“Der Teufel schläft nicht”

GerRey

Mitglied
(Erstfassung)


“Der Teufel schläft nicht”, war eines meiner beliebtesten Sprichwörter. War ich deshalb ein vorsichtiger Mensch? Ich konnte es nicht sagen, denn eigentlich war ich sehr leichtsinnig - ja, verspürte nachgerade Lust dazu! Und die Geschichte vom Kegelbruder, der mit dem Tod um seine Seele kegelte, war mir aus frühester Kindheit in Erinnerung geblieben. Manchmal malte ich mir aus, wie “der Fürst der Hölle” sich die Kegel aufstellte, um zu trainieren, wie man sie mit einem Wurf umwerfen konnte. Im Lauf der Jahre kam ich dahinter, dass er mit Absicht immer einen Kegel stehen ließ - der zwar schwankte, aber nicht gleich fiel. Und in dem Moment, an dem ich mich über sein Missgeschick zu freuen begann - er alle Hoffnung zunichte machte und den noch stehenden Kegel dann doch umfallen ließ.

“So war er, der Herr Teufel”, dachte ich, als ich an einer langen Verbindungsstraße zwischen zwei Bezirken am Neubaugebiet, wo bisher lediglich Felder und Gärtnereien gelegen hatten, aus der Straßenbahn stieg, eine Sektflasche, die ich schnell noch aus dem Keller geholt hatte, bevor ich das Haus verließ, und jetzt am Flaschenhals in der Hand hielt, da keine Zeit mehr gewesen war, mir ein geeignetes Behältnis dafür zu suchen. Der Sekt war ein Gastgeschenk für eine Frau, die ich vor Kurzem auf der Straße vor dem Theater, in dem ich arbeitete, kennengelernt hatte und die mich - nach telefonischer Verabredung - zu sich zum Essen eingeladen hatte.

Ich überquerte die Straße, die Veterinärmedizinische Fakultät, deren weitläufiges Areal man auch erst kürzlich neu angelegt hatte, hinter mir lassend. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite mündete in Höhe der Straßenbahnstation die Gasse, in die ich hinein musste, um die Adresse meiner Verabredung zu erreichen. Eine lange Gasse, die auf der anderen Seite fast bis zur U-Bahn reichte, erstreckte sich vor mir.

Es war ein kalter, aber sonniger Vorabend zu Beginn des Herbstes, und ich hatte Zeit und Lust zu laufen. Wie ein Pfennigfuchser war ich natürlich etwas zu früh dran - aus Angst, auf der Strecke eine ungewollte Verspätung durch widrige Umstände in Kauf nehmen zu müssen, und damit bei der Frau ins Hintertreffen zu geraten.

Irgendwie war ich trotzdem nervös; es war, als drückte sich eine unbekannte Atmosphäre auf mein Gemüt - wie der Schatten einer Wolke, der sich über die Sonne legt. Ich fuhr mit der Oberlippe über die Unterlippe und spürte etwas Stacheliges. Ich hasste es, wenn ich beim Rasieren die Klinge nicht bis zur Unterlippe hochzog und ein schmaler Rest bürstiger Bartstoppel stehen blieb. Dieser Bart war zwar nicht zu sehen - aber zu fühlen, und das machte mir Vorwürfe, auf ein Date nicht ordentlich rasiert zu erscheinen. Ich wollte es glatt haben, wenn ich die Unterlippe mit der Oberlippe einzog!

Seltsamerweise war die Straße ohne Autoverkehr - auch parkten nirgends welche am Straßenrand. Das Bild mit den ebenfalls noch provisorischen Gehwegen, an denen lediglich die Abgrenzungssteine zur erst frisch asphaltierten Straße lagen, wirkte wie ein Ausschnitt aus einer fremden Welt. Manche Häuser an der Straße waren bereits fertig; andere waren in verschiedenen Phasen der Fertigstellung oder in Bauabschnitten, die noch von blickdichten Bauwänden eingezäunt waren. Da und dort ragten Baukräne hoch über die Häuser hinaus. Vor einem Haus, das schon bezogen war, fuhr ein Kind auf einem Dreiradler Kreise auf der Fahrbahn, da dies dort leichter umzusetzen war als auf dem sandigen, fest gestampften Gehsteig vor dem Eingang.

Als ich auf der anderen Straßenseite näher kam, sah ich, dass das Kind ein Mädchen war und auf einem Kinderdreirad fuhr, ohne zu treten. Aber doch mit der Lust, die kleinen Füßchen, die in einer roten wollenen Strumpfhose und schwarzen Schuhen steckten, neben den unbenutzten Radtretern zu strampeln, um sich schwungvoll auf dem Dreirad fortzubewegen. Den Oberkörper, in einem dunklen blauen Wintermäntelchen, leicht nach vorgebeugt, wobei die kleinen Händchen links und rechts den Lenker hielten, lachte das Kind vor Vergnügen - die Wangen rot, die Augen blau, das Haar blond unter der weißen, von der Mutter vielleicht gestrickten Haube.

Ich ging an dem glücklichen Mädchen vorbei und winkte ihm lächelnd zu, als es für einen Moment inne zu halten begann und abwartend nach mir hinsah. Da ich aber weiter meinen Weg ging, hörte ich bald darauf das Mädchen wieder auf den quietschenden Rädern und mit wechselnden, rauschenden Bewegungs-Intervallen hinter mir seine Kreise ziehen. Ja, mir war sogar, als hörte ich es dabei das Wort “Papa” plappern. Etwa auf der Hälfte der Straßenlänge blickte ich mich um und erschrak, als ich es etwa dreißig Schritte hinter mir auf dem gegenüberliegenden Straßenrand fahren sah. Wo wollte das Kind hin? Folgte es mir? Das konnte doch nicht sein. Es würde nicht einfach hinter einem Fremden herfahren, wenn man es unbeaufsichtigt auf der Straße spielen ließ. Und vertrauten die Eltern darauf - warum sollte ich es dann nicht tun (leichtsinnig eben, um nicht zu sagen fahrlässig)!

Meine Schritte beschleunigend, ließ ich das Mädchen hinter mir und war bald ans Ende der Straße gelangt, wo sich das Wohnhaus befand, in dem ich die Frau besuchen wollte. Es war modern, niedrig und wirkte wie ein Klotz mit Türen, Fenstern und Balkonen. Wie in einem italienischen Spielfilm aus den 50er und 60er Jahren, in denen das Elend in neue, auf dem Reißbrett entstandene Vorstädte gezogen ist, erschien ein Kinderwagen im Hauseingang, der von einer Frau rückwärts gezogen wurde. Sie schien eine robuste Natur zu sein, die mit Unwegsamkeiten und den Hindernissen einer zu schmalen Türöffnung zurechtkam. Mit dem Ellenbogen drückte sie die Klinke und gleichzeitig stieß ihr Jeanshintern die Glastür auf.

Ich sprang über den noch nicht asphaltierten Gehweg, packte die Außenklinke der bereits halb geöffneten Tür, zog sie so weit auf, wie es ging, und stellte mich dahinter, um der Frau Platz zu machen. Sie ging, den Kinderwagen rückwärts ziehend aus der Tür, warf mir weder einen dankbaren Blick zu noch schenkte sie mir ein Lächeln, sondern überquerte sorgsam den unfertigen Gehsteig, um auf der kürzlich angelegten und asphaltierten Straße hinunter zu fahren. Ich blickte ihr kurz nach, sah weit oben an der Straße das herzige Mädchen und einen Betonmischer, der teilweise in die Straße schob, um sich für das Entladen in einer dortigen Quergasse zu positionieren, und betrat dann den Hausflur über die Tür, die ich mir offen gehalten hatte.

Auf einer langen Geraden kamen das Mädchen und die Frau mit dem Kinderwagen aufeinander zu, dachte ich noch in einer blassen Vorstellung über die Ästhetik vergangener italienischer Filmkunst, als mich die Umgebung an Aufmerksamkeit gemahnte. Durch den Lichteinfall der hinter mir zufallenden Glastür ging ich an einer Reihe von Briefkästen vorbei. Erst da fiel mir ein, dass ich die Türnummer der Frau im 2. Stock nicht wusste. Wir hatten ausgemacht, dass ich sie anrufen würde, wenn ich vor der Haustür stand. Aber sollte ich jetzt noch einmal hinaus, um ihr telefonisch zu läuten? Telefonieren konnte ich auch im 2. Stock.

Die enge Treppe, die ich statt dem Lift, in den gerade einmal die Frau mit dem Kinderwagen passte, nahm, war ebenso drückend wie niedrig. Ich stieg rasch in den zweiten Stock und sah mich einer Reihe von geschlossenen Wohnungstüren gegenüber. Auf dem Treppenabsatz begann ein Gang, der den Weg zu den Wohnungen leitete. Auf ihn heraus drangen verschiedene dumpfe Geräusche aus den Wohnungen. Ich erschrak über das mechanische Knacken, als sich der Lift plötzlich in Bewegung setzte.

Im ersten Moment hatte ich die Vorstellung, die Frau mit dem Kinderwagen sei wieder zurückgekehrt. Aber das konnte nicht sein, da ich keine Geräusche von unten herauf gehört hatte, welche die Frau und ihr Kinderwagen sicher verursacht hätten. Unentschlossen blieb ich stehen, während der Lift das Stockwerk passierte und weiter nach oben fuhr. Sollte ich mein Handy zücken und anrufen? Sicher gingen die Geräusche vom Gang in die Wohnungen hinein wie umgekehrt! Ich hätte flüstern müssen, um nicht aufzufallen.

Ich blickte die Türen an, deren gläserne Gucklöcher ihrem Namen "Spion" alle Ehre und zugleich Eindruck machten. Hier blieb kein Fremder unbeobachtet. Da entdeckte ich die Namensschilder unter den Gucklöchern und erkannte eine Möglichkeit. Allerdings wusste ich nur den Vornamen der Frau, die ich vor dem Bühneneingang kennengelernt hatte und der ich, ob ihrer mir ins Auge stechenden Oberweite, einen stattlichen Strauß Blumen schenkte, der für eine der Schauspielerinnen abgegeben worden war, und den diese an mich weitergereicht hatte, um ihn meiner Frau zu schenken - ohne zu wissen oder zu fragen, ob ich solche hätte.

Damals auf der mitternächtlichen Straße am Gehsteig vor dem Bühneneingang hatte sie mir nur ihren Vornamen genannt. Ich war draußen zwischen den Sockeln der gerippten griechischen Säulen gestanden, die einen kleinen Fassaden-Balkon im 2. Stock trugen, oberhalb des schmiedeeisernen Vordaches, das dem Bühneneingang Schutz und Zierde bot, und hatte eine Zigarette geraucht und die Kühle der sommerlichen Nachtluft genossen.

Während ich überlegte, ob sie sich mit ihrem Nachnamen bei meinem ersten oder zweiten Anruf gemeldet hatte, und wie dieser gelautet haben könnte, ging ich von Türschild zu Türschild, um die Namen zu lesen - aber ohne das Gefühl loszuwerden, von den "Spionen" aus beobachtet zu werden.

"Fam. Wagner", stand lediglich auf dem ersten Türschild, vor das ich hintrat und das meine Hoffnung, auf diese Weise die richtige Tür zu erraten, ins Wanken geraten ließ. Aber schon das nächste setzte einen neuerlichen Impuls in meine Intention. Bruno Petrovic. Schließlich fand ich Irene Weninger und prüfte - sicherheitshalber - alle restlichen Türschilder ebenfalls, ob der Vorname Irene noch einmal vorkam und damit den schönen Einfall, wie an die richtige Wohnungstür zu gelangen wäre, wieder erschwerte. Aber die Befürchtung blieb in dieser Hinsicht unberechtigt. Es gab nur ein Namensschild, in dem “Irene” vorkam, und leise Zweifel aus diffusen Gründen schob ich beiseite. Ich war nun sicher, dass sie sich mit dem Namen "Weninger'' am Telefon gemeldet hatte, und lautete an der Türklingel.

Im selben Moment, als hätte sie dahinter gewartet, ging die Tür auf und jene Irene, die ich vor dem Bühneneingang kennengelernt hatte, stand vor mir - im Bademantel, der vorne offen stand und mir den Blick auf ihre nackten weiblichen Geschlechtsmerkmale zuließ. Ich krampfte verlegen meine Faust um den Flaschenhals.

"Ich war gerade unter der Dusche", sagte sie und trat einen Schritt zurück. "Komm herein. Das Essen ist gleich fertig. Ich ziehe mir nur schnell etwas an."

Ich betrat die Wohnung, die sich nach einer Eingangsnische in einem Raum öffnete, der zugleich Wohn-, Esszimmer und Küche war. Sie nahm mir den Sekt ab und bat mich, an einem großen, runden Esstisch zu warten, während sie in ihr Schlafzimmer eilen wollte, um sich etwas anzuziehen, und verfrachtete den Sekt im Vorbeilaufen im Kühlschrank, der in einer Küchenzeile an der Wand entlang integriert war, die zu einem Gang und weiteren Räumen führte.

Ich zog meine Jacke aus, hängte sie über die Stuhllehne und setzte mich. Durch das Fenster, das aufgekippt war, bekam ich einen freien Ausblick auf die Eishockeyhalle und die internationale Schule, die hier schon standen, als auf den Neubaugründen noch Äcker lagen.

Plötzlich drang von draußen die eilende Sirene eines Polizeiautos herein, die sich irgendwie wütend anhörte. Bald darauf eine erneute Sirene, diesmal von einem Krankenwagen. Ich stand auf und trat neugierig ans Fenster. Von den Einsatzwagen war nichts zu sehen; sie mussten in die Straße eingefahren sein, die ich heruntergekommen war und die an dem Haus entlang führte. Nun gab es da doch Verkehr.

"Was ist denn los?", fragte Irene hinter mir, die von mir unbemerkt den Raum wieder betreten hatte.

Ich drehte mich zu ihr um.

"Weiß nicht. Da waren Polizei und Rettung, die in die Straße eingefahren sind."

"Die fahren sicher zu dem Bierlokal weiter oben in der Straße", sagte Irene, die ihre üppigen Formen in ein grünes Stretch-Kleid mit tiefem Brustausschnitt gezwängt hatte, das wunderbar zu ihrem schulterlangem blonden Haar passte. "Da gibt es immer wieder Betrunkene, die randalieren."

Zum Essen gab es steirisches Wurzelfleisch und kaltes Bier, während Irene Wein trank. Sie war eine gute Köchin - was man von der Verkaufsleiterin der Niederlassung eines amerikanischen Erdölkonzerns nicht erwartet hätte. Ich ließ es mir munden und nahm hin und wieder einen Schluck Bier. Irene saß mir gegenüber, und während wir schweigend aßen, bemerkte ich, dass sie sich auffällig oft aus der Weinflasche, die neben ihrem Teller auf dem Tisch stand, nachschenkte. Als hinter ihr die untergehende Sonne ins Fenster schien, fragte sie mich, ob sie die Rollos herunterlassen sollte.

"Nein", antwortete ich, "sie wird gleich hinter die Eishalle eintauchen."

Nach dem Essen räumte sie den Tisch ab und fragte mich, ob ich noch ein Bier wollte oder ob wir schon den Sekt öffnen sollten. Ich entschied mich vorerst für Bier, dessen Temperatur mir nicht nur zum Essen zugesagt hatte. Den Sekt gedachte ich besser für später aufzubewahren, ohne zu wissen, was in diesem Später noch passieren würde.

Als sie an den Tisch kam, Bier für mich aus der Flasche ins Glas schenkte, holte sie sich ebenfalls noch ein Glas Wein und setzte sich damit wieder an ihren Platz, den sie beim Essen innegehabt hatte - mir gegenüber und am weitesten von mir entfernt. Während ich einen Schluck Bier machte, überlegte ich, ob ich an sie heranrücken sollte.

"Mir haben die Blumen, die du mir damals geschenkt hast, sehr gut gefallen. Es war ein sehr schöner Strauß - sicher teuer, wie meine Kollegin, mit der ich tanzen war, am nächsten Tag allen im Büro erzählt hat."

"Für schöne Frauen ist mir nichts zu teuer", entgegnete ich angeberisch. “Hast du mir deshalb deine Telefonnummer gegeben, weil die Blumen schön waren?”

"Für wen waren denn die Blumen ursprünglich bestimmt?"

"Um dir diese Frage zu beantworten, sitzt du ein bisschen weit weg von mir", sagte ich und zog den nächststehenden Stuhl am Tisch dicht neben mich. Sie kicherte nervös, nahm ihr halb getrunkenes Weinglas und kam langsam auf mich zu, blieb dann aber doch vor dem Stuhl außerhalb meiner Reichweite stehen und trank das Glas aus.

"Wenn ich mich hier hinsetzen soll, brauche ich noch ein Glas."

Jetzt gelangten wir langsam in dieses Später, über das ich zuvor nachgedacht hatte. Aber sie war schon ziemlich angetrunken, was ich anfänglich meinen Absichten nicht abträglich empfand. Dann begann sie plötzlich zu weinen, sodass die Tränen über ihre leichten Sommersprossen auf Wangen und Nase liefen. Sie fühlte sich so einsam in dieser großen fremden Stadt. Zwei Jahre Jahre lebte sie jetzt schon in Wien und hatte ihren Vater, der ihr einziger Verwandter war, in einem Pflegeheim in der Steiermark untergebracht. Meist fuhr sie über das Wochenende dorthin. Zum Tanzen ging sie nur selten, wenn sie von Kolleginnen, die sie verkuppeln wollten, mitgenommen wurde und sie nicht immer absagen wollte.

Dann holte sie sich abermals ein Glas Wein und setzte sich, als sie zurückkehrte, auf meinen Schoß. Ihren Körper mit den Armen umfassend, um sie zu stützen, legten sich auch ihre Brüste, die noch unter dem Kleid lagen, schwer auf meinen Arm. Sie begann mich zu küssen, steckte mir dabei ihre Zunge in den Mund, um mich heiß zu machen, und fing dann wieder zu weinen an.

Vor einigen Monaten, erzählte sie, während sie mir ihren Wein-Atem ins Gesicht hauchte, habe sie über eine Annonce in einem Sexmagazin einen Mann kennengelernt. Anfänglich sei alles gut gelaufen, und sie habe sich sogar in ihn verliebt. Dann aber hatte der Mann von ihr verlangt, Sex-Fotos von ihr zu machen. Sie sollte - lediglich bekleidet mit einem weißen Brautschleier auf dem Kopf - perverse Handlungen an ihm vornehmen. Bei den ersten Fotos, die eher den Charakter von Aktaufnahmen hatten, ließ er sie noch mit dem Schleier posieren. Dann jedoch strich er ihr jedes Mal ihr Haar und den Schleier aus dem Gesicht.

"Wie viel Geld hast du ihm gegeben?", fragte ich sie, nachdem ich das Ende vom Lied bereits erahnte.

Sie sah mich aus Tränen-zerlaufenem Gesicht und schmalen Augen eine Weile stumm an, so als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte. In diesem Moment kam sie mir wie ein kleines Mädchen vor, wobei ich - seltsamerweise - an das Mädchen auf dem Dreirad auf der Straße denken musste. In dieser naiven Atmosphäre war mir jegliche sexuelle Begierde abhandengekommen. Plötzlich begann sie aus tiefstem Herzen zu Schluchzen, sodass ihre Antwort auf meine Frage fast tonlos ausfiel:

"Alles".

Was sollte ich da noch sagen? Die Stimmung war längst verdorben, aber ich wollte sie nicht ins Bett bringen. Die Situation bedrückte mich. Also sagte ich:

"Ich geh jetzt".

"Nein, bitte geh nicht!", rief sie, glitt von meinem Schoß vor meinen Füßen auf den Boden und wollte mir die Hose öffnen. "Ich mache alles, was du willst."

Ich fasste nach ihren Händen und hielt sie fest. Dann beugte ich mich zu ihrem Gesicht hinunter.

"Nein, Irene, du bist betrunken. Geh jetzt ins Bett! Ich rufe dich morgen an."

"Bitte bleib bei mir", begann sie zu flehen. "Ich will nicht alleine sein. Schlaf bei mir!"

Ich schüttelte den Kopf, ließ sie los und stand auf. Als ich meine Jacke von der Stuhllehne nahm, schlugen mir ihre kleinen, knochigen Fäuste hart gegen die Oberschenkel.

"Dann geh doch", rief sie in Rage kommend. "Hau ab, sonst schreie ich das ganze Haus zusammen!"

Ich machte, dass ich zur Tür hinaus kam, und schlug sie hinter mir zu. Die Polizeisirene von vorhin klang mir noch deutlich in den Ohren, als ich hastig die zwei Stockwerke hinunter lief. Auf der Straße begann sich mein schlechtes Gewissen zu melden. Konnte ich sie in einer solchen Situation alleine lassen? Wäre sie verrückt genug, sich etwas anzutun? Vielleicht hätte ich sie dazu bewegen sollen, eine ihrer Kolleginnen anzurufen?

In diesem Moment zerplatzte die Sektflasche, die ich zum Gastgeschenk mitgebracht hatte, ein paar Meter von mir entfernt auf dem fest gestampften Sand des noch nicht fertiggestellten Gehweges. Sie hatte sie einfach aus dem Fenster geworfen.

Als ich die Straße wieder hinunter ging, um zur Straßenbahnstation zu kommen, fiel mir das Bierlokal ein, von dem sie gesprochen hatte. Ich brauchte jetzt unbedingt etwas, um den Abend hinunter zu spülen … vielleicht mit ein paar Klaren zum Bier? Und eine kleine Schlägerei würde mir auch nicht unwillkommen sein, um ein wenig Dampf abzulassen.

Gleich darauf sah ich in ungefähr hundert Meter Entfernung das erleuchtete Kneipenschild. Da hatte ich Irene bereits vergessen. Ich öffnete die Tür und bestellte bei einer knallig gekleideten Kellnerin Bier und Slibowitz. In dem Lokal war eine getrübte Stimmung.

"Was ist denn hier los?", fragte ich die Kellnerin. Sie sah mich aus traurigen Augen an und sagte:

" Vor ungefähr zwei Stunden hat ein Betonmischer ein kleines Mädchen auf einem Dreirad auf der Straße vor dem Haus totgefahren. Ihr Vater ist hier betrunken bei uns gesessen."
 



 
Oben Unten