Der Shit-Storm

Marc Hecht1

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Er sah aus dem Fenster. Seine Karriere lag offensichtlich in Trümmern. Von Berlin über Hamburg hierher nach Brökel – schneller nach unten ging es ja gar nicht. Brökel in der Wilstermarsch, keine 1000 Einwohner, was sollte er hier?
Vor dem Gasthof lief eine Katze über den Dorfplatz. Ein Hahn krähte. Das war Provinz, Dorfleben. Alles lief irgendwie in die falsche Richtung. Er wollte nicht in die Provinz. Provinz waren für ihn Städte mit weniger als 100.000 Einwohnern. Jetzt saß er in einem Dorf mit nicht einmal 1000 Einwohnern.
Die schrägen Strahlen der Morgensonne fielen ins Fenster und er schob die schlechten Gedanken schließlich weg. Immerhin war es hier noch die beste Variante. Was blieb ihm denn? Provinz war immer noch besser als Newsroom. Oder gleich als arbeitslos.
Er straffte sich, ging zum Tisch, setzte sich und wurde konzentriert. Las Meldungen, Einladungen, sortierte aus – und hörte dann, wie jemand die Stufen hinaufstieg.
Die Tür ging auf - und der Bürgermeister von Brökel trat ein.
Tom war überrascht, stand auf. Der Besucher winkte kokett ab: „Verzeihen Sie, dass ich hier so reinplatze! Ich war grad auf dem Weg ...“, neugierig und erstaunt sah der Bürgermeister sich um. Eine Zeitungsredaktion sollte das sein? „Machen Sie das hier alles allein?“, fragte er.
„Nein, ich habe noch eine Kollegin“, erklärte Tom.
„Und wo ist die?“
„In Husum.“
"Husum! Oha! Das ist ja ne ganze Ecke!“
„Ja. Theodor Storm. Runder Geburtstag. Machen wir groß auf.“
„Aha“, der Bürgermeister war mäßig interessiert, „na, jedenfalls, Sie machen das gut! Der Bericht über den Elberadweg, mit den schönen Fotos …, also, der war Spitze!“
Tom dankte höflich.
„Ach so!“ Dem Bürgermeister fiel noch etwas ein. „Ich hab‘ hier was“, erklärte er und zog ein Papier aus der Tasche, „könnten Sie das bringen?“ Er übergab Tom den Zettel, winkte ab: „nur Formelles, Vorschriften, und so weiter. Das müssen wir veröffentlichen, als Verwaltung. Dazu sind wir verpflichtet.“
Tom überflog die Überschrift: Bauplanung Elbmarschcenter - Kriterien und Fristen.
„Kriterien und Fristen – wofür?“, fragte er.
Der Bürgermeister winkte wieder ab, „formeller Kram, das müssen wir bringen, von Amtswegen. Behördliche Kriterien.“
„Aber wofür denn?“
„Kriterien und Fristen für Einwände aller Art. Jeder, der etwas gegen ein geplantes Bauvorhaben vorbringen möchte, muss das auch begründen können. Mit einer Expertise, zum Beispiel, oder mit einem Gutachten; etwas in der Art jedenfalls, denn sonst könnte ja jeder einfach behaupten, was er will! Um die Ämter und Behörden auf Trab zu halten!“
Tom schwieg. Und der Bürgermeister wurde jetzt ein bisschen staatsmännisch: „Natürlich, Öffentlichkeit und Bürgerbeteiligung sind ein hohes Gut in unserer Demokratie. Aber der Unterschied zu früher ist eben, dass heute alles gleich online geht, verstehen Sie? Früher mussten die Leute ihren Arsch hochkriegen und in die Rathäuser gehen, um sich über Bebauungspläne, über die ganze Fachplanung und so weiter zu informieren. Um dann gegebenenfalls Einwände vorzubringen. Heute aber wird das alles auf dem Silbertablett präsentiert. Im Internet.“
„Ja. So ist das eben.“
Der Bürgermeister sah Tom gequält an. „Und das wird dann geteilt und geteilt, verbreitet sich, landet in den sozialen Medien. Und was glauben Sie, was da alles fabuliert wird? Was da alles behauptet wird! In solchen Foren und so weiter. Zum größten Teil sind das nur haltlose Lügen!“
Tom hatte geduldig genickt: „Es ist doch normal, wenn es gegen so ein Bauvorhaben auch Protest gibt. Das ist nun mal nicht Jedermanns Sache ...“
„Von mir aus! Aber die Leute müssen dann eben auch wissen, wie so ein Verfahren läuft. Das muss ja alles auf rechtlicher Grundlage stehen!“, erklärte der Bürgermeister streng.
„Natürlich muss es das!“, Tom wurde unwirsch, wollte sich keine Plattitüden anhören, sah spöttisch auf: „Die Leute wissen bestimmt auch selbst, dass sie Beweise für ihre Behauptungen liefern müssen. Glauben Sie nicht?“
„Vielleicht. Trotzdem müssen wir als Gemeinde noch einmal darauf hinweisen.“
Tom schwieg.
Der Bürgermeister fühlte sich offenbar unverstanden: „Ja! So ist nun einmal die Rechtslage! Bebauungspläne werden von den Gemeinden erstellt. Und dann wird erwartet, dass mögliche Einwände erst einmal von den Gemeinden gesammelt und bewertet werden.“ Theatralisch straffte er sich jetzt: „Doch die Gemeindeverwaltung von Brökel bin eigentlich nur ich! Und ich habe weder Zeit noch Lust, mich jetzt zuschütten zu lassen, mit Behauptungen, zum Beispiel über irgendwelche Fledermäuse, die neuerdings hier herumschwirren sollen, für die es aber bislang keinerlei Beweise gibt.“ Er atmete genervt aus: „Wenn jemand was anmelden will, dann benötigt er auch entsprechende Gutachten oder Expertisen. Und er muss Fristen einhalten. Das muss ganz klar sein!“
Tom nickte, wollte den Bürgermeister besänftigen: „Natürlich, wir bringen das.“
„Gut!“
„Darf ich Sie trotzdem noch etwas fragen?“
"Selbstverständlich!“, erklärte der Bürgermeister, jetzt generös, „Sie sind doch Journalist! Wo kämen wir denn da hin? Wenn Journalisten nicht mehr fragen dürften! Das ist doch ...“
„Soll das nicht vor allem eine Botschaft sein?“
„Eine Botschaft?“ Der Bürgermeister blickte erstaunt. „An wen?“
„Na, an die Naturschützer, zum Beispiel, an die Umweltschützer. Dass die erstmal ein Gutachten brauchen, für ihre Fledermäuse.“
„Nein!“ Entrüstet sah der Bürgermeister auf: „Mit mir hat das doch gar nichts zu tun! Das sind die Kriterien!“ Er zeigte wieder auf das Papier, „ich gebe das nur weiter.“
Tom schwieg wieder.
„Es geht hier doch nicht um Botschaften! Schon gar nicht von mir!“, erbost winkte der Bürgermeister ab, „wir hier in Brökel sind da überhaupt nur ein ganz kleines Rad am Wagen! Das Meiste läuft doch sowieso über den Kreis und das Land.“
„Aber Sie sind doch jetzt damit hier.“
„Ja! Weil ich mir unnötige Arbeit ersparen will!“ Müde klang das, für einen Moment, aber schnell kam wieder die Kämpfernatur hervor: „Ich muss mir doch nicht jeden Firlefanz anhören!“
Und dann brach es aus ihm heraus: „Fledermäuse gehen ja offenbar immer, Fledermaüse, Feldhamster, Zaunkönige – allmählich rennt ja fast jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf. Vor allem bei euch in den Medien.“ Er winkte ab, verständnisheischend: „Die Natur ist wichtig, klar, … aber ihr übertreibt das manchmal, weil ihr immer auf der Seite der Guten stehen wollt.“ Er überlegte einen Moment: „Nein, müsst! Ihr müsst immer auf der Seite der Guten stehen, etwas anderes bleibt euch gar nicht übrig.“ Generös winkte er dann ab: „Na, ihr könnt ja machen, was ihr wollt.“ Dann stand er auf, trat einen Schritt an Toms Schreibtisch heran: „Dass mit den Fledermäusen ist denen doch viel zu spät eingefallen!“
„Eingefallen? Meinen Sie, die haben sich das nur ...?“
„Ob ich das meine? Das weiß ich! Die greifen jetzt nach jedem Strohhalm! Weil sie merken, dass ihnen langsam die Felle davonschwimmen! Der Flächennutzungsplan ist doch längst durch! Damals hätten die schon protestieren müssen! Aber das ist ihnen eben erst jetzt eingefallen ...“ Empört wedelte der Bürgermeister mit den Armen: „Aber Artenschutz ist ja immer gut! Da haben wir doch genug Beispiele in unserer Republik. Wo ein Wachtelkönig ganze Autobahnen verhindert, und so weiter!“
Er besann sich, sah auf die Uhr. „Ich muss los! Irgendwann kann ich Ihnen ja mal erzählen, was hier wirklich läuft. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie das nicht gleich alles in Ihre Zeitung schreiben.“
„Nein, nein!“ Tom winkte ab, „warum erzählen Sie es mir nicht gleich jetzt?“
„Ein anderes Mal. Ich bin spät dran.“
„In Hamburg hatten wir auch mal so einen Fall“, fiel Tom ein, „damals ging es um einen Habicht, glaube ich. Oder um einen Häher.“
„Und?“ Der Bürgermeister, schon im Gehen, blieb noch einmal stehen, sah interessiert auf.
„Ja, und dann hat die andere Seite irgendwie einen Feldhamster aus dem Hut gezaubert, der wiederum bedroht sein könnte, wenn der Häher sich weiter ausbreitet. Oder so ähnlich.“
„Verstehe! Ein Gegentier! Artenschutz gegen Artenschutz, interessant!“
Der Bürgermeister verabschiedete sich.

*​

Nur ein paar Tage später stand er wieder in der Tür. Euphorisch, diesmal. „Ich hab`s“, rief er, gleich beim Reinkommen.
Tom sah auf, seine Kollegin Gini blickte irritiert.
„Was haben Sie?“
„Das Gegentier!“, rief der Bürgermeister.
Tom verstand nicht.
„Sie selbst haben das doch erwähnt!“
Gini sah verständnislos hin und her.
Der Bürgermeister zog sich ungefragt einen Stuhl heran, setzte sich vor Toms Schreibtisch: „Sehen Sie, es ist doch so: Bislang wussten wir hier in Brökel ja noch gar nichts von diesen Fledermäusen. Die sind ja bisher noch nirgendwo verzeichnet.“
„Tja.“ Tom zuckte die Schultern. Er hatte zu tun.
Doch der Bürgermeister blieb eifrig: „Wenn wir jetzt neuerdings Fledermäuse bei uns im Ort haben, dann muss natürlich auch geschaut werden, wie sich das auf unsere einheimische Fauna auswirkt. Ob da dann andere Tiere bedroht sein könnten.“ Er sah entschlossen auf: „Das sind wir der Artenvielfalt in der Wilstermarsch doch wohl schuldig, oder nicht?“
Tom nickte, weiter mäßig interessiert. „Und solche Tiere gibt es?“, fragte er.
„Ja! Da gibt es wohl einige!“
„So?"
„Da ist zum Beispiel die Gelbbauchunke. Stellvertretend, für noch einen Haufen anderer Arten.“
Der Bürgermeister hatte den Namen todernst ausgesprochen. Trotzdem musste Tom lachen: „Die Gelbbauchunke?“
„Ja! Sein Gegenüber blieb ungerührt, „und wissen Sie, warum?“ Er wurde jetzt ein wenig leutselig, beugte sich weiter vor: „Die leben überall dort, wo es Bäche und fließende Gewässer gibt, und davon haben wir hier ja nun wirklich genug, also ..., als es damals darum ging, den Flussverlauf der Stör zu begradigen, haben uns die Umweltschützer jedenfalls in den Ohren gelegen, weil diese Gelbbauchunken davon bedroht sein könnten. Die mögen es offenbar nicht, wenn das Wasser zu schnell fließt, das sind wohl sehr sensible Tierchen.“
Aber was hat das mit den Fledermäusen zu tun?“ fragte Tom, „fressen die solche Unken?“
„Nein. Das heißt, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich fressen sie die nicht.“ Unwirsch sah der Bürgermeister auf: „Aber es reicht ja schon, wenn die Unken sich gestört fühlen. Irgendwie. Von diesem ewigen Flügelschlagen ..., oder was weiß ich! Das sollen jedenfalls ganz scheue Wesen sein. Und muss also zumindest mal untersucht werden. Darauf will ich nur hinweisen.“
Tom überlegte. „Und gibt es für diese Unken denn auch ein Gutachten?“, fragte er, lehnte sich zurück. Gar zu abenteuerlich klang das.
Doch der Bürgermeister hatte offensichtlich seinen Plan: „Sehen Sie, das Gute an diesen Unken ist, dass die schon mal dokumentiert wurden. Die Umweltschützer haben ja damals selbst darauf hingewiesen. Deshalb benötige ich gar kein Gutachten.“ Er sah triumphierend auf: „Lesen Sie die Kriterien! Ein Gutachten benötigt man, wenn es darum geht, die Existenz einer Tierart im betreffenden Gebiet grundsätzlich zu beweisen. Aber diese Existenz ist ja schon bewiesen.“
Tom schwieg wieder – und der Bürgermeister zog umstandslos ein Papier aus der Innentasche: „Kriegen Sie das noch rein, für die Ausgabe morgen?“
„Was ist das?“
„Eine offizielle Meldung der Verwaltung. Wir möchten zumindest auf die plötzliche Existenz einer Fledermauskolonie bei uns im Ort hinweisen. Und wie sich dies auf den Kreislauf unserer Artenvielfalt hier in der Wilstermarsch auswirken könnte … Was die Experten dann daraus machen – keine Ahnung! Aber wir wollen es als Kommune keinesfalls vorenthalten.“
Tom starrte ihn an. Die Dreistigkeit des Bürgermeisters haute ihn um, für einen Moment war er geschockt. Er stand auf, ging zum Tisch, drehte eine Wasserflasche auf und nahm einen ordentlichen Schluck.
"Sie wollen diese Unken ernsthaft gegen die Fledermäuse ins Spiel bringen?“, fragte er.
Der Bürgermeister hielt ungeduldig seine Meldung in der Hand: „Nein! Ich will gar nichts ins Spiel bringen!“, erklärte er pikiert. „Diese Unken sind ja nur exemplarisch, stehen wahrscheinlich noch für viele andere einheimische Arten, die womöglich auch bedroht sein könnten. Das muss jedenfalls alles erstmal geprüft werden!“
Tom blieb am Tisch stehen, dachte nach.
„Also gut, diese Unken gibt es. Aber dann müssen Sie doch auch beweisen können, dass die von den Fledermäusen gefressen, gestört, oder was auch immer werden. Oder etwa nicht? Sonst machen Sie sich doch lächerlich! Das zerreißt man Ihnen doch in der Luft!“
Genervt sah der Bürgermeister auf: „Nein, ich gebe das ja nur zu bedenken! Das muss ich sogar, als Bürgermeister! Und das muss dann geprüft werden, aber separat, abseits vom eigentlichen Verfahren. Das heißt, alles geht erst mal weiter wie bisher!“ Unwillig wedelte er wieder mit seinem Papier, „hören Sie, ich weiß schon, was ich tue, das sind Verfahrensfragen, verwaltungstechnische Sachen ..., damit kenne ich mich aus! Das sind eben die Spielregeln unserer Demokratie ...“
Tom hatte sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt, atmete durch: „Gut. Wenn Sie das als Bürgermeister offiziell so rausgeben wollen. Dass Unken von Fledermäusen bedroht werden könnten – bitteschön, dann bringen wir das!“
Sein spöttischer Unterton war nicht zu überhören, doch der Bürgermeister ignorierte das, reichte befriedigt seine Notizen, ohne Spur von Zweifel: „Gut!“, erklärte er und stand auf. Es entstand eine verlegene Pause.
Und der Bürgermeister wurde wieder ein bisschen staatsmännisch: „Als Verwaltungschef dieser Gemeinde habe ich nun einmal die Pflicht, alle Aspekte in dieser Angelegenheit zu erkennen und zu bewerten!“
Tom nickte matt.
„Artenschutz gilt schließlich nicht nur für Fledermäuse! Da muss man als Kommune schon ein bisschen komplexer hinschauen, nicht wahr? Ich will mir da am Ende jedenfalls keine Versäumnisse nachsagen lassen! Und im Übrigen“, schloss er, wären ja letzten Endes sowieso „die Experten“ zuständig. Und er gäbe als Bürgermeister nur zu bedenken.
Tom sah ihm noch einen Moment ins Gesicht. Dieses bäuerliche, kantige Gesicht, hinter dem sich offenbar ein Winkelkadvokat verbarg. Mit allen Wassern gewaschen. War denn das zu glauben? Doch er wollte die Sache nun beenden: „Ok, wir bringen das. Als offiziellen Pressetext der Gemeindeverwaltung.“
„Sehr schön!“ Der Bürgermeister war erfreut, nickte noch einmal in die Runde – und ging.

*​

Eine Weile war Schweigen, Tom und Gini saßen da.
„Der ist doch verrückt!“, erklärte Tom endlich.
Gini schwieg.
„Gelbbauchunken, Fledermäuse ..., wir sind hier offenbar im Irrenhaus gelandet!“ Tom redete sich in Rage, Gini jedoch fragte ungnädig: „Was hat er damit gemeint? Dass du ihm zu einem Gegentier geraten hast? Was ist das, ein Gegentier? Und seit wann beraten wir den Bürgermeister?“
Tom winkte ab: „Ich hab ihm nur erzählt, dass es in Hamburg auch mal so einen Fall gab! Dieses Gewerbegebiet, an der Süderelbe, weißt du?“
„Was ist damit?“, Gini blieb ungnädig.
„Ja, da ging es zuerst um einen Habicht, aber dann hat die andere Seite einen Feldhamster aus dem Hut gezaubert. Jedenfalls, das hab ich ihm nur ...“
„Ach so! Das Gegentier!“, Gini verstand. „Und jetzt hat der Bürgermeister auch ein Gegentier gefunden. Seine Gelbbauchunke. Weil du ihm dazu geraten hast!“
„Nein! Ich hab ihm nur davon erzählt.“
„Warum?“ Gini blieb direkt: „Weil du dich bei ihm einschleimen wolltest?“
Tom fuhr empört auf: „Also, jetzt hör aber mal auf, das ...“
„Nein! Ich höre nicht auf!“ Gini schlug wütend auf den Tisch, „wir sollten uns da absolut zurückhalten! Sehr zurückhalten! Und vor allem niemandem irgendwelche Tipps geben!“
Tom atmete entnervt aus. Er wusste, dass sie recht hatte. Trotzdem war er beleidigt. „Das habe ich so nebenher erwähnt ...“, versuchte er es nochmal, aber wieder blieb sie direkt: „Du hast ihm einen Tipp gegeben! Und den hat er jetzt befolgt!“

*​

Zwei Tage später standen fast 40 Menschen vor dem Haus des Bürgermeisters. Sie johlten, riefen, aber der Bürgermeister kam nicht ans Fenster, niemand ließ sich sehen. Und die Menge wurde wütend. „Komm raus, Torge!“, rief einer und ein anderer drohte gar: „Ich stopf dir deine Unken in die Fresse!“
Die Stimmung war aufgeheizt – und jetzt erschien auch noch Tom. Er kam auf den Platz, sah verwundert umher, ging dann aber mit seiner Kamera auf das Haus des Bürgermeisters zu, vorbei an den Demonstranten. Die erkannten ihn, den neuen Schreiberling, der jetzt im Ort wohnte. Und die ganze Wut ging jetzt an ihn. „Lü-gen-pre-sse“ wurde skandiert, erst verhalten, dann immer lauter und schließlich aus voller Seele: „Lü-gen-pre-sse! Lü-gen-pre-sse!“
Tom war allein, ohne seine Kollegin Gini. Niemand war da, der ihn zügeln konnte. Und so ging er also wütend auf die Menge zu: „Wie nennen Sie mich? Was fällt Ihnen denn ein? Das ist ja lächerlich!“
Höhnisches Lachen folgte. Tom wurde noch wütender und sah jetzt den örtlichen Bäckermeister in der Menge. „Und Sie? Auch immer vorne dabei, was? Gehen Sie lieber nach Hause und backen Ihre kleinen Brötchen!“, fauchte er den Mann an.
Der Bäcker wich ängstlich zurück.
Gini war später entsetzt, als sie davon erfuhr. Und hatte Tom gehörig den Kopf gewaschen: „Das kannst du so nicht machen! Das ist hier ein Dorf! Hier kennt jeder jeden!“
„Na und?“
„Du kannst doch die Leute hier nicht so beschimpfen!“
Tom wurde trotzig: „Hat der sich jetzt bei dir ausgeweint, deswegen?“
„Nein, um ehrlich zu sein: Der denkt, dass du vielleicht ein bisschen verrückt bist! Alle, die dabei waren, denken das offenbar. Und so was geht dann schnell rum im Ort.“
„Ich soll verrückt sein?“ Irritiert blickte er zu Boden, straffte sich und sah sie angriffslustig an, „hast du nicht gehört, wie die uns genannt haben? Lügenpresse! Und das soll ich mir einfach so gefallen lassen?“
„Ja. Sollst du“, erklärte Gini ungerührt.

*​

Es war damals verrückt, die Sache kochte schnell hoch. Wieder nur zwei Tage später trat Tom morgens in die Redaktion, grüßte freundlich – doch Gini erklärte sofort: „Du gehst gerade viral!“
Er blieb verblüfft stehen. „Ich? Warum?“
Sie winkte, er kam dazu, beide sahen auf den Bildschirm.
„Bereit?“, fragte Gini.
Er nickte verwundert und das Video begann.
„Lü-gen-pre-sse! Lü-gen-pre-sse!“ Eine wütende Menge skandierte – dann wurde auf Tom gehalten, der sich jedoch lautstark wehrte: „Und Sie? Auch immer vorne dabei, was? Gehen Sie lieber nach Hause und backen Ihre kleinen Brötchen! Statt hier für alberne Tiere zu demonstrieren!“
Das Video endete mit Gejohle.
Gini sah vorwurfsvoll auf, schwieg aber.
„Ja Gott, das ist mir halt so rausgerutscht. Die haben uns da beschimpft und bejohlt!“
Sie sagte nichts. Und auch er schwieg, sah aus dem Fenster.
Die Idylle hier, die Stille, die Wiesen ringsumher, der träge Strom, die Möwen über der Elbe, die Kühe auf den Weiden und die Schafe auf den Deichen – dies alles wirkte wie Staffage, wie Kosmetik. Und darunter loderten brodelnde Feuer.
 
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