Der Stein

Der Stein der Erkenntnis
Als wir die schlammige Einfahrt zu unserem Ferienhaus hinauffuhren, ahnten wir noch nichts von den nervenaufreibenden Tagen, die unseren Urlaub in der Bretagne zu einem aufregenden Abenteuer werden ließen. Vor einem Holzgatter das zwischen Steinmauern unsere Weiterfahrt verhinderte, hielt Vater unseren altersschwachen VW an. "Lena" rief er ungeduldig nach hinten "steig doch bitte mal aus und mach das Gatter auf". Meine Schwester jedoch, den Walkman auf volle Leistung, zuckte nur ekstatisch mit Kopf und schien wohl kein Wort verstanden zu haben. " Also gut", dachte ich "bevor es jetzt zur Diskussion kommt ....". Ich streckte mich so gut es ging, öffnete die Wagentür, und stieg aus. Na ja , so konnte ich wenigsten als Erster einen Blick auf unser Domizil werfen. "Absolute Spitze" , war der erste Gedanke der mir durch den Kopf ging. Vor mir lag, zwischen zwei Hügeln eingebettet, ein kleines aus Granitsteinen gebautes typisch bretonisches Bauernhaus. Es war im Besitz meines Onkels Poul der in Wirklichkeit Paul hieß aber seit mehr als 15 Jahren in der Nähe von Paris lebte. Mein Onkel hatte uns angeboten unsere Ferien kostenlos in seinem Haus zu verbringen. Als Gegenleistung erwartete er lediglich, daß wir die ein oder andere kleine Reparatur an seinem Anwesen durchführen sollten. Von außen zu mindestens machte das Gebäude einen gepflegten Eindruck. Ein bisschen Rasenmähen vielleicht ein paar Büsche zurückschneiden und dann ,Leben wie Gott in Frankreich, ganze drei Woche lang. Nachdem ich das Gatter geöffnet hatte fuhr mein Vater die letzen Meter bis zum Haus, und stellte den Motor ab. Wenig später stand die gesamte Familie Winkelmann ehrfürchtig und staunend vor dem schmucken Palais. " Das hätte ich Paul wirklich nicht zugetraut" gab mein Vater von sich, der als erster wieder zu sich fand. " Poul" , meinte meine Mutter leicht verschnupft "er heißt jetzt Poul" und außerdem solltest du endlich deine Vorurteile gegenüber meiner Familie aufgeben". " Aber seine Wohnung in Paris war doch der reinste Schweinest......." Schluß jetzt " unterbrach in meine Mutter und die Betonung ließ keinen Widerspruch zu. Dann kramte sie in ihrer Ledertasche und hielt triumphierend ein Schlüsselbund in Händen. Mit würdevollen Schritten ging sie zur Eingangstür steckte ihn ins Schlüsselloch und versuchte die Tür zu öffnen. Gespannt wartete der Rest der Familie auf den großen Moment. " Mist, verdammt, Holger ! das Schloß klemmt". " Laß mich mal" brummte mein Vater, der noch leicht säuerlich wirkte. Er nahm meiner Mutter den Schlüssel aus der Hand, steckte ihn ins Schlüsselloch, und mit einer gekonnten Umdrehung trennte er ihn in zwei Teile. Fassungslos starrte er auf den Teil des Schlüssels den er noch in Händen hielt. Mit einer Pinzette die ich aus dem Erste Hilfe Koffer im Auto holte gelang es mir den anderen Teil aus den Schloss zu ziehen. "Was jetzt" ? fragte meine Schwester. " Ach sicher hat Paul äh Poul in seiner Weisheit irgendwo am Haus einen Reserveschlüssel versteckt", meinte Vater. Also machte sich die gesamte Familie an die Untersuchung der Umgebung. Fensterläden, Fußmatten, Fensternischen und Fugen wurden untersucht, und tatsächlich fand Hanne ihn nach kurzer Zeit unter einem Blumenkübel. Die Tür ließ sich nun plötzlich unerwartet leicht öffnen, und wir standen wenig später staunend in Wohnzimmer des Bauernhauses. "Geschmackvolle Einrichtung" meinte Mutter, und obwohl wir normalerweise in diesem Thema unterschiedlicher Meinung waren, dieses Mal musste ich ihr zustimmen. Alle Möbel waren aus Weichholz gefertigt, zum Teil in bunten Farben geschmackvoll lackiert. Die Küche war auf dem neuesten Stand der Technik und die Ausstattung an Töpfen Pfannen und Zubehör ließ nichts zu wünschen über. Die nächsten Stunden verbrachten wir damit unsere Sachen in die Räume zu sortieren die zur Verfügung standen. Nach dem Abendessen blieben wir noch um den Küchentisch versammelt, da Mutter noch auf die Arbeiten zu sprechen kommen wollte, die Onkel Poul von uns verlangt hatte. Sie hatte einen Briefumschlag vor sich liegen auf dem mit großen Buchstaben " Erst im Ferienhaus zu öffnen" stand. Feierlich öffnete sie den Umschlag nahm den Brief heraus und begann vorzulesen.
Hallo ihr vier, ich hoffe ihr seit gesund und fröhlich angekommen. Sicher habt ihr euch ein wenig über den Zustand des Hauses gewundert, aber ich versichere euch, daß ihr nach ein wenig Arbeit einen entspannten, wohltuenden Urlaub in meinem Refugium verbringen werdet. Da ich meine Schwester kenne brauche ich euch über die wenigen Dinge die im Hause zu erledigen sind nichts weiteres zu sagen. Nach ein zwei Tagen werdet ihr euch wie zu Hause fühlen. Die einzige Bitte die ich darüber hinaus an euch habe, ist das was ihr aus dem Fenster seht erkennen werdet. Leider versperrt es mir schon seit Jahren die Sicht auf die kleine vorgelagerte Bucht. Lieber Schwager, daß ist meine Bitte an Dich, sorge dafür, daß du in der Zeit wieder für eine freie Sicht aufs Meer sorgst. Und jetzt genug der Worte. Ich sehe gegen Ende eurer Ferien noch mal für ein paar Tage bei euch vorbei Gruß Poul.
Wir schauten uns fragend in die Augen dann gingen wir nach draußen auf die Veranda um zu sehen was Poul wohl in seinem Brief gemeint hatte, als er von freier Sicht gesprochen hatte. "Dieser Schuft!". Vater sprach das aus was jeder von und in diesem Augenblick gedacht hatte. Vor dem Haus in einem Blumenbeet ragte ein ca. drei Meter hohen hinkelsteinförmiger Stein in den bretonischen Himmel. " Der muß Tonnen wiegen" meinte ich, verzweifelt, "das kann er nicht von uns verlangen ". Aber wie man es auch drehte es war der einzige Gegenstand der vom Haus aus gesehen den Blick auf das Meer verhinderte. Wir einigten uns als erstes darauf das Problem zu überschlafe, wobei wir jedoch am nächsten Morgen feststellen mußten das der Stein über Nacht nicht kleiner geworden war. Es half nichts, wir riefen den Familienrat ein und debattierten nach dem Frühstück wie wir das Problem am besten Anpacken sollten. " Jeder soll Vorschläge machen egal wie unsinnig sie erscheinen" und ich schreibe alles auf. Dann sortieren wir sie Stück für Stück nach ihrer Durchführbarkeit aus.
Die ersten Vorschläge die verworfen wurden waren:
Den Stein mit Essigessenz wegzuätzen Den Stein mit einem Gasfeuerzeug erhitzen und dann mit kaltem Wasser zu übergießen und somit zu sprengen. Den Stein meerblau zu streichen.
Weiter Vorschläge schieden aus, da die benötigten Materialien wie Dynamit, Nitro-Glitzerin, oder Schwarzpulver nicht zur Verfügung standen. Mutter kam auf die Idee das ganze Haus erst einmal nach den Gegenständen abzusuchen die uns bei unserem Problem hilfreich sein könnten. Leider fanden wir nicht das geringste was uns als Hilfsmittel dienen konnte. Hanne entdeckte schließlich eine baufälligen Hütte , die etwas unterhalb des Hauses am Hang stand. Sie war zwar abgeschlossen aber die Tür war so morsch, daß sie nach einem kleinen Tritt willig aufsprang. Muffiger abgestandener Geruch schlug uns entgegen. Hier hatte seit Jahren keiner mehr sauber gemacht. Aber in einem Verschlag fanden wir etwas brauchbares. Ein alter Seilzug, der wohl früher zum ausreißen von Baumstümpfen benutzt wurde. Nach einem Liter Öl und gutem Zureden ließ er sich wieder in Gang setzen. Nachdem wir das eine Ende des Stahlseiles um die Spitze des Steines gelegt hatten, mußten wir etwas finden was als Gegenanker dienen konnte. Die Stahlträger des Vordaches der Veranda schienen Vater stabil genug, schließlich wollten wir den Stein nur umlegen. Wir hatte uns nämlich ausgemessen, das der Stein in liegendem Zustand nicht höher als 80 cm war und die Sicht nicht mehr behinderte. Nach den ersten Hebelbewegungen an der Winde strafte sich das Stahlseil Vater mußte nun kräftiger an dem Hebel ziehen, aber zuerst tat sich nichts. Der Stein stand wie ein Fels in der Brandung. "Noch zwei Hübe dann kommt er" rief er siegessicher. Und tatsächlich es kam Bewegung in die Winde. "Er fällt" rief Vater wie ein Waldarbeiter, "daß Seil wird schlaffer!". Ich zweifelte, da ich die ganze Zeit die Spitze des Brockens beobachtet hatte, und wurde in meiner Vermutung bestätigt, als ich durch ein Krachen in meiner Konzentration gestört wurde. Niemand hatte beobachtet, das sich die Stahlstützen des Vordaches durch die hohe Kraft verbogen hatten und schließlich ihre Last nicht mehr halten konnten. Das Dach klappte wie ein Deckel nach unten, und bedeckte die gesamte Front des Ferienhauses. Meine Bemerkung das der Stein nun nicht mehr die Aussicht stören würde, wurde ignoriert.
Den Rest des Tages verbrachten wir damit das ramponierte Vordach wieder an Ort und Stelle zu versetzen, und bis auf ein paar unbedeutende Kratzer, war ihm nichts mehr anzusehen. Das Projekt Winde wurde als Fehlschlag zu den Akten gelegt . Am Abend tagte wiederum unser Familienrat, und in aller Bescheidenheit kann ich sagen das es meine Idee war die dem Projekt einen erfolgreichen Abschluß versprach. Mein Vorschlag war es unter zu Hilfe nahme unseres Autos den Stein zum Umfallen zu bewegen. Der erste Versuch kostete unserem Wagen jedoch die Stoßstange, die der Belastung nicht gewachsen war. Dann kam Vater auf die Idee das Seil um eine Achse zu wickeln und mittels Motorkraft das Objekt zu kippen. Schnell wurde der Reservereifen bei einer Tankstelle vom Gummi befreit, und mit einem Rad der Antriebsachse getauscht. Dann wurde der Wagen vorne hochgebockt. Das Stahlseil der Winde ein paar mal um das Rad gedreht und das andere Ende um den Stein gelegt. Die gesamte Familie versammelte um den Wagen, Vater stieg ein startete den Motor, legte den ersten Gang ein gab Gas und ließ langsam die Kupplung kommen. Wir alle sahen gespannt zu wie sich das Stahlseil spannte. Da ! die Spitze des Steines begann leicht zu zittern. " Mehr Gas", rief ich. Der Motor heulte auf, und langsam stieg uns der Geruch von verbrannten Kupplungsbelägen in die Nase. Dann geschah das Entsetzliche. Die Steine, die wir unter den Wagens gelegt hatten, rutschten weg und unser Wagen schoss wie ein Pfeil an unseren ungläubigen dreinschauenden Gesichtern vorbei und landete krachend am unteren Ende des Hinkelsteines. Mutter rief entsetzt den Namen meines Vater, und wir liefen alle schreckensbleich zu den dampfenden Überresten unseres Autos. Vater entstieg jedoch gerade bleich, aber unverletzt dem Wagen, und trottete ohne ein weiteres Wort an uns, vorbei ins Haus. Später untersuchten wir den Schaden, und stellten fest das der Kühler durch den Aufprall geplatzt war, und alles in Wasserdampf gehüllt hatte. Die vordere Stoßstange war jedoch nur noch ein Haufen verbogenes Blech. " Alles noch reparabel" stellte Vater später fest. Am Abend saßen wir zusammen auf der Veranda, als mein Blick am Stein hängen blieb. " Er steht schief" rief ich. Alle Augen richteten sich nun auf ihn. Tatsächlich das schwere Monster hatte sich ein paar Grad zur Seite geneigt. Zwar reichte das noch lange nicht um einen ungestörten Blick in die Bucht zu werfen, aber wenn Onkel Poul kam, konnte man ihm wenigstens beweisen das man es versucht hatte. Dann etwas später am Abend fing es an zu regnen, erst nieselte es ein wenig, dann schüttete es wie aus Eimern. Wir beschlossen an diesem Abend früh in Bett zu gehen. Irgendwann gegen morgen wurde ich von einem dumpfen Geräusch geweckt, dann polterte es noch eine ganze Weile und wurde dann von dem Schlagen der Brandung gegen die Felsen verschluckt. Am darauffolgenden Morgen war von dem Unwetter der Nacht nichts mehr zu entdecken. Da die Morgensonne als erstes in mein Zimmer schien wurde ich vor allen anderen geweckt. Ich beschloß der Familie eine Freude zu machen und auf der Veranda den Frühstückstisch zu decken. Nachdem Kaffe, frisch aufgebackene Brötchen den Frühstückstisch zierten lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück, um die Ruhe und den Blick auf das türkisfarbene Wasser in der Bucht zu genießen. Das türkisfarbene Wasser in der Bucht ? Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Der Stein war nicht mehr an seinem Platz ! Wie eine Sprungfeder schnellte ich aus meinem Stuhl hoch, und lief zu der Stelle an der gestern noch der Brocken gestanden hatte. Bis auf eine grubenartige Vertiefung im Boden war nichts mehr von ihm zu erkennen. Dann erst sah ich Spuren in dem aufgeweichten Boden die aussahen als wenn ein schwerer Gegenstand über ihn gerollt wäre. Den Rest konnte ich mir zusammenreimen. Unsere gestrige Aktion hatte wohl seinen Schwerpunkt verlagert. Dann war der Boden, auf dem das Gewicht des Steines ruhte, in der Nacht durch den Regen aufgeweicht worden ,daraufhin war er umgekippt, und auf dem abschüssigen Hang ins Rollen geraten. Ich verlor keine Sekunde und jagte zurück ins Haus um die freudige Nachricht zu verkünden. Nachdem mir kein Wort geglaubt wurde zerrte ich meine Schwester in ihrem Pyjama nach draußen. Durch den lautstarken Freudentanz angelockt erschienen dann meine Eltern. Ungläubig starrten sie auf die Stelle wo gestern noch der Stein gestanden hatte. " Wo ist er hin ?" fragte mein Vater nach dem er sich gefangen hatte. " Keine Ahnung " entgegnete ich schulterzuckend. Dann verfolgten wir anhand der Spur den Wege den der Stein genommen hatte. Wir fanden ihn vor der verfallen Hütte die unterhalb unseres Ferienhauses stand. er hatte sich eine Schneise durch das Gestrüpp, daß vor dem Haus wuchs gebahnt und sich in einer Felsspalte im Boden verklemmt. Erstaunlicher weise Stand er wieder aufrecht da, als wenn er schon seit Urzeiten nirgendwo anders gewesen wäre. Nachdem die Aufregung abgeebbt war, schauten wir uns noch ein wenig die Umgebung an. "Eine merkwürdige Hütte" meinte mein Vater. Scheint aber gelegentlich noch bewohnt zu werden. Dann ging er um das Haus herum, und kam bleich wie ein Blatt Papier zu uns zurück. Er faßte meine Mutter am Arm und zog sie ohne ein weiteres Wort hinter sich her und um die Hütte herum. Dann hörten wir nur noch einen spitzen Schrei. Wir Kinder schauten uns nur entgeistert an, und stürmten um das Haus herum. Meine Mutter stand weinend an einen Pfosten gelehnt, währen mein Vater sichtlich erschüttert auf den morschen Treppenstufen saß die zur Eingangstür hinaufführten. " Holt eure Sachen" meinte Vater. Wir verstanden immer noch nichts. "Wir sind ins falsche Haus gezogen !". Er deutete auf ein Namensschild an der Tür welches den Nachnamen meines Onkels Poul trug. Nun bekam alles einen Sinn, der Schlüssel der nicht ins Schlüsselloch paßte, und das hübsch eingerichtete Haus das nicht zu meinem Onkel paßte. Wie die begossenen Pudel zogen wir los und schafften all unser Hab und Gut in die Bruchbude die meinem Onkel gehörte. Allein zwei Tage brauchten wir um den Müll, der überall herumlag, zu beseitigen. Weitere zwei um einen halbwegs bewohnbaren Zustand zu erreichen. Dann sägten und schnitten wir Büsche und kleine Bäume ab die den Blick auf das Meer verhinderte. Eine Woche später kam Onkel Paul ( wie ihn jetzt auch meine Mutter nannte ) vorbei. Verwundert blieb er vor dem mannshohen Stein stehen der hinter seinem Haus stand. " Seltsam", meinte er, "der ist mir früher überhaupt nicht aufgefallen , er war wohl die ganzen Jahre vom Gestrüpp verdeckt gewesen". Wir haben ihn erst viel später über unser Abenteuer aufgeklärt, und erfahren das es sich bei dem Stein um einen echten Menhir gehandelt hatte, der in der Steinzeit von der Urbevölkerung aufgestellt worden war. Mein Onkel war nach unserer Abreise noch in einen Rechtsstreit mit dem Besitzer verwickelt worden, der behauptete das er den Stein absichtlich auf sein Grundstück verfrachtet hatte. Der Prozeß war Mangels an Beweisen eingestellt worden. Die weiteren Ferien, die ich mit meinen Eltern verbrachte, fuhren wir nach Holland an die See, da die größten Steine die wir in den Dünen fanden nur ein paar mm groß waren !"

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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