
"Lass mich in Ruhe!", wiederholte sie. "Ich hab genug. Es ist genug! Mir reicht es!"
Durch halbgeöffnete Augen beobachtete Tara das seltsame Paar. Zwei Frauen, die verschiedener nicht sein könnten. Eine klein und zart wie ein Vögelchen. Die andere etwa anderthalb Köpfe größer. Um wie viel breiter sie war, wollte Tara nicht schätzen.
"Hör doch auf, nimm das nicht…" Des Vögleins Worte waren kaum zu verstehen. Sie sprach leise, wohl um die andere zu beruhigen.
"Hör auf! Ich will nicht mehr!"
"Hör nicht auf sie…" Wieder sprach die Kleine zu leise für Taras Ohren.
"Wie denn? Sie brüllen mir doch noch hinterher! Gott, ist die fett! Ich kann das nicht mehr hören, ich kann nicht mehr, verstehst du das nicht?", rief die andere ohne auf die sich nach ihnen umdrehenden Leute zu achten. Sie wirbelte herum und marschierte mit schnellen, großen Schritten fort vom See. Die andere musste fast rennen, um hinter ihr her zu kommen.
Während sie leise weiterredete, waren die beiden an der Stelle, wo Tara saß, vorbeigelaufen, entfernten sich immer weiter aus ihrer Hörweite.
Nur einmal hörte sie sie noch, als die raue Stimme ausrief:
"Ich bring mich um, hörst du? Ich bring mich um!"
Schon bald waren sie hinter den Bäumen verschwunden.
Tara schloss wieder die Augen, doch die Zeit war vorangeschritten und die Luft hatte den besonderen Duft inzwischen verloren. Der Schatten, in dem sie saß, wurde unangenehm kühl, das gelbe Gras unter ihr fühlte sich hart und brüchig an.
Ruckartig stand sie auf und bückte sich nach ihrem Bild. Durch das plötzliche Aufstehen wurde ihr schwindlig, schwarz vor Augen. Sie stützte sich mit einer Hand auf den Boden und stieß dabei das Wasserglas um. Der durstende Boden sog das dreckige Wasser gierig auf.
Als sie ihre Sachen sorgfältig auf das Fahrrad packte und das Schloss öffnete, flackerte in ihr kurz der Gedanke auf, ihren Heimweg zu ändern, einen kleinen Bogen zu machen und den beiden zu folgen. Sie wollte wissen, wie es weitergegangen war, ob es der kleinen Frau gelungen war, ihre Freundin zu beruhigen. Doch es war inzwischen so viel Zeit vergangen, dass sie nicht wusste, wohin sie gegangen waren.
Beim Fahren streckte sie ihr Gesicht dem kühlen Wind entgegen. Die Luft umfing sie wie Seide, ließ ihre Haare fliegen, kitzelte ihre Wimpern, aber sie konnte es nicht genießen. Es war nicht frisch genug- oder zu kalt. Es stimmte nicht. Alles stimmte nicht. Der Tag hatte sich verändert.
Sie kam zu Hause an, gerade rechtzeitig zum Abendessen. Sie unterhielt sich mit ihrer Familie, sah ein bisschen fern mit ihrer kleinen Schwester. Sie duschte sich. Kämmte ihr Haar. Zog ihr Nachthemd an. Legte sich ins Bett. Nahm ein Buch. Öffnete es. Las nicht. Konnte nicht.
Die Frau hatte es nicht ernst gemeint. Aber sie hatte so verzweifelt geklungen.
Sie konnte nichts für sie tun. Es war deren Geschichte, nicht ihre.
 

Rainer

Mitglied
hallo julimaus,

dein text (rhythmus, wortwahl und botschaft) und die von ihm erzeugte stimmung gefallen mir.

anmerkungen:

im ersten abschnitt hast du einen riesensatz drin, den würde ich etwas teilen.
tippfehler: ...aus dem Nichts auftauchte...
der geruch des sees bleibt mir unvorstellbar.
das malen ist gut beschrieben, aber das motiv würde ich nicht erwähnen - die kitschgefahr lauert immer und überall.


"Nahm ein Buch. Öffnete es. Las nicht. Konnte nicht."

gefällt mir von der wortwahl her nicht.
unbeholfener vorschlag:

Nahm ein Buch. Öffnete es. Starrte die Seiten an.



trotzdem: ein schöner, stimmungsvoll-stiller text.


viele grüße

rainer
 



 
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