Mein Kommentar ist etwas lang, das Gedicht (auf das mich ENachtigall aufmerksam gemacht hat) als typisches 14+1-zyklisches Sonett in 210 Zeilen – aber auch. Die Beurteilung dazu habe ich mir sozusagen als Buße auferlegt, da ich es gewagt habe, ein 128zeiliges Gedicht als Einstand einzustellen und dem nichts Böses ahnenden und erwartungsvollen, dann brüskierten und schließlich todesmutigen Leser damit viel abverlangt. Nun bin ich der Leser.
Zuerst einmal: Respekt! Ich würde es mir nicht zutrauen, meine Poesie in ein Korsett so exakter, lyrischer Vorgaben zu zwängen, noch dazu vom Umfang eines Sonetts. Ich liebe eher die Freiheit der Form.
Allerdings sind mir bei der Form einige Freiheiten aufgefallen:
Anstatt des üblichen Schemas
abba abba bei den Quartetten
sieht es (ein paar Beispiele) in den ersten vier Zyklen so aus:
abba cddc eef gfg
abba cddc efg feg
abba cddc efg efg
abba cddc efe gfh
Gelegentliche Freiheiten sind aber nicht gleich Fehler.
Und nicht immer sind es Elfsilber.
Beispiele:
4. Zyklus, 1. Terzett:
„Mit aufgesetztem Hochgefühl”
6. Zyklus, 1. Terzett:
„das rächt sich sicher irgendwann.”
abgeschwächte jambische Betonung:
„Doch letztlich geht’s auf Friedhöfen noch weiter”
„erinnert nichts an einfachere Zeiten,”
Zur Rechtschreibung nur soviel: Stichwort Zeichensetzung.
Gelegentlich fehlen Kommata, frz. Accents und Apostrophe (Geschmacksache?):
„weitrer Knochenbruch”
„Die Angst vorm Gestern”
„die andern”
„die Meisten” – wird „meisten” hier nicht klein geschrieben?
Aber solche Schönheitsfehler sind angesichts des gewaltigen Sprachschöpfungsakts mehr als verschmerzlich. Bei einem Vortrag würden sie nicht auffallen.
Zum Stil:
Die Präsentation von DEnglisch-Begriffen und neudeutschen Vokabeln des 21. Jahrhunderts im Gewand einer so altehrwürdigen, anspruchsvollen Gedichtform überrascht und zerstreut augenblicklich die Befürchtung, es könnte ein zäher Leseprozess werden.
Zur Aussage:
Das Sonett ist eine Widerspiegelung der Zustände in unserer Welt. Allerdings wird durch Metaphern nicht auf Anhieb im Detail klar, was gemeint ist. Aber da das bei sehr vielen Gedichten nicht anders ist und dem Verfasser stets eine gewisse künstlerische Freiheit zugestanden werden muss, kann man das getrost so stehen lassen.
Allgemein kann man dem Gedicht eine Sichtweise attestieren, die weder beschönigt noch nüchtern ist. Vielmehr macht sie einen düsteren Eindruck. Und vielleicht muss es auch so sein. Wie sonst könnte man die Mächtigen der Welt dazu bewegen, die Zustände zu ändern? Weder Schönrednerei noch Realismus sind dazu ein probates Mittel, aber vielleicht ein gesunder Pessimismus.
Ansonsten:
Deine Wortgewalt und Sprachversiertheit macht einen schwindlig, und ein Begriff kommt mir beim Durchlesen immer wieder in den Sinn: „Genie”.
Du hast meinen größten Respekt für diese Mammut-Schöpfung!
Liebe Grüße!
Crimson Conjuror