Der Spiegelverweigerer

rotkehlchen

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Porfirio Fencke steht mit hochgestelltem Kragen vor dem Garderobenspiegel, die Krawatte in der Hand. Obwohl es ihm noch nie gelungen ist, einen ordentlichen Knoten zu binden und er Krawatten hasst, lässt sie sich diesmal nicht vermeiden. Krawattenzwang. Der Chef bestand auf Schlips und Manschetten. Chef ist eben Chef. Und dieser besonders.
Ergeben legt Fencke den Binder um den Hals und beginnt mit der Prozedur. Er formt die Schleife, stopft das Schlipsende hinein, zieht es mit zwei Fingern durch.
Plötzlich stutzt er.
Während er noch an der Krawattenspitze zieht, hängt das Pendant im Spiegel bereits frei herunter. Wenig später ist sein Spiegelbild fertig beschlipst und er immer noch beim Knoten.
Das gibt es doch nicht! Absurd!
Porfirio überlegt. Gut, der letzte Abend war hart, und er kann sich nicht erinnern, wie er nachhause und ins Bett bekommen ist. Außerdem dröhnt ihm der Kopf wie einem Kesselklopfer. Aber kann das der Grund für eine derartige Täuschung sein?
Er beschließt, die Probe aufs Exempel zu machen. Kurzerhand löst er er das Gebinde wieder auf und fängt von vorne an. Doch jetzt zieht sein Gegenüber bereits den Mantel an, während er noch mit dem Krawattenknoten kämpft.
Fencke ist wie vom Donner gerührt. Er ist es noch, als es unten klingelt: Sein Kollege, mit dem er zur Firma fährt.

*
Als er am Abend nachhause kommt, geht er sofort ins Ankleidezimmer. Sein Spiegelbild erwartet ihn bereits, ohne Hut und Schlips. Offensichtlich hat es schon abgelegt. Jetzt streckt es ihm eine belegte Zunge entgegen. Fencke verzieht keine Miene, tritt vor den Spiegel und starrt es an. Ja, es besteht kein Zweifel, es ist sein, Porfirio Fenckes, Spiegelbild – zumindest sieht ihm die Gestalt vor ihm verteufelt ähnlich. Furchen auf der Stirn, in den Augenwinkeln Krähenfüße (würde seine Ex sagen) . . . Die leicht hängende Schulter, das streng nach hinten gekämmte Haar, die Sattelnase, das Grübchen am Kinn.
Fencke verharrt bewegungslos, als fürchte er, sein Spiegelbild könne ihm eine falsche Bewegung übelnehmen. Doch was geschieht jetzt? Sein glasiges Gegenüber öffnet das Hemd . . . Grauweiße Brusthaare quellen hervor, widerlich pelzig . . . Jetzt entblößt es sich weiter . . . Beklemmung, Panik, das Bedürfnis zu fliehen . . . Doch der Anblick nagelt ihn fest, zum ersten Mal nach weiß Gott wie vielen Jahren erblickt er sein Spiegelbild unbekleidet . . . Unterhalb der Brustwarzen ein Wellenlinie, hängendes Fett, danach ein Terrain für Bergsteiger: Der Spitzbauch . . . Dann fast Vergessenes . . . Der Nabel, der gekräuselte Pfad hinunter zum Allerheiligsten . . . Die Hosen fallen . . . Fencke stöhnt auf: Schlaffes Fleisch, unwiderruflich welk – mit achtundfünfzig? Auch hier ist Grau die vorherrschende Farbe . . . Und weiter unten . . .
Ein Zug von Hohn und Spott überzieht Fenckes Gesicht: „Ha!“, ruft er, „dass sollen Beine sein? Und diese Knie! Die reinsten Kohlköpfe!“
Anscheinend hat er vergessen, wen er da vor sich hat.
Fencke steckt die Zunge heraus, ruft: Leck mich doch! Er wendet sich ab und beginnt sich auszuziehen. Dann steigt er unter die Dusche und seift sich pfeifend ein.
In der Küche macht er sich ein Bier und setzt sich.
Was war das?
Porfirio ist trotz aller Besonnenheit kein Mann, der in einem Spiegel nur einen schnöden Gebrauchsgegenstand sieht. Mit zwölf Jahren entdeckte er, dass solch ein Möbel mehr sein kann als blankes Glas, Metall oder Holz.
Sein Vater besaß einen großen, dreiteiligen Schneiderspiegel, den „Hochaltar“, wie er ihn scherzhaft nannte. Wenn er, Porfirio, sich davor stellte und die Seitenteile in einer bestimmten Weise aufklappte, sah er seine Rückansicht in leicht gekrümmtem, sich verkleinerndem Bogen bis ins scheinbar Endlose vermehrt – eine virtuelle Klonierung. Sofort tauchten Fragen auf: Setzte sich diese Reihe wirklich bis ins Unendliche fort, und wie klein wäre ich dann? Oder gibt es da eine Grenze, einen Halt, ab dem es nicht mehr weiter geht?
Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte Porfirio den Hauch des Unauslotbaren, des Übersinnlichen, des Unerklärlichen, ohne dass er diese Empfindung hätte in klare Worte fassen können.
Aber das war harmlos im Vergleich zu dem, was er jetzt erleben sollte.

*
Am nächsten Morgen, vor dem Rasierspiegel.
Die Klinge schabt in Höhe seines rechten Ohrläppchens, im Spiegel allerdings deutlich weiter kinnwärts.
Fencke zieht eine neue Schneise durch das schaumige Weiß: Wieder ist die gespiegelte Klinge der realen ein gutes Stück voraus.
Jetzt bewegt sein Spiegelbild sogar den Kopf.
Unwillig setzt Fencke die Klinge ab und schüttelt ebenfalls den Kopf. Als wollte sich sein Spiegelbild über ihn lustig machen, grinst es ihn auch noch an.
Er zögert verunsichert, dann grinst er zurück.
Es besteht kein Zweifel: Nicht nur der Garderobenspiegel, auch dieser Spiegel spielt verrückt.
Fencke geht hinunter in den Keller, wo noch der alte „Hochaltar“ steht. Er klappt die Seitenteile auf und stellt sich so, wie er als Knabe stand: Da ist wieder die gekrümmte Reihe seiner Spiegelklone, die sich in den Tiefen des imaginären Raums verlieren. Doch nun weicht die Reihe zur Seite; dann ist Leere.
Wenig überraschte klappt er den Spiegel zu. Mit so etwas hat er schon gerechnet. Eines ist ihm jetzt klar: Nicht die Spiegel narren ihn, sondern sein Spiegelbild.

*
Nach acht Tagen steht fest: Sein Spiegelbild verweigert jede Form der Zusammenarbeit. Kaum hat Fencke Kinn und Wangen eingeseift, da grinst ihn sein gespiegeltes Gesicht bereits mit einer fertig rasierten Wange an.
Ähnliches geschieht beim Ankleiden. Nimmt er den Mantel vom Haken, steckt sein Spiegelbild bereits darin. Greift er nach dem Hut, hat ES den Hut bereits auf dem Kopf. Noch verwunderlicher: ES schnürt sich bereits die Schuhe, bevor er hineinschlüpft. Und nicht nur das! ES lässt jeglichen Respekt vor seinem Erzeuger vermissen: Hebt er, Fencke, die linke Hand, hebt ES die rechte. Dreht er den Kopf nach rechts – dreht ES den seinen nach links. In einer Anwandlung brüderlicher Vertrautheit bietet Fencke seinem Spiegelbild die Hand, ES tut dasselbe, ist aber nicht ums Verrecken zu einem Händeschütteln bereit. Er geht auf sein Spiegelbild zu, ES kommt ihm entgegen; aber anstatt, wie es der Anstand gebietet, höflich beiseite zu treten, bleibt ES stur stehen, anscheinend zu einer Kollision bereit. Fencke bleibt ebenfalls stehen, schließlich gibt der Klügere nach. Jetzt bewegt Es den Mund. Fencke lauscht. „Sprich lauter!“, sagt er, „ich höre nichts.“ ES bewegt lautlos die Lippen. ES dreht sich um und verlässt beleidigt die Garderobe.
Fencke starrt eine Weile in den leeren Spiegel, dann dreht er sich um, sagt: „Schweinehund!“, und geht ebenfalls.
Es lässt sich nicht mehr übersehen: Anscheinend will sein Spiegelbild nichts mehr mit ihm zu tun haben. „Es wird auf eine Trennung hinauslaufen“, murmelt er verdrossen, „wie damals mit Gisela. Da fing es auch mit Kleinigkeiten an . . .“
Allmählich beruhigt er sich wieder. Andere, wichtigere Dinge stehen auf seiner Alltags-Agenda als sich den Kopf um ein verrückt gewordenes Spiegelbild zu zerbrechen.

*
Eines Morgens, Fencke ist spät dran – der Wecker hat aus irgend einem Grunde nicht geweckt – trinkt er hastig eine halbe Tasse Kaffee, läuft in die Garage, setzt sich ins Auto, startet den Motor. Bevor er den Rückwärtsgang einlegt, blickt er wie immer in den Rückspiegel: Das Garagentor ist hochgeschoben, der Weg frei. Er gibt Gas und fährt los, da: Krach! Er ist mit voller Wucht in das Tor gedonnert. Fluchend steigt er aus und besieht den Schaden. Wider Erwarten ist er nicht allzu groß, das Tor lässt sich noch bewegen. Mit aller Kraft schiebt er es hoch. Der Fall ist klar: Der Rückspiegel hat ihm einen üblen Streich gespielt. Er ist ihm vorausgeeilt und hat ihm ein hochgeschobenes Garagentor vorgegaukelt, das in Wirklichkeit noch geschlossen ist!
Er klappt den Spiegel um und nimmt sich vor, nie wieder in einen Spiegel zu schauen. Was nützen Spiegel, die einen zum Narren halten? Weg damit! Den Autoschlüssel vergräbt er tief unten in der Wäschekiste – ein Autofahrer, der nicht in den Rückspiegel schaut, stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Dann ruft er in der Firma an und meldet sich krank. Dass er sich jetzt quasi blind rasieren und die Krawatte binden muss, stört ihn nicht, auch nicht, dass er demnächst viel zu Fuß gehen wird. Ha!, ruft er, wer trägt denn heutzutage noch Krawatte, und ha, wozu gibt es überhaupt Frisöre? Glatze ist angesagt! Glatze und blaue Augen! Die Frauen werden mich umschwärmen wie die Mücken eine Kerzenflamme! Notfalls lass ich mir auch noch einen Bart wachsen! Frauen lieben bärtige Kerle mit Glatze und blauen Augen! Und wozu braucht´s überhaupt Spiegel, diese Väter der Eitelkeit? Dann werde ich eben Spiegelverweigerer!
Doch so einfach, wie er sich das vorstellt, ist das Spiegelverweigern nicht. Schon beim nächsten Einkauf gerät er in eine Spiegel-Falle: Er ist neugierig vor einem Schaufenster stehen geblieben. Wer blickte ihn da an? Natürlich! Sein närrisches Spiegelbild! Wütend stampft er mit dem Fuß auf – ES macht das Gleiche. Halunke!, zischt er. ES anscheinend auch. Er droht mit dem Zeigefinger. Es auch. Erst nach einer Weile begreift er, dass dieses Spiegelbild seine Bewegungen just in time mitmacht.
Erleichtert atmet er auf. Also existiert sein untreues Spiegelbild nur in echten Spiegeln, nicht in spiegelnden Flächen! Eilig geht er nachhause, holt das große Silbertablett, ein altes Erbstück, aus dem Schrank, putzt es spiegelblank und hängt es im Badezimmer auf.

*
Fencke steht in der Toilette der Firma und wäscht sich die Hände, wobei er sorgfältig jeden Blickkontakt mit dem Spiegel vermeidet. Trotzdem sieht er schemenhaft, wie sein Spiegelbild nach kurzer Zeit verschwindet. Ein Kollege kommt herein, tritt hinter ihn und fragt etwas, wobei er in den Spiegel über Fenckes Waschbecken schaut. Fencke antwortet, der Kollege indes redet unverdrossen weiter, als sei ein fehlendes Spiegelbild das Natürlichste von der Welt.
Porfirio blickt erstaunt auf. Im Spiegel sieht er das Gesicht des Kollegen, seines nicht.
„Sag mal, Heinz“, fragt er, „fällt dir nichts auf?“
„Nein, was soll mir auffallen?“
„Im Spiegel! Was siehst du da?“
„Herrgottnochmal, was soll ich da sehen? Deine und meine Visage und eine Reihe Klosett-Türen!“
Der Kollege geht kopfschüttelnd hinaus.
Fenckes Spiegelbild erscheint, blickt sich kurz um und verschwindet wieder.
Er geht zurück an seinen Platz und versucht zu arbeiten. Doch seine Gedanken drehen sich im Kreis. Offensichtlich ist die Spiegelanomalie nur ihm sichtbar. Das ist gut, sehr gut sogar, denn es ersparte ihm eine Menge abstruser Erklärungsversuche. Aber! Viel wichtiger ist doch: Es sieht so aus, als ob sich der Zeitvorsprung seines Spiegelbildes ihm gegenüber immer mehr vergrößert. Waren es anfangs nur wenige Sekunden, so sind es mittlerweile schon mehrere Minuten, wie sich vorhin zeigte.
Fencke gerät ins Grübeln. Was bedeutet das nun wieder? Und wie soll das weitergehen? Auf einmal richtet er sich auf, denn ein spitzer Gedanke bohrt sich in sein Hirn. „Ha!“, ruft er, „wäre es möglich, über das Spiegelbild etwas über die Zukunft zu erfahren? Zum Beispiel, ob ich demnächst Prokura erhalte?“ Zumal dieser Schritt längst überfällig ist. Ich werde mir noch heute ein weißes Tuch in die Jackett-Tasche stecken, dann könnte mein Spiegelbild in einer Art vorauseilendem Gehorsam vielleicht schon morgen . . . oder übermorgen . . . das Taschentuch . . .
Oder, was natürlich auch möglich wäre, braut sich da etwas zusammen, das er lieber nicht wissen sollte?
Er beschließt zweierlei, erstens, nicht weiter über seine Zukunft nachzudenken. Und zweitens, sein Spiegelbild einfach zu vergessen.
Um sich zu beruhigen geht er nach draußen, eine Zigarette rauchen. Dabei fällt ihm ein, dass sein Feuerzeug noch im Waschraum liegt.

*
Doch gute Vorsätze fassen ist nicht schwer, sie zu halten, hm, nun ja, dagegen sehr.
Obwohl er sich alle Mühe gibt, seinem Spiegelbild die kalte Schulter zu zeigen, gelingt es ihm doch nicht vollständig. Da ist zum Beispiel der Garderobenspiegel, auch ein altes, würdiges Erbstück. Es geht ihm wie einem Mann, der seine Frau hasst, aber doch nicht von ihr loskommt und ihr immer wieder heimlich Blicke zuwirft, weil er spürt: Beide, sie und er, er und sie, sind durch einen geheimnisvollen Magnetismus miteinander verbunden. Nun sieh mich doch endlich an, scheint der Spiegel zu flüstern, nein, zu rufen, zu säuseln, zu schreien – Freund, Bruder, Schwager, Onkel . . . nun sei doch nicht so . . .
Fencke hält noch ein paar Tage durch, dann erliegt er dem Werben.
Okay, okay, okay, du hast gewonnen! Er sieht sein Spiegelbild freundlich an, sein Spiegelbild blickt freundlich zurück. Auf einmal wendet es sich ab und geht in die Küche. Sein Original hinterher.
Betrübt muss er in der Folgezeit feststellen, dass die gemeinsamen Auftritte immer kürzer werden. Kaum hat sich sein Spiegelbild gezeigt, da ist es schon wieder weg.
Und dann, eines Tages . . .

*
Wieder einmal ist er schwach geworden und gönnt dem Garderobenspiegel einen kurzen, verstohlenen Blick. Er ist schon auf der Treppe, da bleibt er verdutzt stehen. Verdammt! Wo war denn gerade mein Spiegelbild? Hab ich es übersehen? Er geht zurück, schaut, guckt, schaut – es zeigt sich nicht! Der Spiegel, dieses große, stattliche, würdige Möbel aus dem vorigen Jahrhundert mit den gedrechselten Säulen, es glotzt ihn blind-blöde an. Nun gut, einiges ist schon zu sehen, doch nicht das, worauf es jetzt ankommt.
Dann war ich wohl zu schnell, denkt er und bleibt noch eine Weile vor dem Spiegel stehen.
Doch sein Spiegelbild zeigt sich nicht mehr – jetzt nicht, nicht zehn Minuten später, nicht am nächsten Tag, nicht nach einer Woche. Genau wie Gisela . . .
Sein gläserner Zwillingsbruder ist und bleibt verschwunden.
Jetzt hat mich auch noch mein Spiegelbild verlassen, denkt er niedergeschlagen. Ich werde es vermissen . . . Es war ein angenehmer, stiller Begleiter. Nicht immer dieses Porfirio, tu dies, Porfirio mach das, Porfirio, du brauchst ein neues Hemd . . . Porfirio. . . Porfirio . . .
Plötzlich durchzuckt ihn ein heilloser Schreck. Wieder verspürt er den Hauch des Unauslotbaren, des Übersinnlichen, des Unerklärlichen. Doch diesmal graust ihm.
Er springt auf und ruft: „Unmöglich! Das kann nicht sein, das darf nicht sein!“ Wirft einen Mantel um und rennt aus dem Haus.

*
Porfirio tritt energisch und ohne den Blick zu wenden den Boden unter sich weg, den Kopf voll böser Ahnungen. Ein scharfkantiger Gedanke lässt ihn nicht los.
Wenn mir mein Spiegelbild zeitlich immer schneller vorauseilt, grübelt er, und den Zeitpunkt meines Todes erreicht, wird es dann für immer verschwinden? Und ich mit ihm? Denn der eine existiert ja nicht ohne den anderen. Ich nicht ohne mein Spiegelbild, mein Spiegelbild nicht ohne mich. Das könnte ja bedeuten – –
Dieser Gedanke stürzt ihn in ein schwarzes Loch.
Ohne nach links und rechts zu blicken ist er im Hafenviertel angelangt, einem Stadtteil, den er noch nie betreten hat. Als er um eine Hausecke biegt, sieht er auf der anderen Straßenseite einen dieser gewölbten Verkehrsspiegel. Die Stelle ist auch ausgesprochen unübersichtlich; die enge Straße führt in scharfer Kurve um ein Grundstück herum, das von einer hohen Mauer umgeben ist.
Und noch etwas anderes sieht er: Eine kleine Figur, die sich in dem Spiegel bewegt und anscheinend auf ihn zukommt. Es ist das Spiegelbild eines Mannes, der gerade aus der Einfahrt des Grundstücks kommt, den Fencke wegen der Mauer aber nicht sehen kann.
„Mein Spiegelbild!“, ruft er erleichtert, „da ist es ja wieder!“ Ohne auf den lebhaften Verkehr zu achten, läuft er auf die andere Straßenseite, auf sein vermeintliches Spiegelbild zu.
Der Motorradfahrer fährt genau in ihn hinein. Fencke schlägt mit dem Hinterkopf hart gegen eine Bordsteinkante und stirbt noch auf dem Transport ins Krankenhaus.
 

Languedoc

Mitglied
Hallo Rotkehlchen,
beklemmende Vorstellung, das eigene Spiegelbild wäre einem zeitlich immer weiter voraus.
Ich dachte beim Lesen, bei Deinem Protagonisten läuft es hinaus auf eine irgendeine Irrsinnstat, mit der er sich von seiner Wahnvorstellung befreien will, doch dann fällt er "nur" einem schnöden Verkehrsunfall zum Opfer.
Auch erinnert mich Deine Geschichte entfernt an Das Bildnis des Dorian Grey.
Im Übrigen bin ich mit dem Spiegelthema wenig vertraut. Es gibt mit Sicherheit viel her.
Grüße von
Languedoc
 

rotkehlchen

Mitglied
Hallo Languedoc, vielen Dank für dein Feedback.
Natürlich wäre ein anderes Ende möglich, zB dass er anfängt, alle Spiegel zu zerschlagen oder Autospiegel abbricht und im Irrenhaus landet. Aber das wäre dann eine andere Geschichte. Mir ging es erst einmal darum zu zeigen, welche dämonische Kraft für einen fantasiebegabten Menschen in einem Spiegel liegen kann, und dass ihn sein Wahnvortsellung auf überraschende Weise in den Tod treibt.

Überhaupt Spiegel . . .
Mein Vater besaß einen dreiteiligen Schneiderspiegel, wenn ich die Seitenteile vorklappte und mich in bestimmter Weise davorstellte, konnte ich meine Rückansicht als sich verkleinernden Bogen in anscheinend endloser Reihe vervielfältigt sehen, eine Art virtueller Klon. Diese Entdeckung und die sich daraus ergebenden Fragen regten mich so auf, dass ich die halbe Nacht herumgrübelte.
Viell. mache ich daraus mal eine Kurzgeschichte.
Das Bildnis des Dorian Grey.
Daran habe ich natürlich nicht gedacht. Nun ja, was man auch immer schreibt - irgendjemand war schon vor dir da, und sei´s ein antiker Satiriker. Ich denke aber, dass mein Plot einen anderen Weg nimmt als bei Wilde.
(Nur am Rande: Eine weitere Spiegelgeschichte von mir in diesem U-Forum heißt "Die Frau in Spiegel").
LG
 

Languedoc

Mitglied
Hallo Rotkehlchen,
Danke für Deine Ausführungen.
Deine Geschichte/dieses Spiegelthema, hat mich richtig getriggert. Wahrscheinlich sind es die lauernden dämonischen Kräfte o_O
Einen schönen produktiven Tag wünscht
Languedoc
 



 
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