Der Tag des Kranichs

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Bo-ehd

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Der Tag des Kranichs



Ich hasse diese Testessen. Genauso wie Gourmet-Wettstreite, Fressmessen, Feinschmecker-Events und Kochwettbewerbe für Vegetarier und Veganer. Aber ich muss da hin, weil ich von Berufs wegen Testesser bin und Redakteur obendrein, der seine Erfahrungen dann im Magazin Cuisine Vivante veröffentlichen darf. Davon lebe ich seit Jahren, und beruflich gibt es kaum ein Zurück. Und so sitze ich hier im Hilton von Dubai, bin offizieller Teilnehmer einer solchen Veranstaltung und langweile mich fast zu Tode.

Heute steht japanische Kost auf dem Programm, und ich will nicht ohne Grund ein Alltagsgericht versuchen: Teriyaki, marinierte Hähnchenschenkel mit Brokkoligemüse. Dieses Gericht gibt es in Japan in der Bauernvariante, bürgerlich und im Stile der Haute Cuisine. Mir ist es egal, für welche Variante sich die Küche heute entscheidet, ich will nur, dass sie das, was sie machen, ordentlich hinbekommen und perfekt abschmecken. Das sind meine Kriterien für die Bewertung. Ich brauche keine Kunstwerke auf dem Teller mit viel Freiräumen und Übersichtlichkeit, sondern echte Küche, bei der das Personal die feinsten Geschmacksnuancen erkennt und bewahrt. Und alles möglichst ohne Chemie.

Eine junges Mädchen, schwarz gekleidet mit weißem Schürzchen, bringt mir die Karte und fragt nach einem Aperitif. Ich lehne dankend ab und beachte es kaum. Als ich aber wenige Augenblicke später die Karte zuklappe, kommt eine großgewachsene junge Frau an meinen Tisch. Und hier beginnt meine Geschichte:

Sie steht vor mir, und ich erschrecke vor ihrer Schönheit. Mit ihren geschätzten gut einmetersiebzig überragt sie das gesamte übrige Personal. Alle Serviererinnen, die Damen hinter dem Tresen, den Geschäftsführer, der jeden Handgriff überwacht – alle sind mindestens einen Kopf kleiner. Als ich in ihr Gesicht schaue, erkenne ich sofort den europäischen Einfluss. Er könnte skandinavisch sein, oder deutsch, oder ost … ist auch egal. Ihre Mandelaugen versprühen jedenfalls japanischen Flair, einen Anteil von Fernost von vielleicht einem Viertel. Sie wirkt fast wie ein Fremdkörper in dieser rein fernöstlichen Umgebung.

Mir fällt viel mehr auf: die ausgeprägten Jochbeine, der vergleichsweise kleine Mund, die zarten Hände. Mein Blick gleitet unauffällig über ihren gesamten Körper, über ihre Brüste, ihre Taille und ihre Schenkel, die sich unter ihrem schwarzen Röckchen abzeichnen. Großgütiger, wann hatte ich zum letzten Mal eine Frau so angesehen, angehimmelt, bewundert, ja, mit Blicken verzehrt.

Sie fragt in akzentfreiem Englisch, ob ich mich schon entschieden hätte. Ja, hatte ich. Stand ja schon von vornherein fest.

„Jaaa“, begann ich langgezogen, als wäre mir die Entscheidung schwergefallen, „dann hätte ich gern das Teriyaki.“

„Sehr gern, Sir. Danke. Wie dürfen wir es für Sie zubereiten?“ Sie klärt mich auf und verweist auf die markanten Unterschiede bei der Zubereitung.

„Wie ist es in Ihrem Land am beliebtesten?“, will ich wissen.

„Die meisten Japaner bevorzugen es --“ Sie erklärt, und schon verliebe ich mich in ihre Stimme. Ich spüre, wie gern sie sich mit mir unterhält, aber sie beginnt immer öfter in Richtung des Geschäftsführers zu blicken. Offensichtlich ist es ihr untersagt, sich ausgiebig mit Gästen zu unterhalten.

Nach zwölf Minuten – ich notiere die Zeit, weil sie in meinem Bericht erwähnt werden muss – kommt die Schönheit erneut an meinen Tisch und trägt auf. Ich berühre dabei ihre Hand, nur ganz leicht und zufällig, und empfinde den sanften Kontakt wie eine Liebkosung. Sie schaut mich an und ich sehe zu ihr auf. Unsere Blicke treffen sich. Ich spüre, dass sie mir etwas sagen will, sehe, wie sich ihre Lippen einen winzigen Spalt öffnen, aber sie bringt kein Wort hervor. Kein einziges.

Ich komme mir vor wie in einem Traum. Nun sprich sie doch endlich an, du Trottel!, schimpfe ich in Gedanken über mich selbst. Als sie alles abgestellt hat, dreht sie sich um und verlässt meinen Tisch. Ich sehe ihr nach, bewundere ihren Gang, die großen Schritte. Kein geisha-artiges Tippeln, sondern große Schritte, soweit die enge Kleidung sie zulässt.

Was zum Teufel ist denn noch normal an dieser Frau, frage ich mich. Was hat diese Göttin hier in diesem Edelrestaurant zu suchen, und warum begegne ich ihr ausgerechnet hier? Gibt es diese klischeehafte Fügung tatsächlich, nach der Paare auf einer Art Schicksalsschiene unweigerlich zusammengeführt werden?

Ich bin verliebt, ganz ohne Zweifel. Mit zweiundvierzig Jahren erliege ich einer Liebe auf den ersten Blick. Wieder so ein Klischee! Aber auch Realität. Ich werde sie ansprechen und sie um ein Date bitten, schwöre ich mir. Ich werde ihr klarmachen, dass ich sie wiedersehen muss, muss, muss. Die Verabredung muss jetzt sein; für morgen bin ich in einen anderen Fresstempel geladen. Nicht dass ich sie noch aus den Augen verliere!

Ich stopfe auf schamhafte Weise mein Teriyaki in mich hinein. Früher hätte ich streng darauf geachtet, dass der Knoblauch nicht dominiert und der Reiswein für die Sauce nicht überzuckert ist, die Chiliflocken die Marinade nicht überbetonen und der Kohlgeschmack des Brokkoli von den Frühlingszwiebeln getragen und nicht übertönt wird. Ja, das hätte ich früher getan. Heute hingegen gilt meine Aufmerksamkeit weder den geschälten Sesamkörnern noch der knusprigen Haut der Hähnchenschenkel. Meine Gedanken sind nur bei ihr, liefern mir Bilder, wie ich dieses reizende Mädchen in den Arm nehme und an mich drücke. Ich bin vernarrt in sie, benommen von der Aussicht, sie für mich zu haben, sie ständig bei mir zu haben.

Als ich mit dem Essen fertig bin, schickt der Geschäftsführer das junge Mädchen, das mir zuvor die Karte gebracht hat, zum Abtragen. Ich schaue mich um und wäre fast verzweifelt. Wo war sie denn nur? In welcher Ecke dieses verdammten Hotels bediente sie denn jetzt? Warum kann ich sie denn nicht wenigstens in anderen Räumen ausmachen?

Die kleine Japanerin fragt, ob ich einen Nachtisch wünsche. Natürlich will ich keinen Nachtisch. Ich will sie! Sie, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht und deren Namen ich nicht einmal kenne. Wieder schaue ich mich um und wieder sehe ich sie nicht. Um einen Grund zu haben sitzenzubleiben, bestelle ich einen Kaffee.

Sollte ich nicht doch den Geschäftsführer fragen? Karten auf den Tisch! Er kann doch nicht so unhöflich sein und mir diese Auskunft verweigern. Ich greife an die Lehne meines Stuhls und will aufstehen, als der Kaffee kommt. Und da ist sie wieder und steht neben mir. Wie in Zeitlupe stellt sie das Tablett mit dem Kaffee ab. Ich rieche ihr Parfum und beginne schon wieder zu träumen, aber irgendetwas rüttelte mich wach.

„Darf ich fragen, wie Sie heißen?“, starte ich ohne Umschweife meinen bescheidenen Angriff.

„Es ist uns nicht erlaubt ...“

„Bitte!“

Sie reagiert nicht auf mein Betteln und zeigt, fast ein wenig verstohlen, auf den aus cremefarbenem Papier gefalteten Kranich neben der Kaffeetasse. Dann haucht sie „Shiori“, dreht sich um und geht. Aus den Augenwinkeln beobachte ich den Geschäftsführer, der mit Argusaugen jede ihrer Bewegungen verfolgt. Ich trinke meinen Kaffee, ohne den wunderschönen Papiervogel auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Origami – klar, die Japaner verstehen sich darauf wie kein anderes Volk. Wie gelungen die Proportionen sind, wie symmetrisch die Faltung und anmutig die Haltung. Das gute Stück besteht aus mindestens hundert Falzen und Knicken, mutmaße ich. Welch ein Kunstwerk! Und sie, dieses göttliche Wesen hat es mir …

Ich stutze. Keiner der anderen Gäste hat so etwas bekommen. Warum ich? Warum von ihr?

Als ein paar Gäste sich im Eingang tummeln, verlasse ich unbeobachtet den Raum mit meinem weißen Vogel in der Hand. Im Fahrstuhl krame ich in meinem Gedächtnis nach. Kraniche und Japan – das enthält eine Symbolik, die jeder Japaner mit der Muttermilch einsaugt. Der Vogel steht für höchstes Glück und Langlebigkeit. Ja, höchstes Glück, ist das nicht vor allem die Liebe?

Ich stelle das Tier auf mein Nachttischschränkchen, bewundere es minutenlang, frage mich, was dahinterstecken könnte, dass sie es ausgerechnet mir geschenkt hat, starre an die Decke, wieder auf den Kranich, schließe die Augen, tagträume von ihr und versuche, einen Weg auszudenken, wie ich mit ihr ins Gespräch kommen könnte, ohne diesen Aufpasser am Bein zu haben. Aber ich finde ihn nicht. Zu groß ist dieses Hotel und eine planlose Suche deshalb hoffnungslos. Wer weiß, zu wem sie gehört und an wen sie gebunden ist? Hat sie Verpflichtungen? Wer könnte mir Auskunft darüber geben?

Verdammt, ich weiß ja nicht einmal ihren Namen. Gewiss, sie hat ihn mir zugeflüstert, jedenfalls klang das, was sie sagte, wie ein Name. Aber wer kann sich schon einen japanischen Mädchennamen merken, der verstohlen über den Tisch gehaucht wird? Ich raufe mir die Haare, schaue mir wieder den gefalteten Vogel an, richte in meiner Verzweiflung allerlei dumme Fragen an die papierne Schönheit und gebe ergebnislos auf.

Ich drehe den Vogel in einen anderen Winkel und starre ihn erneut an. Minutenlang. Dann gehe ich an die Hausbar, genehmige mir ein Wasserglas voll Bourbon und schlafe ein.

Mein Rausch versenkt mich in einen Tiefschlaf bis weit in den nächsten Vormittag. Als ich aufwache, fällt mein Blick zuerst auf den Kranich. Ich nehme ihn in die Hand, drehe ihn nach allen Seiten und versuche mit ihm zu reden. „Alter Freund“, flüstere ich vor mich hin, „du bist kein Glücksvogel, du bist ein Unglücksvogel. Warum hast du mich nicht mit ihr zusammengebracht?“ Ich werfe ihn in die Luft und freue mich über die Bruchlandung, die er auf meinem Bett macht. Er landet auf dem Rücken und zeigt mir seinen Bauch. Erhellt vom Licht der noch tief stehenden Sonne erkenne ich einen Schriftzug im Innern des Vogels. Jemand hat etwas auf das Papier geschrieben und es dann so gefaltet, dass sich das Geschriebene auf der Innenseite befindet. War sie es vielleicht? Ich entschließe mich, den Unglücksvogel zu zerlegen. Doch als ich den Falz suche, mit dem ich beginnen müsste, um ihn unbeschädigt zu entfalten, stehe ich da wie der berühmte Ochse vor dem Tor.

Soll ich dieses Wunderwerk von einem Vogel wirklich zerstören?, frage ich mich. Darf ich das einzige, was ich von ihr besitze, für meine Neugier opfern? Darf man etwas, das Glück verheißt, überhaupt demontieren, zerlegen, zerreißen oder vernichten? Wäre das nicht eine unverzeihliche Entwürdigung eines symbolischen Werkes, das ein anderer Mensch für mich liebevoll gefertigt hat?

Ich trage diese Zweifel zwei volle Tage mit mir herum und kann mich nicht entscheiden, den Vogel zu opfern, um die Nachricht darin zu erfahren. Und wenn es gar keine Nachricht ist, sondern irgendein Gekritzel ohne Bedeutung? Dann wäre der Vogel geopfert wie auch das kleine Kunstwerk aus der Hand derjenigen, der ich ohne Wenn und Aber verfallen bin. Zwei volle Tage lang schaffe ich es nicht, dafür eine Antwort zu finden.

Dann setze ich alles auf die eine Karte, die mich zu ihr führen könnte. Die Schrift muss doch eine Bedeutung haben, und wurde sie vielleicht sogar mit Absicht dort an einer Bauchseite ohne Falz platziert, damit ich sie erkenne?

Ich halte es nicht mehr aus, greife mit Unbehagen nach dem Vogel, reiße ihm ungeduldig einen Flügel aus, um an das Stück Papier zu gelangen, das seine Bauchseite formt. Dann endlich kann ich das Geheimnis lüften und die Botschaft lesen:



629 Shiori



629! Das ist dieselbe Etage, auf der ich wohne. Sechster Stock, Zimmer 29, nur zehn Zimmer von mir entfernt. Ich eile den Flur entlang, klopfe nervös und voller Erwartung an der Tür, aber niemand öffnet. Sofort entscheide ich, die Rezeption aufzusuchen.

„Zimmer 629, sagen Sie? Das hatte das Team von Osaka Quisine angemietet. Wir haben keine Namen von den einzelnen Mitarbeitern, aber die sind heute früh sowieso alle abgereist. Nach Singapur oder so, ich weiß nicht.“
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Bo-ehd,

das ist eine tolle Geschichte mit schöner Pointe! Das hat der Protagonist von seinen Zweifeln.

Sehr einfallsreicher Anfang :).

Eine Kleinigkeit gibt es zu beanstanden:

Erhellt vom Licht der noch tief stehenden Sonne erkenne ich einen Schriftzug 'im Innern des Vogels'.
Hier kommt kein Apostroph hin.

LG SilberneDelfine
 

Bo-ehd

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Hallo Silberne Delfine,
danke für den Hinweis. Du hast sehr aufmerksam gelesen. Die meisten Leser sehen solche Fehler am Schluss einer Geschichte nicht. Und auch mir hat wohl die nötige Aufmerksamkeit beim Korrekturlesen gefehlt. Wird korrigiert.
LG Bo-ehd
 
Hallo Bo-ehd,

diese Antwort zeugt aber von großer Bescheidenheit :) Du bist nur auf den kleinen Fehler eingegangen, den ich beanstandet habe, aber nicht darauf, dass ich die Geschichte super fand und sie mit der besten Sternzahl bewertet habe.
Finde ich lustig.

LG SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:

Bo-ehd

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Hallo Delfine,
das war wirklich sehr stoffelig von mir. Jeder Autor sollte sich freuen und dankbar sein, dass sich ein anderer zu lesen und zu verstehen bemüht und eine Bewertung abgibt. Wir alle sind schließlich davon abhängig. Deshalb nimm bitte meinen herzlichen Dank im Nachhinein an. Ich bin ziemlich neu hier, etwas älter als ihr alle, absolut computer-un-affin und habe am anfangs gar nicht gewusst, dass die Bewertung von dir stammt.
Ich hoffe, ich kann dir in den nächsten Tagen wieder eine Lesefreude machen.
Gruß Bo-ehd
 
. Deshalb nimm bitte meinen herzlichen Dank im Nachhinein an.
Gerne :) Übrigens, die Namen der Bewerter stehen im Kästchen „Bewertungen" über dem Text neben den Sternen, die diese vergeben haben. Wenige bewerten noch anonym, kann man aber auch machen.

Als ich hier neu war, habe ich das mit den Bewertungen auch nicht direkt verstanden.
 



 
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