Der Spatz und der Fliederbusch

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Der Spatz und der Fliederbusch

Erinnerst du dich an das verlassene Vögelchen, das wir im Nest in unserem Fliederbusch gefunden haben, als du sieben Jahre alt warst? Flauschig war es, dieses kleine Wesen mit dem deformierten Flügel, und zerrupft vom Wind. Du hast es in eine dunkelgrüne Schuhschachtel gelegt, die du mit Küchtentüchern ausgeschlagen hattest, und mit der Hartnäckigkeit eines jungen Lebens darauf bestanden, dass wir es aufpäppeln.

Einen Monat später war es zu einem flugunfähigen Spatz herangewachsen, den du als Beifahrer auf deine Schulter gesetzt hast, sobald du von der Schule nach Hause kamst. Er hat dich bei deinen Hausaufgaben ebenso begleitet wie bei deinen Gokart-Fahrten durch den Garten und ist selbst beim Zähneputzen nicht von deiner Seite gewichen.

Wochen darauf standen wir im Garten - das Vögelchen hatte über Nacht zu atmen aufgehört. "Es ist der Lauf der Welt. Was in unser Leben tritt, verabschiedet sich irgendwann wieder. Manche Freunde begleiten uns lange, andere kurz", sagte ich zu dir. Die Schuhschachtel, in der du es damals geborgen hattest, lag zwischen unseren bloßen Füßen. Du hast sie mit türkisfarbenem Seidenpapier ausgelegt, deiner Lieblingsfarbe, und eine Pokémon-Karte eines blauen Vogels, der sehr stark und tapfer aussah, beigefügt. Zapa-irgendwas hieß er. Du sagtest, dein kleiner Spatz würde durch den mächtigen Fantasie-Vogel seinen Weg in den Himmel finden.

Der kalte Knauf des Spatens lag in meiner Linken, deine warmen Finger in meiner Rechten. Ein bebendes Häufchen Elend warst du, meine Tochter. Wir standen gut zwei Stunden im Garten vor dem Fliederbusch, dessen Blüten zu kleinen ockerfarbenen Gebilden zusammengeschrumpelt waren, bis du den Anblick und das Geräusch der Erde ertragen konntest, die auf die Schuhschachtel zwischen den Wurzeln des Strauches fiel. Du wolltest deinen Freund nicht allein lassen, bis er begraben war.

"Papa", sagtest du, deine Stimme klein und zerbrechlich, "Papa, Begräbnisse sind echt schrecklich. Versprich mir, dass ich nie wieder auf eines gehen muss." Ich strich dir eine lose Strähne hinter das Ohr, die wie ein verirrter Sonnenstrahl aussah, küsste dich auf die Stirn und drückte dich in dem inbrünstigen Wunsch an mich, die Zeit möge stehenbleiben.

Ein Leben ist das nun her. Mein Leben. Meine Sonne hat ihren Zenit längst überschritten. Zu einer glutroten Scheibe aufgebläht, versinkt sie unter dem Horizont, auf dass sie die Fluten löschen mögen. Seit wir den Spatz begraben haben, fürchte ich den Tag, an dem ich dir Lebwohl sagen muss. Mein Liebes, lass mich dich mit diesen Zeilen trösten:

Wenn du mich vermisst, wirf einen Blick in den Spiegel, und du wirst einen Funken von mir in deinen Augen sehen. Mit jedem deiner Worte wirst du ein Flüstern meiner Stimme hören und wenn du es willst, werde ich von Zeit zu Zeit Gast in deinen Gedanken sein. Mach dir keine Sorgen: Dein starker blauer Vogel ist bei mir.

Ich werde nie ganz weg sein.
 



 
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