Der Tag der Wunder

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sohalt

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„Und dann fang ich sie und sammle sie, bis ich ganz viele habe,“ erklärt Biene. „So viele! Mindestens!“ Sie streckt die Arme aus, um zu zeigen, wie viele. „Wenn ich genug hab, dass sie mich tragen, dann geb ich sie in einen Sack. An dem halt ich mich fest und fliege zu den Kängurus. Oder zum Mond.“
Seifenblasen fliegen, ein Sack mit Seifenblasen erst recht und wenn Biene dran hängt, fliegt sie mit. Sehr logisch. Selbst Sybille muss das doch einsehn.
„Genialer Plan“ sagt die ohne aufzuschauen. Sie breitete gerade die karierte Decke unter dem Ahorn aus. „Viel Erfolg.“
Biene findet nicht, dass sie die Kühnheit des Unterfangen ausreichend würdigt. Sie ist schlau. Wenn jemand etwas nicht so meint, wie er es sagt, merkt sie das sofort.
„Du musst mir aber helfen, ja? Du musst den Sack halten, wenn er voll ist, damit er nicht davon fliegt, wenn ich ihn zubinden will.“
„Mach ich.“
„Gut. Ich fang dann mal an.“
„Tu das.“ Sybille hat sich auf der Decke niedergelassen und lehnt sich zurück. „Lauf mir halt nicht davon!“
Jetzt ist Biene beleidigt. „Du bist aber blöd“ Sie stemmt die Arme in die Hüften und guckt vorwurfsvoll. „Ich muss gar nicht laufen, ich fliege. Das hab ich dir grade erklärt.“
„Ist ja gut. Flieg mir halt nicht davon.“
Sybille überlässt Biene ihrem ehrgeizigen Projekt, schließt die Augen und atmet tief ein: das Geschrei und Gelächter der Kinder, das bedächtigen Brummen der schachspielenden Pensionisten, das betulich betriebsame Geschnatter der alten Damen auf den Bänken, den Geruch von frischgemähten Gras und die Verheißung von trägen Tagen und Nächten im Freien. Dass man leben kann im Winter! Und dass jemand, dass etwas, sich jedes Jahr wieder die Mühe macht, es Sommer werden zu lassen, wie seltsam. All die Schönheit dieser Stunde – wozu? Wen soll das täuschen?

Niemand kann sich entziehn.

Die Sonne ist stark, sie dringt selbst durch die Lider. Bevor Sybille die Augen schloß, war alles voll Sonne. Sonnendurchflutet, hätte sie gesagt, aber es stimmt nicht. Durchfluten, das ist das Eindringen eines fremden Elements. Aber im Gegenteil! Alles wirkt heute, als wäre die Sonne schon immer dabei gewesen, bei Erschaffung eingearbeitet in die Substanz. Sie sucht ein anderes Wort. Vielleicht sonnendurchwoben?

Sie öffnet die Augen und sieht: Ihn. Und sie schließt sie sofort wieder, gar nicht absichtlich, aber es war zu plötzlich, sie ahnte nichts und plötzlich er im gleißenden Sonnenschein, direkt unwirklich!

Als sie noch einmal schaut, ist er immer noch da. Er rennt. Durch das T-Shirt sieht man die Andeutung von Muskeln. Seine Freunde sind auch da. Sie kicken.

Die Sonne liebt sein Haar. Sie nistet in seinem Blond. Wäre Sybille die Sonne, sie täte dasselbe. Am meisten mag sie aber sein Kinn und seinen Nacken. Kein Unterwäsche-Model der Welt könnte ihr je gefallen, die haben Köpfe wie Kästen, aber sein Kinn ist spitz und sein Nacken! Sein Nacken ist Architektur. Nicht plump-massiv, nicht zart. Perfekt. Aus der Entfernung kann sie das natürlich nicht sehen, aber sie saß mal im Bus hinter ihm, seither ist sie verrückt nach Nacken. Er war schon lang nicht mehr im Bus, wahrscheinlich fährt er jetzt mit dem Moped. Ihn heute im Park zu sehn!

Was kann man anders als Versinken in der Schönheit?

Viel, wahrscheinlich, aber Biene hat es noch nicht gelernt. Dass etwas so bunt sein kann und gleichzeitig durchsichtig! Sie wollte ja zum Mond fliegen und zu den Kängurus, aber die hat sie ganz vergessen neben den Seifenblasen. Zum Glück weiß Biene, was sie will. Die Seifenblasen! Gar nicht mehr so sehr zum Fliegen, einfach so. Und sie wird sie auch kriegen. Mittlerweile hat sie nämlich herausgefunden, wie man möglichst große bekommt, jetzt zahlt es sich erst aus, sie zu fangen. Aber das ist gar nicht so leicht. Die fliegen davon, hast-du-nicht-gesehn, und Biene muss ordentlich hüpfen, um sie noch zu erreichen, und wenn sie sie erreicht, dann zerplatzen sie. Sie ist jetzt ganz außer Atem, aber es wird schon.

Sitzenbleiben wäre zu bequem.

Heute ist der Tag der Wunder. Drüben haben sie den Ball verschossen und er landete direkt vor Sybilles Füßen. Gut, direkt ist vielleicht übertrieben, drei, vier Schritte müsste sie schon gehen. Sie könnte ihn aufheben und zurücktragen.
„Ist das eurer?“
„Ja, danke! Nett von dir.“ Natürlich wäre er es, der das sagen würde. Die anderen würden einfach den Ball nehmen und sich nicht weiter um sie kümmern, aber er wäre ritterlich.
„Du hast doch eine kleinere Schwester, oder? Die Birgit? Ich bin nämlich die Sybille aus der Paralellklasse, die Birgit und ich, wir haben gemeinsam Turnen.“
Vielleicht würde er sagen, dass er ihren Namen schön fände. Der Name ist nämlich das Schönste an ihr, glaubt sie. Sybille, wie die Sibyllen, die weissagenden Frauen in der Antike. Er wüßte das sicher.
Vielleicht sagt er sogar seinen eigenen Namen. Das wäre viel. Seinen Namen zu wissen! Seinen Namen, um ihn in Tischplatten zu ritzen, und in Herzchen zu malen und das Orakel zu befragen, bei dem man den Buchstaben Zahlen zuweist und die Liebe und die Treue und die Leidenschaft in Prozent berechnet. Seinen Namen, um ihn als Endlosschleife im Kopf laufen zu lassen. Seine Silben, um sie auf jede denkbare Melodie zu singen.
Birgit kann man unmöglich fragen.
Es ist egal. Sybille wird es nächstens aus seinem eigenen Mund hören. Sie wird ihm den Ball bringen.

Neben ihr springt Biene nach den Seifenblasen. Gleich hat sie sie. Muss sie auch, bald ist die Lauge verbraucht.

Jetzt oder nie.

Drüben brauchen sie den Ball. Ausgerechnet er – heute ist der Tag der Wunder – trabt los um ihn zu holen. Sybille wird ihm entgegengehen. Sie wird natürlich stottern und rot werden. Er wird sie nicht auslachen. Er wird auch nicht sagen „Was grinst du so dämmlich?“ Denn das wird sie. Die Augen geweitet, den Mund leicht geöffnet, selig die Armen im Geiste.

Genau wie an dem Tag, als sie ihm beim Einkaufen über den Weg lief. Vorher war alles mies gewesen, allein die Demütigung, immer noch mit der Mutter gehen zu müssen, mit einer Mutter, die als Kind nicht genug mit Puppen gespielt hat und noch dazu diese Phantasiefiguren der Schaufensterpuppen und all die Mädchen mit den Phantasiefiguren und sowieso ist Sybille nach dem Kleiderkauf immer in Weltzerstörungslaune – aber dann plötzlich: er auf der anderen Straßenseite. Da konnte sie einfach nicht anders, sie musste ihn anlächeln. Ihr Lächeln war gänzlich unangemessen. Von einem Ohr zum anderen wäre untertrieben. Und das Schlimmste war: Sie brachte es den ganzen Tag nicht mehr weg.

Das ist es wieder, das Lächeln. Sie spürt es schon. Es ist fast wie mit der Sonne, nur umgekehrt: vom Lächeln durchflutet, nicht durchwoben. Wie lang wird es heute bleiben?

Es ist egal. Er wird zurücklächeln. Sie wird ihm den Ball bringen. Drei Schritte. Da kommt er ja schon. Sie möchte den Blick gar nicht abwenden, aber sie muss, um den Ball zu suchen. Es ist egal. Sie wird ihn nicht mehr finden, denn ihr Blick bleibt hängen.

Biene sitzt da, ganz ruhig und schaut den Seifenblasen nach. Andächtig. Heiter. Wie ein kleiner Buddha.

„Du fängst sie ja gar nicht mehr,“ stellt Sybille fest.
„Sie halten dann länger,“ erklärt Biene.

Auch wieder wahr.
 

PeDSch

Mitglied
Mutter-Tochter oder Schwestern oder was?

Hallo sohalt!

Nachdem ich dann gegen Ende für mich beschlossen habe, dass es sich um Geschwister handeln muss, habe ich die Geschichte noch einmal gelesen. Und, ehrlich gesagt, es ist eigentlich egal, in elcher Beziehung die beiden Protagonisten zueinander stehen. Du hast ganz einfach eine zauberhafte Geschichte erzählt, in der ich mich wiedergefunden habe. Wenn man verliebt ist, ist man (frau) immer wieder 12 oder 13.
Aber am allermeisten hat mich der letzte Abschnitt bewegt, weil er so einfach und so wahr ist. >> Du fängst sie ja gar nicht mehr,“ stellt Sybille fest.
„Sie halten dann länger,“ erklärt Biene.<<

Danke! Und mehr davon!
:)
 



 
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