Der Teufel und der allmächtige Sturm

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d-m

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Ada stand auf der Veranda, eingehüllt in den Staubmantel seines Pas. Den Kragen hatte er bis über die Ohren hochgeschlagen. Seine Hände steckten in den Taschen. Zwischen den Fingern zerrieb er Tabakkrümel, um die Kälte aus der Haut zu massieren. Sein Pa hatte viel geraucht. Am liebsten hockte er nach der Arbeit auf den Verandastufen, den Hut im Nacken und die Koppel im Blick, qualmte Selbstgedrehte und sinnierte über das Leben im Niemandsland.
Wagenräder hatten ein Furchennetz in den morastigen Boden des Innenhofs gezeichnet. Eine Landkarte vergangener Tage. In Pfützen spiegelten sich die Hügel im Westen, getaucht in trüben Schimmer verblassenden Lichts. Wind zog von diesen Hügeln herunter. Rüttelte an den Fensterläden und zerrte am Mantelkragen.
Während Ada auf Elviras Rückkehr wartete, brachte ihn die Müdigkeit aus dem Gleichgewicht. Dann lehnte er sich an einen Verandapfosten und schaute hinauf zum Himmel. Zu den Wolken, die sich seit dem Mittag über den Hügeln zusammenzogen. Ein Luftholen des Horizonts, das die Feuchtigkeit aus der Erde zog und sie zu immer höheren Kuppeln und Türmen aufschichtete. Gegen Abend rollten Sturzwogen über das graue Firmament. Ein aufgewühlter Ozean, unter dem er sich unendlich klein vorkam. Pa hatte ihm von der Machtlosigkeit des Menschen gegenüber den Urgewalten und den Naturgesetzen dieser Welt erzählt.
Das ist der alte Sturm, pflegte er zu sagen, wenn sie im Herbst das schlechter werdende Wetter beobachteten. Er lehrt uns Demut, denn er ist der wahre Gott des Niemandslandes. Sein Wind weht durch Mark und Bein. Wenn ein Mann zu lange seiner Witterung ausgesetzt ist, trägt er Schicht für Schicht von ihm ab. Höhlt ihn aus, bis nur eine klapprige Hülle übrigbleibt.

Elvira ritt auf dem Schimmel durch das Tor und unter den Hufen spritzte der Morast in alle Richtungen. Ihr Haar war wirr und zerzaust, das Gesicht blassrot vom beißenden Wind. Sie hing schräg im Sattel, schlotterte und konnte kaum noch die Zügel halten. Jeff ging von selbst in einen Trab über und stoppte vor den Verandastufen, wo er schnaubte und seinen breiten Kopf schüttelte. Von den Hufen bis hoch zur Flanke war sein Fell bespritzt mit Schlamm. In der Mähne klebten braune Klümpchen. Die Pferdehaut dampfte vom anstrengenden Ritt. Ada half seiner Schwester, von Jeffs hohem Rücken hinunterzusteigen, und gemeinsam schafften sie es ins Haus. Sie ließ sich in den Sessel vor dem Kamin fallen und schlief fast augenblicklich ein. Ada betrachtete sie, bewunderte ihre Ähnlichkeit mit Ma, diese wilde Schönheit, lauschte ihrem flachen Atem. In diesem Moment schämte er sich dafür, sie nicht vom Ritt abgehalten zu haben. Aber sie hatte darauf bestanden und ihn überzeugt, weil es auch Pa so gewollt hätte.
Er ging zurück nach draußen und führte Jeff in den Stall. Dort sattelte er ihn ab und hängte das Zaumzeug auf. Lief hinter das Haus und holte einen Eimer Wasser. Bürstete den gröbsten Dreck aus Jeffs Fell, der seinen Kopf dankbar senkte und währenddessen einen ganzen Heuballen auffraß. Den Eimer leerte Ada aus und füllte ihn mit frischem Wasser aus der Quelle, stellte ihn vor Jeff hin und beobachtete einen Moment schweigend, wie er daraus soff. Pa wäre zufrieden mit ihm gewesen.

Der Wind heulte über die Senke und brachte erste Regentropfen. Klamme Feuchtigkeit kroch in Adas Stiefel. Die Beine waren steif vom langen Stehen. Er knetete seine Hände, öffnete sie, fuhr die Linien auf ihren weichen Innenflächen entlang. Die Hände seines Pas waren hart und schwielig gewesen. Ihr Griff mit dem Alter immer noch kraftvoll, als könne die Zeit ihnen nichts anhaben, während seine Schultern schmaler und die Oberarme sehniger wurden.
Mit diesen Händen hatte er ein Leben lang auf den Feldern geschuftet, die gerade soviel Ertrag abwarfen, dass seine Familie nicht verhungerte. Mit ihnen hatte er seinen Kindern beigebracht, wie man ein Pferd sattelte, die Ochsen vor den Pflug spannte und ein Tier ausweidete. Und mit diesen Händen hatte er Ma gepflegt.
Vor drei Sommern war sie ihrer Krankheit erlegen. Sie hustete ununterbrochen und schwärzlicher Schaum stand auf ihren Lippen. Die Augen versanken in den Höhlen, der Blick verklärte sich, als waberte ein undurchdringlicher Nebel hinter ihnen. Schon Wochen vor dem letzten Atemzug grinste ihr der Tod aus dem Gesicht und ihre Atmung klang wie eine kaputte Quetschkommode.
Pa drehte sie in Seitenlage, wenn der Schleim in ihrer Kehle sie nicht mehr atmen ließ. Rieb ihr Salben auf Brust und Rücken, die nach Thymian und Sumpfkiefern rochen. Ada beobachtete, wie sich diese schroffen Arbeiterhände rücksichtsvoll und fürsorglich um sie kümmerten, wie ihre Ruppigkeit sich in Sanftheit verwandelte. Als wäre am Schluss ihr einziger Zweck gewesen, den schleichenden Tod zu umgarnen. Eines Morgens, der erste Frost glitzerte auf der Koppel und kündigte einen langen Winter an, wachte Ma nicht mehr auf. Sie beerdigten sie ohne Zeremonie, sprachen kein Wort. Nur der alte Sturm flüsterte und wehte eine Handvoll Eiskristalle auf ihr Grab. Ein hölzernes Kreuz und ein kleiner Erdhügel hinter dem Haus war alles, was ihnen von ihr blieb.

Ada patschte durch den Schlamm zurück zur Veranda. An den Stufen schlug er seine dreckigen Stiefel ab, betrat das Haus und sperrte den Wind aus. Elvira war bereits wieder aufgewacht und blinzelte ihn aus müden Augen an.
„Hat dir der alte Richardson das Salz und die Munition gegeben?“, fragte er.
„Nein. Ich hab’s nicht bis zu ihm geschafft. Es tut mir leid, Ada ...“
„Ist schon gut. Ist schon gut. Nicht weinen.“
Er hielt ihre Hand und sie schwiegen.
„Was hast du gesehen?“, fragte er nach einer Weile.
„Die Wölfe“, sagte sie. „Sie kommen heute Nacht.“
„Wo?“
„Zwei Stunden entfernt. Höchstens drei. Sie bewegen sich unglaublich schnell.“
„Klingt nach Teufelswerk.“
„Und du klingst wie dein Pa.“ Ihr Gesicht hellte sich auf, das Lächeln war sanft und aufrichtig, betonte die Grübchen in den Mundwinkeln. So war’s auch bei Ma immer gewesen. „Fehlt nur noch, dass du anfängst dieses stinkende Zeugs zu rauchen.“
Ada schwieg.
„Entschuldige.“
„Ist okay“, sagte er und strich über das brüchige Leder der Sessellehne. „Wenn sie auftauchen und Schwierigkeiten machen, brate ich ihnen mit der Büchse ein Loch ins Fell.“
„Danke.“
„Kommen sie mit Automobilen?“
Elvira schüttelte den Kopf.
„Pa hat gesagt, sie hätten vielleicht Automobile.“
„Nein.“
„Dann auf Pferden?“
„Sie reiten auf feuerspuckenden Maschinen mit zwei Rädern. Mit ihnen pflügen sie durch‘s Land. Ich habe ihre gelb leuchtenden Augen gesehen. Ihr unheimliches Gebrüll schallte bis weit über die Hügel. Ich glaube, sie wollten mich wissen lassen, dass sie kommen.“
„Der Sturm wird ihren Höllenmaschinen zu schaffen machen.“
„Wir sollten nicht darauf hoffen.“
„Ich hole Pas Gewehr aus der Scheune.“
Sie nickte. Pustete mit dem Blasebalg in die Restglut des Kamins und holte den gusseisernen Kessel, um Wasser für Tee aufzusetzen.

Das Zwielicht war hinter die Hügel gekrochen, hinterließ ein letztes Glänzen auf schweren Wolkenbäuchen. Sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, stellte für Ada kein Problem dar. Die Farm war ihm vertraut wie die Taschen von Pas Mantel.
Er zog ihn enger um seine Schultern, betrat die Scheune und nahm die Repetierbüchse von der Wand. Strich mit den Fingern über ihren gepflegten Schaft aus Nussbaumholz. Aus einer Schachtel schüttete er Munition in die Taschen. Das war alles. Höchstens zehn Schuss. Die Waffe fühlte sich zu groß und schwer in seinen Händen an, obwohl er oft mit ihr geschossen hatte. Er zielte auf ein Fässchen, nur ein dunkler Umriss im schemenhaften Innern der Scheune, und kniff ein Auge zu. Aber der Lauf zitterte so stark, dass er es nicht aufs Korn nehmen konnte.
Das Gewicht der Büchse erinnerte ihn daran, wie sich nach Mas Tod alles verändert hatte. Pa begab sich auf ausgedehnte Jagdausflüge, die manchmal Tage und Nächte andauerten. Selten kam er mit einem erlegten Hirsch oder ein paar gefangenen Präriehunden zurück. Meist waren seine Hände leer und er sagte nur, er hätte sein Bestes getan. Dann waren seine Augen wässrig und blutunterlaufen und er blickte stumm ins Kaminfeuer.
Auf seinen einsamen Streifzügen durchkämmte er die Täler dieser kargen Landschaft, auf der Suche nach etwas, über das er nie mit Ada und Elvira sprach. Vielleicht war‘s sowas wie Trost oder Vergebung, worauf er dort draußen hoffte. Selbst Gott schien nicht in der Lage zu sein, ihm zu geben, wonach sein Herz verlangte. Von ihm schien er sich zusehends abzuwenden. Sogar das Nachtgebet vergaß er manchmal und wenn sie ihn darauf ansprachen, schob er es auf die Vergesslichkeit im Alter. Ada hatte davon geträumt, dass er auf der letzten seiner aufopfernden Reisen fand, wonach er so lange gesucht hatte, und er träumte seitdem von den Wassern des mächtigen Stroms.
Beim Zurückgehen peitschte ihm der Regen ins Gesicht.
„Wie viele?“, fragte er, wieder in der Stube. Seine Frage war so leise gestellt, dass sie im Prasseln des Feuers unterging, und er fragte sich, ob sein Pa zuletzt auch so geklungen hatte.
„Sind mindestens zu dritt, denk ich. Das Fernglas beschlug andauernd.“ Sie machte eine kurze Pause. „Drei Augen hab ich gesehen.“
„Okay“, sagt er, legte die Büchse quer über den Tisch und betrachtete das Messingkreuz auf dem Kaminsims. „Wir werden auf sie warten.“

In Adas Knochen steckte die Kälte von drei Wintern. Die Jahreszeiten waren ohne Spur eines Sommers vorübergezogen. Im Niemandsland entlarvte sich die Zeitlosigkeit als bleierne Schwere. Seit Mas Tod gab es keine Sommer, die Wärme brachten und das Land aufblühen ließen. Stattdessen blieben sie trüb und dunkel, selbst in der Jahresmitte, und vermehrt querten Planwagen die Furt des mächtigen Stroms, aber nur in eine und dieselbe Richtung. Wenn sie die Leute ansprachen und fragten, wohin sie zögen, war die Antwort jedes Mal die gleiche: Fort aus diesem unwirtlichen Land, in die nächste größere Stadt und vielleicht noch weiter, weil im Süden sei das Leben gut und die Winter weniger hart.
Dann kam der Tag, an dem die Sonne vom Himmel fiel. Sie fand ihr feuchtes Grab zwischen den grauen Fluten, wo das Licht versank und nur ein Glänzen auf den unruhigen Wassern verblieb. Und es war der Tag, an dem Pas Schimmel ohne seinen Reiter zurückkehrte. Ada und Elvira beruhigten das aufgebrachte Tier, den treuen Jeff, gaben ihm einen Zuckerwürfel und ritten dann geplagt von Angst und Sorge auf und ab. Riefen abwechselnd Pas Namen, bis weit in die Nacht und bis sie beide heiser waren, dass sie nicht einmal mehr miteinander flüstern konnten.

Ada hatte die Büchse geladen und seine Schwester Tee in verbeulte Emailebecher eingeschenkt. Die Getränke waren noch zu heiß, deshalb standen sie auf dem Tisch und die Geschwister warteten geduldig, bis sie sich abkühlten. Obwohl ihre Mägen knurrten, verspürten sie keinen Hunger.
Tiefe Nacht kroch von den Hügeln herab und hatte bald das karge Land verschluckt, als ein Klopfen an der Tür die Geschwister aufschrecken ließ. Ada hob das Gewehr und ging zögerlich auf sie zu, blieb ein paar Schritt vor ihr stehen und sah seine Schwester fragend an. Das Klopfen wiederholte sich.
„Sei vorsichtig“, flüsterte Elvira.
Mit einem Ruck zog er die Tür auf. Davor stand ein in verfilzte Lumpen gekleidetes Männchen. Seine abgetragenen Beinlinge und Gamaschen starrten vor Schlamm. Aus dem Gesicht blitzten Ada wachsame und freundliche Äuglein entgegen. An Backen und Kinn des Männchens spross ein von weißen Strähnen durchzogener Bart, der ihm an der Spitze bis zum Bauch reichte. Auf dem Kopf trug es ein triefendes Waschbärenfell, dessen Schweif sich im wütenden Wind wie eine Wetterfahne hin- und herbewegte. Das Männlein war nicht einmal so groß wie ein Kleinwüchsiger und reichte Ada knapp bis zur Hüfte. Vielleicht stammte es von einem Pygmäenvolk ab, denn seine Haut war außergewöhnlich dunkel und verrunzelt. Dicke Vorhänge aus Regenfäden trieben hinter ihm über den finsteren Hof.
„Junger Mann, ich suche Unterschlupf für eine Nacht. Wärst du so freundlich, mich bei euch im Heu einzuquartieren?“
Ada hatte es die Sprache verschlagen und er bemerkte nicht, dass er dem fremden Besucher mitten ins Gesicht zielte. Elvira trat hinter ihn und legte ihre Hand auf den Lauf der Büchse. Drückte ihn sanft nach unten, sodass er auf die bestiefelten Füßlein des Männchens zeigte.
„Wer sind Sie und woher kommen Sie, Väterchen?“, fragte sie freundlich.
„Hehe“, lachte es und zeigte gelbe Zähne. „Ich bin aus der Gegend und komme trotzdem von weither. Für heute bin ich des Wanderns müde.“
Elvira schüttelte den Kopf. „Aber einen Namen werden Sie doch haben?“
„Mein Name ist Wind.“
„Wind?“
„Ja!“
Es prustete gutmütig. Ada war, als hielte der Sturm für einen Augenblick in seinem Heulen inne. Das Lachen schien von überall her zu kommen. Feine Regentropfen benetzten sein Gesicht. Konnte es sein ... Nein, die Einbildung musste ihm einen Streich gespielt haben. Eine besonders heftige Bö hatte den Regen hereingeweht, nichts weiter.
„Es freut mich überaus, sie kennenzulernen, Mister Wind.“ Elvira streckte die Hand aus. Das Männchen umschloss mit der Seinen ihren kleinen Finger und schüttelte daran, bis auch sie lachen musste. „Kommen Sie doch rein und wärmen Sie sich am Feuer. Sie können gerne die Nacht bei uns verbringen.“
„Das ist sehr freundlich.“
„Aber seien Sie gewarnt ...“
„Ja, bitte?“
„Die Wölfe ...“
„Ach, mach dir um das Pack keine Gedanken, nettes Fräulein. Ich bin sicher, der Sturm wird sie noch ein Weilchen aufhalten.“
Die beiden Geschwister standen staunend da und das Männchen klatschte in die Hände, wie um sie aus ihrer Starre zu reißen.
„Tausend Dank“, konstatierte es und grinste Ada an. Bevor dieser etwas erwidern konnte, bückte es sich zu einem kurzen Knicks und schlüpfte zwischen seinen Beinen hindurch in die warme Stube.

Mister Wind kochte ihnen ein üppiges Mahl. Er erkundigte sich nicht, ob sie hungrig seien, sondern machte sich schnurstracks auf in die Kochnische. Schnippelte Möhren und Kartoffeln und zerteilte ein Hüftsteak in mundgerechte Stücke. Danach ließ er alles im Topf über dem Feuer schmoren. Dazu summte er eine zärtliche Melodie, die klang wie Das Herz des Winters. Ein Lied, das Ma ihnen als Kinder zum Einschlafen vorgesungen hatte. Während Ada Mister Winds Stimme lauschte, spürte er ihre Fingerspitzen auf seiner Haut.
Nachdem er ein paar Mal probiert hatte, streute Mister Wind Kräuter aus einem braunen Gewürzsäcklein in den Topf und rührte kräftig um. Der Duft wirkte so vertraut auf Ada und Elvira, dass sie sich anschauten und für einen Moment dachten, ihre Ma stünde am Feuer. Ihnen lief das Wasser im Mund zusammen.
„Ihr seht hungrig aus, deshalb dachte ich, ich koch euch was“, sagte er und lächelte sie an. Es waren die ersten Worte, die er mit ihnen wechselte, seit sie das Haus betreten hatten.
Beide nickten stumm. Es war Elvira, die sagte: „Es riecht sehr gut.“
„Das freut mich. Kommt, setzt euch an den Tisch. Es müsste bald fertig sein.“
Sie taten wie geheißen. An Adas und Elviras Platz hatte Mister Wind bereits Teller und Besteck aufgetischt. Sein eigener blieb leer.
„Sie wollen nichts essen?“, fragte Ada und räusperte sich. Seine Stimme klang brüchig und trocken.
„Nein, danke. Ich verspüre keinen Hunger. Was ist mit dem Gewehr? Ich denke nicht, dass du es heute brauchen wirst.“
Neben seinem Stuhl lehnte die Büchse an der Wand. Ada betrachtete sie, als wäre er dabei ertappt worden, heimlich Mordpläne zu schmieden. Das traf zu, wenn auch diese Pläne nicht Mister Wind galten. Trotzdem stand er auf und verstaute die Waffe in einer großen Holzkiste.
„Fühlt sich besser an, das Ding außer Sicht zu haben.“
„Ja.“
Mister Wind lächelte sein verschmitztes Lachen und holte den Kochlöffel aus dem Kessel, probierte mit spitzen Lippen.
„Ah, sehr gut. Das wird euch kräftigen. Reicht mir eure Teller und danach lässt’s euch schmecken.“
Er füllte ihre Teller und setzte sich zu ihnen. Scheinbar in Gedanken versunken beobachtete er sie. Wie sie aßen und schmatzten, vergnügt wie Kinder und ohne Worte, begleitet vom Knacken des Feuers. Der Wind fegte um die Farm und ein Kojote in den Hügeln heulte unter dem weißen Mond.
„Während ihr esst, erlaubt mir bitte, dass ich euch eine kleine Geschichte anvertraue“, sagte Mister Wind. Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er zu erzählen.

„Vor langer Zeit lebte ein einfacher Bauer in diesem Land, er hatte Frau und Kind. Für sie zu sorgen, war harte Arbeit, aber er tat es mit leidenschaftlicher Hingabe. Sie lebten nach den alten Werten, die seiner Vorväter. An ihnen hielt er eisern fest, wie an der Bibel, sie waren sein Dogma.
Seine Frau aber hatte von Reisenden gehört, dass das Leben im Süden einfacher geworden sei. Dank dem Fortschritt der Technik boten sich den Menschen neue Möglichkeiten. Man hatte elektrisches Licht erfunden und Fahrzeuge, die mit Öl angetrieben wurden. In den Städten sei das Leben angenehm, es gab Arbeit für alle und niemand musste hungern.
Manche dieser Reisenden lachten über sie, weil sie sich dem Fortschritt schon so lange verschlossen hatten. Man bezeichnete sie als Sonderlinge. Die Frau des Mannes war ob dieser Berichte ihres Lebens in der Abgeschiedenheit müde geworden. Täglich flehte sie ihren Mann an, dass sie wegzögen, damit ihr Kind zur Schule gehen und etwas anderes lernen könnte, als die Felder zu bestellen und das Vieh zu füttern. Diese Lebensweise sei überholt. Doch der Mann hatte sich und seinem Gott geschworen, dieses Land niemals zu verlassen. In diesen Städten gibt es nichts als Sünde und Krankheit, sagte er. Die Menschen dort sind Wölfe, sie zerstören das Land und fressen ihre eigenen Kinder. Denn der Teufel hat sich ihrer bemächtigt.
So kam es, wie es kommen musste. Seine Frau verließ ihn mit dem Kind. Wohin sie gingen, erfuhr er nie. Eines Tages bestiegen sie die Kutsche eines Reisenden und waren für immer fort. Sie verabschiedeten sich nicht einmal von ihm. Voller Schmerz und innerer Zerissenheit bat der Mann seinen Gott um Rat. Aber er fand keine Antworten in seinen Gebeten. Also ritt er eines grauen Tages zum mächtigen Strom hinunter. Kniete sich ans Ufer, schlug das Kreuz auf seine Brust und wollte sich ertränken.
Doch der alte Sturm flüsterte ihm zu: Verschwende nicht dein Leben. Ich bin die Seele dieser Erde und akzeptiere dich als mein körperliches Gefäß. Verspüre keine Angst und vergiß deinen Schmerz, denn ich erlöse dich von deinen weltlichen Bürden. Ich bin unzerstörbar und selbst wenn der Teufel diese Erde unterjocht, werde ich von seinen Veränderungen nicht betroffen sein. Wirst du Teil von mir, sollst auch du unter diesem Schutz stehen. So akzeptierte der einsame und verbitterte Mann den alten Sturm als seinen neuen Gott.“
„Wer war dieser Mann?“, fragte Elvira in die plötzliche Stille.
„Dieser Mann, Fräulein“, antwortete er leise, „bin ich, und seine Geschichte ist meine.“

Mister Winds Geschichte erinnerte Ada daran, wie er eines Morgens früh zur Furt hinuntergeritten war und seinen Pa schon aus weiter Ferne gesehen hatte. Reglos lag er da, gebettet aufs sandige Ufer. Dünne Ausläufer des Flusses umspielten seinen Körper und das Wasser murmelte zum letzten Gebet.
Pas Hand war an seine Seite gepresst und es sah aus, als hätte er Bauchschmerzen und sich nur kurz zum Ausruhen hingelegt. Der Sand war ockerrot verfärbt, der Pelz seiner Jacke verkrustet vom Blut. Ein Bär oder sonst ein großes Tier musste ihn angefallen haben. Ada fand keine Spuren am Ufer oder in der hohen, mit Schafgarben und Astern bewachsenen Böschung. Vögel hatten Pa die Augen ausgepickt und sein Bart war verfilzt und dreckig. Neben ihm lag seine Büchse. Der Hut war verschwunden, den mächtigen Strom hinabgetrieben.
Ada hatte sich neben ihn gekniet, seine kalte Hand gestreichelt, über die kräuselnden Wellen geblickt und die Gischt auf dem Gesicht gespürt. Ein feines Netz aus Wassertröpfchen, das seine Haut betäubte. Und er hatte an Pas Geschichten des alten Sturms gedacht, daran, dass er noch hier sein würde, wenn auch die letzten Siedler längst weitergezogen oder gestorben waren. In diesem Moment, an der einsamen Furt und am Totenbett seines Pas, fühlte er, dass der Zeitpunkt gekommen war. Der alte Sturm würde ihm seine Jugend nehmen, ihn aushöhlen und sie nie mehr zurückgeben. Ein letztes Mal drückte er Pas Hand und zerrte ihn dann in den Fluss. Blickte ihm nach, wie er von der Strömung davongetrieben wurde.
Keine Tränen benetzten Adas Wangen, nur das Wasser des Stroms, das der Wind in tanzenden Wirbeln von seiner Oberfläche hob. Der alte Sturm zerrte an ihm, nahm alles mit, Schicht für Schicht trug er ab, wie’s sein Pa damals gesagt hatte, und wenn er doch was übrig ließ, so wusch das Wasser den Rest für immer fort.

Mister Wind stand auf und setzte sich in den Sessel am Kamin, so wie’s Pa immer nach dem Essen getan hatte. Von seinem Rücken schnallte er ein winziges Banjo. Es war ihnen zuvor gar nicht aufgefallen, weil es von dem Waschbärenschweif verdeckt worden war. Mister Wind zupfte mit seinen Fingerchen an den Saiten herum, erst klang es schief und schrammelig, bis er dem Instrument eine leichtfüßige Melodie entlockte. Dann begann er mit klarer Stimme zu singen:

Oh, drei Winter kommen
Und keine Sommer dazwischen
Keine Sommer zu wärmen
Diese müden alten Knochen

Und ich sehe zu, wie der Sturm herunterkommt

Ich sehe Donner und Blitz
Den Himmel aufreißen
Doch bitte ich um keine Gnade
Bring mich nur durch die Nacht

Ich habe mich den Wölfen gestellt
Auge in Auge gestarrt
In diesen kalten kalten Augen
Sehe ich Stürme im Überfluss

Oh, die Ozeane kochen
Breiten sich aus über das Land
Sowohl Erde als Luft
Sind vergiftet

Oh, die Berge beben
Und bald werden sie bröckeln
Sie werden bröckeln und fallen
Bis nur der Staub übrigbleibt

Und ich bin ganz still
Sehe zu, wie der Sturm herunterkommt


Niemand getraute sich, etwas zu sagen. Mister Wind legte sich das Banjo quer über die Beine. Unter seinen Lumpen zog er eine Pfeife mit geschwungenem Hals hervor und begann sie gemächlich zu stopfen. Er drehte sich zu Ada und Elvira herum, als nähme er ihre Anwesenheit zum ersten Mal richtig wahr.
„Entschuldigt, stört es euch, wenn ich meine Pfeife anzünde?“
„Nein. Pa hat auch geraucht“, antwortete Ada und die Wärme des Feuers trieb ihm Tränen in die Augen. Er bemerkte, dass auch Elvira leise weinte. Sie tat so, als würde sie sich den Schweiß von der Stirn wischen, damit Mister Wind ihre geröteten Augen nicht sah.
„Lasst uns noch etwas sitzen bleiben“, sagte er. „Danach sollten wir uns zur Nachtruhe hinlegen.“
„Sie können hier im Haus übernachten“, schlug Ada vor.
„Ich danke dir, mein Sohn. Aber ich bevorzuge ein weiches Bett aus Heu, das reicht mir vollkommen.“
„Aber die Wölfe ...“
„Sie werden heute Nacht nicht auftauchen. Und falls sie doch eines Tages kommen, so wißt ihr, dass ihr keine Angst mehr vor ihnen haben müsst. Es bringt nichts, wegzulaufen. Man rennt nur vor sich selbst davon. Die Menschen sind nicht allmächtig. Egal wie weit der Fortschritt sie bringen mag, gegenüber der Natur und den universellen Gesetzen bleiben sie klein und unbedeutend.“
Ada nickte. Mit dem wohltuenden Mahl im Magen, der Geschichte und dem Lied, dessen Zeilen in seinem Kopf nachhallten, wurde er ganz schläfrig. Alsbald war der Gedanke an die Wölfe weit weg und vergessen.

Am nächsten Morgen wachten sie früh auf. Der Sturm hatte nachgelassen. Während Elvira Brot schnitt und das letzte Glas der Marmelade öffnete, die ihre Ma eingekocht hatte, ging Ada nach draußen, um nach Mister Wind zu sehen. Aber sein Platz im Heu war leer und nichts deutete darauf hin, dass er jemals hier gewesen war. Jeff stand da und schaute ihn kauend an, als fragte er sich, wonach sein Herr so fieberhaft suchte.
Schließlich gab Ada auf. Mister Wind musste mit dem alten Sturm weitergezogen sein, noch bevor sie wachgeworden waren. Sein Weggang stimmte ihn traurig, aber er wusste, daran konnte er nichts ändern. Also ging er zurück ins Haus zu Elvira und gemeinsam aßen sie ihr Frühstück.
„Wo mag er hin sein?“, fragte sie.
„Ich weiß nicht“, sagte Ada zwischen zwei Bissen.
„Ich habe die ganze Nacht über seine Geschichte nachgedacht.“
„Eli, ich muss dir was sagen.“
„Hat es mit Mister Wind zu tun?“
„Pa ...“
„Was ist mit ihm?“
„Es war kein Bär. Er hat sich umgebracht, Eli.“
Seine Schwester versteifte sich auf dem Stuhl und legte ihr angebissenes Stück Brot zurück auf den Teller.
„Er hat sich unten an der Furt erschossen. Es tut mir leid, ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt.“
„Nein ... Wieso ...?“
„Ich denke, Mas Tod war zu viel für ihn. Er konnte einfach nicht mehr weitermachen.“
„Oh, Ada ...“
Er stand auf, stellte sich hinter sie und hielt ihren zitternden Körper fest in seinen Armen. So lange, bis sie sich beruhigte.
„Ada? Der alte Sturm ...“
„Ja“, sagte er. „Wir werden nach ihm Ausschau halten.“
 
Hi @d-m ,

anbei ein paar Gedanken zu Deiner Kurzgeschichte:

1. Es gelingt Dir -finde ich- sehr gut, uns in das Setting einer post-nuklearen, jedenfalls dystopisch verzerrten Welt zu entführen. Hier trumpfst Du bereits in den ersten Absätzen richtig auf und bringst einige wunderbare Bilder und Stimmungsanker. Besonders gut gefällt mir, wie es Dir gelingt, die Ernsthaftigkeit und Bedrohlichkeit der Welt zu transportieren. Deine Hauptcharaktere führst du so ein, dass der Leser sie vor allem durch ihre Handlungen und ihre Dialoge kennenlernt. Das gefällt mir gut. Gerade der erste Teil erinnert mich sehr an Stephen Kings Sage vom "dunklen Turm" aber mit wunderschönen Umschreibungen: "Luftholen des Horizonts", "Pferdehaut dampfte vom anstrengenden Ritt", "fuhr die Linien auf ihren weichen Innenflächen entlang" etc. Der Leser bekommt den Eindruck, dass die erste Hälfte des Textes sorgsam zusammengetragen wurde, nachdem er bereits seine hitzigsten Kämpfe im Kopf des Verfassers ausgetragen und zu einer profunden Gestalt verdichtet worden war. Diese Stärke hält der Text leider nicht bis zum Ende durch.

2. Noch sehr befriedigend im Sinne einer Spannungssteigerung werden die Wölfe auf ihren Motorrädern eingeführt, die dann aber nicht mehr auftauchen. Eine Sünde, die nicht jeder Leser verzeihen wird: Bis zum Ende fragt man sich, wartet man förmlich, auf den Angriff der Wölfe auf die Farm der Geschwister und fühlt sich etwas um die investierten Emotionen betrogen, wenn es am Ende lapidar heißt, sie würden sich wohl noch etwas mit dem Sturm beschäftigen müssen. Möglicherweise setzt sich diese Konfrontation aber auch in einem späteren Kapitel fort, dann gibt es aber keinen Grund, sie hier schon so stark anzumoderieren. Dies spricht m.E. dafür, dass der Anfang der Geschichte schon länger ausgearbeitet da gewesen ist, un du diese -möglicherweise zum Zwecke der Veröffentlichung- recht schnell fertig geschrieben hast, denn die folgenden Unstimmigkeiten deuten angesichts deines klar liegenden Talents eher auf eine gewisse Unruhe beim Verhärten des Werkes hin, die ein vorschnelles zu Ende schreiben aus textfernen Gründen notwendig machte.

3. Diesen Eindruck gewinnt der leser nicht nur bei der etwas lieblosen Entwicklung des weiteren Plots, der fast schon zufallsartigen Einstreuungen, sondern auch auf Grund von logischen Widersprüchen: Woher weiß Eli, dass Pas Hut den Strom hinuntergetrieben wurde ? Woher wissen Eli bzw ada, dass Pa sich umgebracht hat ? Woher kennt er die innere Motivlage des suzididerten Vaters so genau ? Wie kann es sein, dass die Geschwister -eben noch dem kleinen Fremden die Flinte vor Argwohn unter die Nase haltend- diesen nun herzlich einladen und sich -ohne dass er selber ovn seinem Essen essen würde- an dem von ihm gekochten Mal gütlich tun, ohne auch nur ein einziges Mal Argwohn gegenüber dem Fremden zu entwickeln ? Diese Nachlässigkeiten sind für einen Text mit einer solchen Qualität beginnt unverzeihlich und fast schon eine Sünde an densemelben und den vielen Stunden, die du vermutlich über der ersten Hälfte verbracht hast. Hier solltest Du unbedingt mehr die Geschichte sinken und verhärten lassen.

4. Der Auftritt des kleinen Männchens als eine Art Tom Bombadil der dystopischen Steppe ist wenig befriedigend geraten. Woher weiß der Zwerg, dass die Wölfe "heute Nacht nicht auftauchen". Auch seine Weisheit, man renne doch nur vor sich selber davon, kommt ziemlich aus dem Kontext gerissen und aus der Sicht unserer beiden Geschwister, die immerhin um Leib und Leben bangen müssen etwas sehr verkünstelt. Zwar gibt Dir sein Auftritt die Möglichkeit, noch ein Lied zu positionieren, aber er bringt die Story nicht voran, sondern lähmt sie eher. Eine solche "wir haben uns was verdient" Szene hätte man sicher eher nach dem Kampf mit den Wölfen erwartet, wo die beiden Geschwister gerade noch so mit ihrem Leben davongekommen sind, uns als Leser gezeigt hätten, was sie so drauf haben und danach zu Recht sich das Mahl reingezogen haben. Außerdem fehlt ein gutes Bier oder ein guter Wein, oder "das erste frische Wasser seit Wochen" um das Mahl so richtig sinnlich zu machen. Auch die Geschichte des Kleinen kommt doch sehr gestelzt daher: Wieso sollte der Wicht gerade unseren Geschwistern seine Lebensgeschichte erzählen und wieso sucht er überhaupt bei ihnen Schutz, wenn er offenbar so gut vorbereitet ist, dass er ein Sternemenü aus der Westentasche zaubert ?

5. Es blebit der Eindruck, dass die Geschichte noch einmal in die Überarbeitung gehen sollte. Dabei deutet gerade der erste Teil und auch Deine Fähigkeit, glaubhafte Dialoge zu schreiben, schon auf ein Happy End für die Story hin, wenngleich sie aus meiner Sicht gerade im zweiten Teil einer sehr brutalen Überarbeitung bedarf. Gerade die Short-Story lebt ja von ihren Konflikten und dem Tempo, dass die geschichte aufnehmen muss, um ihren Klimax zu erreichen und zur rechten Zeit wieder abzusinken in die Synthese. Da ist noch einiges an handwerklicher Nachbesserung notwendig und dennoch finde ich das eine sehr tolle Idee mit einigen wirklich ausgezeichneten Elementen.

mes compliments

Dionysos
 
Zuletzt bearbeitet:

d-m

Mitglied
Hallo @Dionysos von Enno

Vielen herzlichen Dank für deine detaillierte Kritik und die investierte Zeit. Du hast Dir sehr viel Mühe gegeben, ich weiss das wirklich zu schätzen. In deinem Beitrag steckt viel drin. Bei vielem stimme ich Dir zu, gewisse Dinge sehe ich etwas anders. Ich gehe im Detail auf deinen Leseeindruck ein:

Zu deinem ersten Punkt muss ich nicht viel sagen, den habe ich einfach genossen (Ok, vielleicht bis auf den letzten Satz ;-)). Vielen Dank dafür, habe mich wirklich sehr gefreut :)

Zu Punkt 2:

Bis zum Ende fragt man sich, wartet man förmlich, auf den Angriff der Wölfe auf die Farm der Geschwister und fühlt sich etwas um die investierten Emotionen betrogen, wenn es am Ende lapidar heißt, sie würden sich wohl noch etwas mit dem Sturm beschäftigen müssen.
Kann ich absolut verstehen und es war anfänglich auch so gedacht, dass die Wölfe auf ihren Motorrädern eben die Farm angreifen. Ich wollte dann aber einen eher ruhigeren Text schreiben, der nicht viel Action benötigt, sondern auch Spannung ohne erzeugen kann. Aber ja, Du hast da definitiv einen Punkt, dass man als LeserIn auf den Angriff wartet und dann eben enttäuscht wird. Muss ich mir nochmal überlegen und die Story diesbezüglich eventuell ausbauen, ist ein sehr guter Punkt!

Möglicherweise setzt sich diese Konfrontation aber auch in einem späteren Kapitel fort
Nein, die Geschichte soll in sich geschlossen sein und es gibt keine weiteren Kapitel.

Dies spricht m.E. dafür, dass der Anfang der Geschichte schon länger ausgearbeitet da gewesen ist, un du diese -möglicherweise zum Zwecke der Veröffentlichung- recht schnell fertig geschrieben hast, denn die folgenden Unstimmigkeiten deuten angesichts deines klar liegenden Talents eher auf eine gewisse Unruhe beim Verhärten des Werkes hin, die ein vorschnelles zu Ende schreiben aus textfernen Gründen notwendig machte.
Nagel auf den Kopf getroffen, denke ich. Wollte die Geschichte aber auch möglichst knapp halten, damit die nicht so ausufert (dafür habe ich ein Talent, meine Stories sind meistens lang, zumindest für eine KG, ich schaffe es unter keinen Umständen 'ne Geschichte unter 4000 Wörtern zu schreiben). Aber das war wohl ein Fehler. Du hast das schon sehr gut erkannt. Ich verstehe, dass ich da noch mehr Zeit investieren muss. Die Geschichte, zumindest so die erste Hälfte, vielleicht zwei Drittel, hatte ich schon eine geraume Zeit rumliegen und wollte die dann unbedingt fertigkriegen ...

Zu Punkt 3:

Woher weiß Eli, dass Pas Hut den Strom hinuntergetrieben wurde ?
Guter Punkt. Abgesehen davon, dass es Ada ist, der Pa findet, aber anyway: Er vermutet das nur. Werde ich ändern.

Woher wissen Eli bzw ada, dass Pa sich umgebracht hat ?
Es ist schon so geschrieben, dass man das als Leser zu dem Zeitpunkt, als Ada seinen Pa findet, noch nicht erfahren soll. Also er denkt ja an einen Bär und sucht nach Spuren in der Böschung, aber eigentlich weiss er das mit dem Suizid schon, er will es nur nicht wahrhaben. Seiner Schwester erzählt er ja dann erst ganz am Schluss die Wahrheit.

Woher kennt er die innere Motivlage des suzididerten Vaters so genau ?
Stimme ich Dir zu. Da muss ich nochmal drüber nachdenken, wie ich das besser machen kann.

Wie kann es sein, dass die Geschwister -eben noch dem kleinen Fremden die Flinte vor Argwohn unter die Nase haltend- diesen nun herzlich einladen und sich -ohne dass er selber ovn seinem Essen essen würde- an dem von ihm gekochten Mal gütlich tun, ohne auch nur ein einziges Mal Argwohn gegenüber dem Fremden zu entwickeln ?
Auch das. Sehr guter Einwand. Das geht viel zu schnell und zu einfach. Da muss ich nacharbeiten! Essen tun sie von dem Mahl, weil es ja genauso riecht, wie wenn ihre Ma gekocht hat und sowieso hat Mister Wind viele Eigenschaften ihrer Eltern. Ich denke, das wird schon deutlich genug, oder? Deshalb auch sozusagen das blinde Vertrauen. Aber wie gesagt: Als er auftaucht und zu ihnen reinkommt, das geht zu hastig. Ich mache mir da nochmal Gedanken.

Zu Punkt 4:

Der Auftritt des kleinen Männchens als eine Art Tom Bombadil der dystopischen Steppe ist wenig befriedigend geraten. Woher weiß der Zwerg, dass die Wölfe "heute Nacht nicht auftauchen". Auch seine Weisheit, man renne doch nur vor sich selber davon, kommt ziemlich aus dem Kontext gerissen und aus der Sicht unserer beiden Geschwister, die immerhin um Leib und Leben bangen müssen etwas sehr verkünstelt. Zwar gibt Dir sein Auftritt die Möglichkeit, noch ein Lied zu positionieren, aber er bringt die Story nicht voran, sondern lähmt sie eher. Eine solche "wir haben uns was verdient" Szene hätte man sicher eher nach dem Kampf mit den Wölfen erwartet, wo die beiden Geschwister gerade noch so mit ihrem Leben davongekommen sind, uns als Leser gezeigt hätten, was sie so drauf haben und danach zu Recht sich das Mahl reingezogen haben. Außerdem fehlt ein gutes Bier oder ein guter Wein, oder "das erste frische Wasser seit Wochen" um das Mahl so richtig sinnlich zu machen. Auch die Geschichte des Kleinen kommt doch sehr gestelzt daher: Wieso sollte der Wicht gerade unseren Geschwistern seine Lebensgeschichte erzählen und wieso sucht er überhaupt bei ihnen Schutz, wenn er offenbar so gut vorbereitet ist, dass er ein Sternemenü aus der Westentasche zaubert ?
Hier zitiere ich mal deinen gesamten Absatz. Ich kann deine Fragen absolut nachvollziehen, frage mich aber zugleich auch, ob ich die Geschichte nicht etwas zu undeutlich geschrieben habe. Es ist ja immer ein schlechtes Zeichen, wenn ein Autor seine Geschichte erklären muss. Der Vergleich mit Tom Bombadil gefällt mir. Jetzt etwas detaillierter zu Mister Wind: Er ist ja sozusagen die Verkörperung des alten Sturms, dem wahren Gott des Niemandslandes. Die Eltern von Ada und Eli leben im alten Sturm weiter, deshalb hat Mister Wind auch so viele Eigenschaften von ihnen. Mister Wind bzw. der alte Sturm bzw. die Seelen ihrer Eltern im alten Sturm besuchen die Kinder auf der Farm, um ihnen die Angst zu nehmen (vor dem Leben in der Einöde, vor dem unaufhaltbar auf sie zuschreitenden Fortschritt etc.). Mister Winds Geschichte ist ja sehr ähnlich wie die von Ada und Elis Pa: Auch er hat sich im Niemandsland zurückgezogen mit seiner Familie, glaubte an alte, überholte Götter und verteufelte die Menschen und ihre Städte. Adas und Elis Ma starb an einer Krankheit, Mister Wind bezeichnete die Städte als voller Sünde und Krankheit. Aber ihrer Ma hätte vielleicht geholfen werden können, wenn sie in die Stadt gezogen wären, draussen im Niemandsland hatte sie keine Chance und starb. Adas und Elis Pa kann damit nicht leben, er bringt sich um, wie es Mister Wind getan hatte.

Das mit dem Mahl sinnlicher gestalten nehme ich sehr gerne auf, ist eine gute Idee. Das Mister Wind sagt, er suche Schutz, ist nur ein Vorwand, um reinzukommen. Der braucht keinen Schutz.

Zu Punkt 5:

Dabei deutet gerade der erste Teil und auch Deine Fähigkeit, glaubhafte Dialoge zu schreiben, schon auf ein Happy End für die Story hin
Danke dafür. Mit den Dialogen tat und tue ich mich immer schwer, das bedeutet mir also was.

Da ist noch einiges an handwerklicher Nachbesserung notwendig und dennoch finde ich das eine sehr tolle Idee mit einigen wirklich ausgezeichneten Elementen.
Ja, ich denke, ich kann schon noch einiges dran feilen. Werde nochmal in mich gehen! Zum Rest einfach nur ein grosses Danke. Auch das Dir die Geschichte trotz deiner doch umfangreichen Kritik immer noch 4 Sterne wert war, macht mir Mut, weiterzuschreiben und dranzubleiben! Zuckerbrot und Peitsche, so motiviert man das Gegenüber ;) Ja, bleibt mir nur nochmal zu sagen: Vielen Dank für deine Zeit und die vielen Anregungen! Und natürlich ein ganz grosser Dank fürs Lesen überhaupt.

Viele Grüsse,
d-m
 



 
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