Der Tag, an dem die Kanzlerin zurücktrat

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„He, was macht denn der auf dem Friedhof … Und so wie er aussieht, ist es ein Gerichtsvollzieher!“ Lars hielt den Rettungswagen vor der Einfahrt zum halb abgebrochenen Osttor an, durch das eben ein älterer Mann herauskam. „Retten wir wenigstens ihn – viel zu gefährlich, da noch spazieren zu gehen, selbst am Tag.“

Wir waren umsonst in die Hegelstraße gefahren. Um die zwei Erstochenen in der Villa kümmerte sich jetzt die Polizei.

Der Alte kam, von Lars herbeigerufen, zum heruntergelassenen Wagenfenster. Er konnte um die siebzig sein, trug schäbig gewordene Bürokleidung, einen abgewetzten Hut und in der Hand eine schmale Aktentasche aus schwarzem Kunstleder. Er wollte wissen, warum der U-Bahneingang versperrt sei.

„Das wissen Sie nicht, dass die Strecke seit Monaten gesperrt ist, nach dem Anschlag? Der Ersatzbus fährt alle halbe Stunde gegenüber. Kommen Sie, Meister, steigen Sie ein, fahren Sie ein Stück mit, wenigstens aus der Zone B raus …“ Der Alte sah verständnislos drein. „Zone B? Was heißt das?“ Er stieg zu uns ein.

„Sie sind wohl nicht von hier?“ fragte ich ihn. - „Doch, bin seit zwanzig Jahren gemeldet, zahle Steuern, gehe immer zur Wahl …“ Er versuchte ein Lächeln, es misslang, wurde zur hilflosen Grimasse.

„Wer meldet sich denn heute noch an“, murmelte Lars. Er erklärte ihm nicht, dass wir nur noch in der relativ sicheren Zone A arbeiteten, die Zone B nur noch durchquerten und die C selbst mit dem Wagen mieden. Und der Friedhof war seit einem halben Jahr der schlimmsten Kategorie zugeordnet.

„Ich war eine Zeitlang in der Klinik, wurde heute entlassen …“ – „Luisenstift?“ hakte ich nach. Er nickte. Vorhin hatten wir von der Zentrale gehört, dass sie dort am Morgen diverse Abteilungen aus Kostengründen geschlossen hatten.

„Die leichteren Fälle sollten mit Bussen verlegt werden. Es kam aber keiner und es war keine Auskunft zu bekommen. Nach Stunden bin ich weggegangen. Ich wohne ja ganz in der Nähe – Gustav-Freytag-Weg.“ Lars und ich, wir sahen uns an: Dort war bei den Novemberunruhen fast alles verwüstet worden. Die meisten Häuser waren nur noch Brandruinen.

In diesem Augenblick eine Meldung aus der Zentrale: Schaltet mal euer Radio ein. Wir hörten dann mitten in eine Sondersendung hinein: „ … erklärte heute um 12.05 Uhr ihren Rücktritt. Anschließend fuhr die Kanzlerin von ihrem Amtssitz unmittelbar zum Flughafen. Die Regierungsmaschine steht schon startklar bereit für den Flug nach London.“

Unser Alter belebte sich: „Merkel ist zurückgetreten? Warum denn das?“

„Was denn, was denn, Merkel? Wer war denn noch mal Merkel? Nee, die jetzige heißt Hering-Läppert. Und dazwischen hatten wir noch einen anderen. Vergessen wir ihn, Schwamm drüber.“

„Meister, sagen Sie mal“, fing Lars wieder an, „welches Datum haben wir heute?“ – „Na ja, vielleicht Dienstag oder Mittwoch. In der Klinik ist ein Tag wie der andere.“ – „Nee, genaues Datum, wenigstens Monat und Jahr, meine ich.“ Es war Frühling, so viel stand fest, die Rosskastanien blühten wie immer um diese Zeit.

„Mai 2015?“ kam es fragend. Lars schüttelte den Kopf. Der Alte versuchte zu raten: „2016 natürlich … Doch nicht schon 2017?“

„Mein lieber Herr“, sagte ich nun, „es ist April 2018. Und Sie waren wohl seit Jahren nicht mehr draußen unterwegs. Sonst würden Sie Gegenden wie diese meiden. Wozu wollten Sie eigentlich als Erstes auf den Friedhof? Kein vernünftiger Mensch geht da noch hin.“

Sein Grab suchen. Er ist bald nach meiner Einlieferung gestorben, nur das haben sie mir gesagt … Aber es ist nicht mehr der Friedhof von früher, das habe ich schon bemerkt. Auf einem Teil stehen jetzt Wohnungen, falls man das so nennen kann.“

„Behelfsbauten für die, die seitdem gekommen sind“, schaltete Lars sich ein. „Und jede Nacht machen jetzt die Faschos Jagd auf die Midschis, quer über den Friedhof.“ – „Midschis?“ – „Ein Faschoausdruck für die Fremden – ich kann Ihnen jetzt nicht alles erklären. Auf jeden Fall lässt man sich auch am Tag da besser nicht blicken.“

Lars drehte das Radio lauter und wir hörten: „ … nach unbestätigten Meldungen hat Hering-Läppert von London aus einen Privatflug nach Neuseeland gebucht … Mit baldigen Neuwahlen ist zu rechnen.“ – „Ach, nicht schon wieder! Und dann mit noch weniger als neunzehn Prozent Wahlbeteiligung?“

Wie es bei uns weiterging? Da war eine Straßensperre mit Umleitung. Wir kamen durch sein Wohnviertel. Als er die Ruinen sah, wollte er nicht aussteigen. Er wollte stattdessen zurück zum Ostfriedhof, ließ sich mit keinem Argument davon abbringen. Und wir taten ihm schließlich den Gefallen und setzten ihn am Haupteingang ab. „Den sehen wir im Leben nicht wieder“, sagte Lars.
 

Wipfel

Mitglied
Ach Arno, ich schleiche die ganze Zeit schon um deine düstere Fiktion. Warum funzt sie nicht bei mir? Erinnert mich an die Sektoren in Berlin.
Ich hatte einen Schulkameraden, der hat nach seinem 3-jährigen NVA-Dienst später in Moskau studiert. So ein 100%iger. Der ist im Winter 1989/90 aus der Sowjetunion in die DDR zurückgekehrt. Und hat die Welt wirklich nicht verstanden - alles was er kannte, war anders. Plötzlich.

Am besten gefällt mir der letzte Satz:
„Den sehen wir im Leben nicht wieder“
Grüße von wipfel
 
Tja, Wipfel, so ein Ausflug in die Zukunft ist für mich ganz was Neues, bitte daher um Nachsicht, wenn etwelche Schwächen zu finden. Anlass der kleinen Phantasiereise war die Bemerkung eines jungen Möbelpackers, der uns im Oktober beim Umzug von Hamburg nach Berlin half. Er beklagte sich erst über den sehr engen Hamburger Wohnungsmarkt, kam dann - ohne von mir ermuntert worden zu sein - auf die jetzige ... ähem ... Situation zu sprechen und sagte: "In Zukunft wird es bei uns Bürgerkriege geben." Das ging mir seitdem nicht aus dem Kopf.

Danke für deine Notiznahme und mitgeteilte Assoziation.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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