Der Seidenschalstricker.

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pleistoneun

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Es war einmal ein Seidenschalstricker, der nichts anderes tat als Seidenschale zu stricken. Er saß in seinem bequemen Seidensessel seines bescheidenen Häuschens und fertigte die wunderschönsten Seidenschale an. Von aller Welt reisten sie an, um diese Prachtstücke zu erwerben und ihm auf die flinken Finger zu schauen. Der Mann, schon etwas ältlich, unterhielt sich gern und oft über die Herkunft seiner edlen Seide. Er begann die Geschichte immer so:

"Es war einmal ein Kind, das hatte große Angst vor Spinnen. Jedesmal, wenn es einer Spinne begegnete, musste es aus Angst davonlaufen. Und je größer die Spinne war, desto weiter lief es. Eines Tages entdeckte das Kind eine Spinne, die so groß war wie es selbst. Vor Angst erstarrten seine Glieder und es vermochte nicht wegzulaufen. So stand das Kind wie angewurzelt vor der großen Spinne und blickte ihr mitten ins Spinnengesicht. Da begann die Spinne zu sprechen: 'Ich weiß, dass du uns nicht magst und vor uns davon läufst, wenn du uns siehst. Aber jetzt, wo die Angst dir die Glieder lähmt, siehst du dich deiner größten Angst ausgesetzt. Ich werde dir nichts tun. Keine Spinne tut den Menschen etwas zuleide. Nur einzig unser Anblick lässt sie jedesmal erschrecken und davon laufen. So sehe, dass das Laufen dir nichts einbringt. Erkenne, dass dich dein Laufen nur zur nächsten Spinne bringt. Von einer weg, zur anderen hin. Laufe nicht, sondern sehe nur, was dich so ängstlich macht.' Dann verschwand die Spinne. Das Kind ließ sich erschöpft auf einen Stein fallen und begann zu weinen. Die Eltern machten sich bereits Sorgen, wo das Kindlein steckte und fanden es schließlich am Waldrand auf dem Stein. Das Kind erzählte was vorgefallen war, woraufhin man erklärte, dass es keine sprechenden Spinnen gebe und man sich vor ihnen hüten solle. Doch diese Spinne, obwohl groß und schauderlich, hinterließ kein Gefühl der Furcht, vielmehr sah das Kind nun, dass selbst die größte Spinne ihr nichts zuleide tat. So stellte sich das Gefühl einer gewissen Sorglosigkeit gegen Spinnen ein. Das Kind hatte also seine große Angst vor Spinnen abgelegt, weil es verstehen konnte, dass sie im Grunde gutmütig waren und nur die Menschen sie schlecht machten. Als das Kind älter wurde, beschaute es sich die Natur der Spinnen genauer und beobachtete sie beim Spinnen ihrer Netze. Und während vieler Besuche im Wald, bekam es immer wieder Besuch von der Riesenspinne, die ihr viele Geschichten aus ihrem Leben erzählen konnte. Sie wurden gute Freunde. Die Riesenspinne war übrigens eine Seidenspinne, die mit ihren Fäden wunderschöne Kunstwerke ins Geäst der Bäume zauberte."

Heute, meine lieben Gäste, sitzt diese Riesenspinne hinter dem Haus und produziert die Fäden, mit denen ich eure Seidenschals stricke. Die Gesichter der Besucher zeigten Abscheu und Ekel. Und was dann passierte, war dem alten Seidenschalstricker klar: sie liefen so weit sie ihre Beine trugen.
 



 
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