Der Taubenmann

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Das Altenheim, in das man ihn
verfrachtet hat,
heißt irgendwas auf Englisch
Der Slogan, rosenrot auf einem
dunkelbraunen

Blatt

Der Pfleger Namenschilder
rotstichig.-

-,Oder die Augen, die er rot und
wund gerieben hat,

sehen durch Blut

Die Farbe der Verfemten

Wer weiß es schon
Wen interessierts
Und wenn es einmal arg pressiert
dort hinten
oder unten in dem vollen Dom,
holt man den Pfaffen
zu der übervollen Obstipation

Ihm, dem
man nicht einmal ein
Namensschild mit in den Speisesaal gegeben hat,
sein Fremd-Sein vorzuhalten,
das sich nicht lösen will
Wie Scheiße in den Därmen in dem vollgestopften

Dom

Und All der Lebenslohn,
in den einer sich eingeschissen hat
in Gottes Namen,
kann sich so unversehns verhärten,
wie die Herzen
all der scheinerweichten Gläubigen auch
wahre Mördergruben
sind

Und mittlerweile gleitet
er ganz still und für sein Alter zu geschwind
über die Flure
Verflucht die alte Hure
Die umgestürzte Zeit
Er war einmal bereit,
ihr ihre Lügenfresse
einzuschlagen

Was immer auch die Kinder sagen,
die ihn hier abgeliefert und zum Sterben hier
zurückgelassen haben,
hinter seinem umgestürzten Rücken
Ob sie sich nach dem Rot in seinem umgestürzten Namen bücken,
oder die Lügen in dem Testamententwurfe
rügen

Es bleibt doch eines wahr:
Der Park ist bis auf graue Tauben leer
Und ohne Namenschild fällt Jedem wohl das Namenmerken schwer

Sie kommen ihn besuchen, all die Grauen
Manchmal träumt er von den Frauen
Ein Tagtraum. Auf der Parkbank schauen
ihn all die grauen Tauben mit ihren treuen Kreiselaugen an
Die Treue gilt dem Krumenmann, der nichts ist ohne seine Krumen
Und nur auf Krumen kommt es selbst den treusten Tauben an
Sie kommen ihm die übervollen Augen
auszurauben

Manchmal kommt wegen der schönen Blumen eine von den jungen
Frauen aus der Stadt mit einem Kinderwagen an.
Sie schaut ihn, wie er all die Tauben füttert, böse an
und droht ihm, der doch nichts als seine Krumen mehr noch hat,
und flüstert:

Wehe dir du Taubenmann
Du bist die allerschlimmste Krähe
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 24675

Gast
Hi Dio,

für mein Empfinden ist es für ein Stück Lyrik viel zu lang. Es wirkt auf mich wie Prosa mit Zeilensprüngen – und gelegentlichen Reimen, die allenfalls beim Bühnenvortrag zur Wirkung kommen können. Mit einem Wort: streichen. Auch deshalb, weil das Thema angesagt ist und viele Wendungen bereits verbraucht sind. Wenn ich die Figur des Taubenmanns richtig interpretiere, denkst du ihn dir als einen, der in seinen letzten Augenblicken aufbegehrt, wütend ist bis hin zur Rebellion, die er nicht mehr anzetteln und durchhalten kann. Die Aussage der Schlusszeilen verpufft so. Du willst die junge Frau sinngemäß sagen lassen: Alter, du störst in deinem Verfall das Leben! – Gib ihr mehr Text, lass einen fiktiven Dialog entstehen und streiche oben herum eine Menge weg oder verdichte.

Nichts für ungut.
Gruß lP
 

sufnus

Mitglied
Hi Dio (& hi lP) :)

Also dieses Gedicht ist nich so wirklich leichte Kost, das macht sein desillusinierter Gestus, der sezierende Blick auf das physische Elend des Protagonisten und auch, lP hat daraus einen Punkt gemacht, seine Dio-typische Langbögigkeit (ich denke dabei eher an lang ausgreifende Brückenbögen als an die angelsächsische Distanzwaffe, denn die Zeilen zeichnen sich durch ihre Weiträumigkeit aus und weniger durch besondere "Zielstrebigkeit").
Also: Ein relativ langes Gedicht (ein wirkliches Langgedicht gleichwohl dann doch nicht). Auf alle Fälle ist der Text aber deutlich länger als dies nötig wäre, wenn man textökonomische Maßstäbe anlegen wollte. Das willst Du, lieber Dio, aber ausdrücklich nicht - wir hatten diesen Punkt ja schon ein paar mal angerissen.
Ich denke, die etwas üppigere Dimensionierung ist eben einfach Teil Deiner Poetologie (aktuell zumindest) und auch wenn ich lP in dem Punkt durchaus verstehe und es selbst auch etwas prägnanter hielte, gibt es hier am Ende des Tages wohl keinen wirklich objektives Richtig oder Falsch.
Wo ich lP ausrücklich widersprechen würde, wäre die Diagnose, es handele sich hier eher um Prosa mit Zeilenumbruch. Für mich ist der Text aufgrund seiner starken (das ist sogar untertrieben) Bildsprache, seiner sehr subjektiven Färbung, seiner inhaltichen Offenheit und Mehrdeutigkeit, seiner, wenn auch nicht unbedingt Melodie-bezogenen, Musikalität und - das wäre mir hier bei der Klassifizierung am wichtigsten - aufgrund seines starken Fokus auf das Thema der "Schönheit" (wenn auch in Form der Scheiße ex negativo) unbedingt ein lyrischer Text.
Was mir sonst beim Lesen aufgefallen ist, dass der Text mich zwischenzeitlich immer wieder verloren und zurückgewonnen hat: Bei einigen Kraftmeiereien und ein paar etwas tappsig wirkenden In-Szene-Setzungen bin ich etwas in Distanzhaltung gegangen und bei einigen sehr innigen und kraftvollen Wendungen wieder zurück geswitcht (insgesamt ist es, wie ich finde, eher ein athletischer als ein filigraner Text).
Und für den Summasummarumeffekt ist ja häufig die letzte Kameraeinstellung nochmal ganz wichtig und da hilft es sicherlich, dass dieses Gedicht mit einer wirklich bezwingend eindrücklichen Wendung schließt. Großes Kino also. Soweit als ich bin betroffen. :)
LG!
S.
 
Hi
@lyrikPower und @sufnus

ich möchte mich herzlich bei euch für die profunde Auseinandersetzung mit dem Text bedanken! Es ist eine Freude, eure Kommentare zu studieren und ich bin naturgemäß damit noch nicht fertig. Sie wirken wie immer nach und haben viele Facetten.

1. Zu der Kritik von @lyrikPower

Ich halte den Text für Lyrik und ich möchte gerne erklären, warum das so ist: Zum einen sind Struktur und Format des Textes untypisch für Prosa, die in vollständigen Absätzen und Sätzen geschrieben wird, während hier schon vom Äußerlichen deutliche Abgrenzungen in Strophen und Versen zu finden sind, zum andern ist Lyrik häufig von Metaphern, Gleichnissen und bildlicher Sprache gefüllt, während Prosa doch deutlich näher an ausformulierten Gedankengängen orientiert ist.

Es gibt auch in meinem Text einen für Lyrik typischen Rythmus und Klang, der im lauten Vortrag verschiedene Betonungen zulässt, die den verschiedenen Aspekten des Gedichtes unterschiedliche Tiefe und Bedeutung verleihen, mit anderen Worten eine für Poesie typische "Ästhetik des Sangs".

Endlich spricht auch die emotionale Intensität in meiner Wahrnehmung deutlich mehr für Lyrik, als für Prosa.

Die Länge eines Werkes ist sicher kein Diskriminierungskriterium für oder gegen Lyrik: Denke bitte an die göttliche Komödie, an Paradise Lost, Song of Myself, Beowulf oder die Cantos von Pound.

Deine Interpretation des Taubenmannes und der Frau lasse ich gerne so stehen. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass Du diesen Blickwinkel mit mir teilst, weil er meine SIcht auf den Text von der Bedeutungsentstehung im Leser her sehr bereichert.

Ich selber wollte das "Mitgefühl" lyrisch beleuchten und es abgrenzen zu seinen egoistischen Anteilen und Vorurteilen. Der Taubenmann ist in Wirklichkeit "die schlimmste Krähe". Das, was wir häufig für die Heilung halten, ist das wahre Gift und umgekehrt. Insofern geht es auch ein bisschen um spirituelle Verstopfung In einem Spiel von Paradigmenbrüchen ging es mir auf einer zweiten Ebene auch um den 36. Spruch des Tao Te King, eingetaucht in ein Einzelschicksal, das gleichzeitig "uns alle angeht". Dafür hielt ich die Form eines Gesangs am Geeignesten.

Das Thema und manche Bilder darin mögen abgestanden wirken.

2. Zur Kritik von @sufnus

ich finde Deine Ausführungen (nicht wegen seiner Zustimmung) sondern der gründlich belasteten Argumentation zutreffend. Mit den von Dir benannten Unterscheidungskriterien zwischen Lyrik und Prosa und der Anwendung auf den Text bringst Du für mich das Wesentliche einfach sehr gut auf den Punkt, so dass ich es nicht wiederholen möchte. Es wäre indes Schade, wenn die Zeilen nach dem zehnten Lesen noch immer als nicht zielstrebig aufgefasst werden würden. Allerdings muss man dem Unbewussten häufig etwas Zeit lassen, damit es produktiv mitreden kann, bei der Langzeitwirkung von Langgedichten.

Ich bedanke mich, dass Du die "Achterbahnfahrt" durchgehalten hast und freue mich, dass der Text Dich am Ende nicht verloren hat. Das ist einfach sehr schön.

Merci !

mes compliments

Dio
 



 
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