Der Tod fürchtet sich vor Lärm
Es ist windig und die Maschine schwankt ein wenig, als sie vom Boden abhebt. Es drückt mich in den Sitz und ich spähe aus dem Fenster, hinunter auf Lanzarote - meine Insel, die ich seit fünf Jahren nicht mehr verlassen habe. Unten entdecke ich mein Haus, es ist ein kleiner rechteckiger Punkt am Ortsausgang von Maguez, und kurz darauf stechen wir durch die Passatwolken, die sich wie üblich im Norden der Insel stauen.
Als das gleißende Sonnenlicht durchs Fenster dringt, durchzuckt mich ein Gedanke: "Himmel, du hast heute früh keine Tablette genommen!" Panik kommt auf und ich durchsuche mein Handgepäck: Adressbuch, Historienwälzer, Schminktasche, Haarbürste ... Die Tabletten müssen in meiner Reisetasche sein – oder schlimmer noch, zu Hause in Tablettenschrank. Wie soll ich ohne Schmerzmittel zwei Wochen mit meiner Mutter durchstehen? Hätte ich doch nur auf den Zahnarzt gehört! Er diagnostizierte eine „massive Wurzelentzündung“ und wollte den Zahn ziehen. Ich hingegen glaubte daran, die Wurzel retten zu können. Vor fünf Jahren hatte ich das gleiche Problem mit dem gleichen Zahn gehabt und es hatte sich von selbst gegeben. Also lehnte ich ab und der Zahnarzt verschrieb mir eine Klinikpackung Schmerztabletten mit den besten Wünschen für meinen Urlaub in Deutschland. Toll! Und nun habe ich sie heute früh nicht genommen und vielleicht sogar zu Hause vergessen! Ich könnte mich ohrfeigen! Und diesem einfallslosen Zahnarzt wünsche ich eine meterdicke Backe ... Backe? Hallo, was ist denn das? Ein völlig neues Gefühl! Keine Schmerzen, kein Kribbeln, nichts fühlt sich taub an! Vorsichtig betaste ich meine rechte Gesichtshälfte. Die Schwellung ist kaum mehr wahrzunehmen. Das darf ja nicht wahr sein! Spontanheilung, schießt es mir durch den Kopf. Juhu!! Der Zahn ist geheilt und der Urlaub gerettet! Ein klein wenig zweifle ich noch, höre in meine rechte Backe hinein ... aber da ist wirklich nichts. Das Kiefer fühlt sich an, als sei es nicht vorhanden. Gut so, denke ich, die linke Backe spüre ich ja auch nicht. Außerdem werde ich den Zahnarzt wechseln!
Als die Stewardess mit dem Getränkewagen an meiner Reihe hält, bestelle ich einen Kaffee. Und ein Bier! Ohne Schmerzmittel darf ich ja etwas trinken. Das muss gefeiert werden.
Es ist kühl in Deutschland. Während ich die Gangway hinunter gehe, greife ich instinktiv an meine rechte Wange, um sie vor der kalten Luft zu schützen. Gottseidank, es rührt sich immer noch nichts, nicht die Spur von Schmerz.
Am Gepäckband drängeln sich die Leute. Jetzt erst wird mir bewusst, dass ich iun einer Urlaubermaschine war: alle sind braun gebrannt, etwas müde vom Flug, aber erfüllt von wunderbaren Geschichten, die sie ihren Lieben erzählen werden. Das erste Mal seit fünf Jahren befinde ich mich ausschließlich von Deutschen umgeben. So schnell kann es gehen, sich in der Heimat fremd zu fühlen. Und wie ist es auf meiner Insel? Bin ich in der Fremde zu Hause? Ich weis es nicht, denke ich und fasse schon wieder an meine Backe. Sie tut immer noch nicht weh – und das stimmt mich jetzt eigenartig sehnsüchtig. Fast wünsche ich mir den Schmerz zurück, er würde mir das Gefühl geben, hier zu sein.
Hinten am Gepäckband blitzt etwas Rotes auf, es ist meine Reisetasche und ich drängle mich an einer Familie vorbei, deren Kinder müde am Hosenbein der Mutter hängen und an ihren Daumen lutschen. Der Vater steht ganz vorne am Band und wartet ungeduldig aufs Gepäck. Er beugt sich vor wie ein Raubvogel, der gleich zuhacken wird. Es ist aktiver, bestimmter Mann, der weis, was er will und sich um seine Familie kümmert. Von meinem Vater hätte man so etwas nicht behaupten können. Er hat sich aus dem Staub gemacht, als ich Vier war. In meiner Erinnerung ist er praktisch nicht vorhanden, aber für meine Mutter existiert er nach all den Jahren immer noch als tiefes Loch, das nie heilen wird.
Unwirsch stupse ich den Familienvater: "Meine Tasche! Kann ich mal?" sage ich. Er macht mir Platz, ohne seinen Blick von der Klappe zu wenden, aus dem die Gepäckstücke aufs Förderband purzeln.
Hinter der Glastür entdecke ich meine Mutter. Sie winkt mit einem weißen Taschentuch, als käme ihr nicht ein Strom von Urlaubern entgegen, sondern eine Befreiungsarmee. So etwas bringt nur sie fertig, immer die falschen Gesten zum falschen Zeitpunkt. Und wie immer ist mir das peinlich – sie selbst kommt sich großartig vor. Während ich langsam dem Strom von Menschen folge, lächle ich ihr zu und hebe die Hand zu einem kleinen Zeichen. Das lässt sie nur noch heftiger winken. Meine Mutter braucht große Worte und große Gesten; leise Hinweise ziehen einfach an ihr vorbei. Ganz die Alte, denke ich und grummle in mich hinein. Sie wird sich nie ändern, sie wird nie begreifen, dass ich die Theatralik nicht ausstehen kann, mit der sie sich bemerkbar macht und überall aus der Reihe tanzt. Klar, dass alle Umstehenden gespannt darauf sind, welcher Passagier eine so überschwängliche Begrüßung erhält. Klar, dass alle zusehen, wie meine Mutter durch die Sperre prescht, sobald ich an der Glastür ankomme, klar, dass alle hören, wie sie unter Freudentränen ruft: "Angela, mein Engelchen!" Klar, dass sich die Leute stupsen und auch jene auf uns aufmerksam machen, die sich gerade mit wichtigeren Dingen beschäftigen. Wie immer könnte ich im Boden versinken, ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt, aber da hat sie mich schon in ihren weichen, runden Armen und drückt mich an ihren Busen. "Mama, nenn mich nicht Engelchen", flüstere ich ihr ins Ohr und schiebe sie durch die Menschenmenge, die wie ein Bienenstamm den Ausgang bevölkert. „Ich weis, dass du das nicht magst, mein Engelchen“, flüstert sie zurück. „Aber du bist mein Engelchen. Was kann ich dafür“?
Endlich sind wir draußen. Ein kühler Windstoß fährt mir durch die Haare und meine Nase wittert die abgasgeschwängerte Stadtluft. Ja, jetzt bin ich in Deutschland, dieser Geruch sagt mir etwas. Ich stelle meine Reisetasche am Boden ab und umarme meine Mutter. "Hallo Mama", sage ich und stelle fest, dass sie dünner geworden ist. Sie wirkt so zart und porös wie eine Strohblume vom letzten Sommer. Nur ihr Duft nach Rosenwasser ist stark und intensiv wie früher, ich sauge ihn in mich auf und kann mich nun endlich über unser Wiedersehen freuen. "Wo hast du geparkt?" frage ich und hebe meine Reisetasche wieder auf.
Meine Mutter winkt nach einem Taxi: "Gar nicht. Ich habe mich von meinem Wagen getrennt!" flötet sie fröhlich. In ihren Augen entdecke ich einen kleinen Schatten.
"Was ist passiert?" frage ich, aber da hält das Taxi und der Fahrer steigt schwungvoll aus, reißt mir die Tasche aus der Hand, hievt sie in den Kofferraum und öffnet die Hintertür. Meine Mutter wirft ihm einen schelmischen Blick zu: "Aber nicht, dass sie auch so rasant fahren wie sie einpacken! Sie transportieren eine wertvolle Fracht!" Mit einer stolzen Geste deutet sie auf mich und fügt hinzu: "Mein Engelchen kommt nur alle paar Jahre zu Besuch!"
Ich werfe ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Stimmt doch!“ antwortet sie und steigt ein.
Das Taxi parkt vor dem Haus, in das wir nach dem Tod meines Vaters eingezogen sind. Es ist ein kleines Drei-Familien-Haus am Stadtrand mit einem hübschen Vorgarten und einem stets frisch gestrichenen, weißen Zaun.
Als wir vor der Haustür stehen, kann meine Mutter den Schlüssel nicht finden. Sie kramt hektisch in ihrer viel zu großen Tasche und als sie ihn endlich heraus zieht, zittert ihre Hand vor Aufregung. Sie hat Mühe, das Schlüsselloch zu finden, und ich bemerke, dass sie nicht nur dünner, sondern auch kleiner geworden ist. Beim letzten Besuch schon hatte ich das Gefühl, sie nicht mehr alleine lassen zu könnnen. Jetzt bin ich sicher, dass sie Hilfe braucht. „Mama, dieses Mal kommst du mit auf die Insel!“ sage ich. „Mein Haus ist groß genug für zwei!“
„Kommt nicht in Frage!“ antwortet sie und sperrt energisch auf. „Ich komme sehr gut alleine zu recht!“ Mit kleinen, raschen Schritten geht sie voran in den Hausflur, nimmt aber dann nicht die Treppe zu unserer Wohnung im ersten Stock, sondern geht geradeaus zur Erdgeschosswohnung. „Mama, was machst du?“ rufe ich ihr zu, doch sie sperrt bereits die untere Wohnung auf. „Ich wohne nicht mehr oben!" sagt sie und hält mir die Tür auf.
Ein ungutes Gefühl macht sich breit und ich fasse mir wieder an die Backe. Kein Zahnweh, alles klar.
Die Erdgeschosswohnung ist genauso geschnitten wie die obere und Mutter hat sie auch genauso eingerichtet. Im Flur steht an der gleichen Stelle wie oben das kleine Biedermeierschränkchen mit dem grünen Telefon darauf, im Wohnzimmer prangt immer noch der erdrückende, für den kleinen Raum viel zu große Bauernschrank, davor der Perserteppich in dunklen Rottönen, an der Westwand das grüne Samtsofa mit den grünen Sesseln und über dem Klavier an der Ostwand das einzige Familienfoto, das es von uns gibt: Vater, Mutter und ein fröhliches Kind.
"Ist ja alles so wie oben!" bemerke ich.
Meine Mutter zieht die Vorhänge vor der Terrassentür zurück und ruft: "Überraschung!"
Dort, wo oben nur ein schmaler Balkon war, zeigt sich hier eine geräumige Terrasse mit einem Meer aus bunten Blumen in Terrakotta-Kübeln. "Na! Das ist doch ein Fortschritt!" flötet meine Mutter und wieder entdeckte ich die Spur von Trauer in ihren Augen.
Abgesehen von den Pflanzen gibt es auf der Terrasse noch etwas Neues: einen runden Teakholztisch mit zwei bequemen Sesseln.
"Ist zwar kühl", sagt meine Mutter. "Aber zur Feier des Tages sollten wir draußen Kaffee trinken!"
Ich nicke und krame in meiner Reisetasche nach einem Pullover. Jetzt fallen mir wieder die Schmerztabletten ein. Ich muss mich schützen! Panisch breite ich den Inhalt der Tasche auf dem Perserteppich aus, krame im Toilettenbeutel, suche die Innentaschen ab – nichts. Ich habe sie wirklich nicht dabei.
"Was suchst du denn?" unterbricht mich meine Mutter. Sie steht mit einem Tablett in der Hand vor mir und beäugt meine verstreuten Sachen mit kritischem Blick. Ihr Hände zittern ein wenig; auf der Kaffeekanne klirrt leise der Deckel.
"Nichts. Nur meine Schmerztabletten. Ich hab Zahnweh gehabt, aber das ist jetzt schon wieder vorbei!" antworte ich und stopfe die Sachen wieder zurück in die Tasche.
Es gibt Zwetschgenkuchen mit Sahne – mein Lieblingsgebäck, das ich fünf Jahre nicht mehr gegessen habe. Als vom zweiten Stück nur noch ein Bissen übrig ist, frage ich: "Mama. Was ist passiert? Kein Auto ... eine neue Wohnung!"
"Nichts. Ich werde nur älter, Engelchen!" antwortet meine Mutter. Wieder dieser Anflug von Trauer in ihren Augen, den sie mit einer gezierten Handbewegung und einem fröhlichen Lächeln weg wischt.
"Was ist passiert?" insistiere ich, denn so einfach lasse ich mich täuschen. "Und warum hast du mir weder am Telefon noch in deinen Briefen davon erzählt?"
"Mir war nur das Treppensteigen zu viel"
"Und das Auto?"
"Nichts. Es war mir lästig."
"Mama. Lüg mich nicht an. Ich habe ein Recht, zu erfahren, was los ist!"
"Ein Recht?"
"Ja. Ich bin deine Tochter!" sage ich und stopfe das letzte Kuchenstück in den Mund.
Meine Mutter streicht ein paar Krümel von der Tischdecke und pustet sie dann auf den Boden. "Na ja..." sagt sie, steht auf und packt das Geschirr aufs Tablett. Ihre Hände zittern so heftig, dass sie Inhalt der Zuckerdose über den Tisch verstreut.
"Lass mal Mama, das mach` ich" sage ich, nehme ihr das Tablett aus der Hand und trage es in die Küche. Auch dort steht alles am selben Platz wie oben, die Küchenschränke glänzen wie neu, aber ich entdecke den Kratzer, der mir vor fünf Jahren an der Besteckschublade passiert ist. Während ich das Geschirr in die Maschine räume, lehnt meine Mutter in der Tür und sieht mir zu. "Du bist schlanker geworden. Und ein bisschen blass", sagt sie mit diesem besorgten Unterton, der mich als Jugendliche auf die Palme brachte. Heute tut ihre Frage gut, sie erinnert mich an das Gefühl, Tochter zu sein, und keine Verantwortung zu tragen.
"Ich hatte eine üble Zahngeschichte" antworte ich und schließe die Ladeklappe der Maschine. "Eine Wurzelbehandlung. Du weist ja, wie weh so was tut!"
"Brauchst du Nelken?" fragt meine Mutter.
"Bloß nicht!" antworte ich. Gewürznelken sind Mamas Allheilmittel und es schüttelt mich beim Gedanken an den scharf-bitteren Geschmack und das pelzige Gefühl im Mund, als ich meine letzten Zahnschmerzen damit bekämpfte. Eigenartig. Jetzt erst fällt mir die Parallellität auf: Vor fünf Jahren hatte sich die Wurzel des gleichen Zahns gemeldet, damals allerdings umgekehrt. Die Schmerzen kamen, als ich im Flugzeug saß und waren auf dem Rückflug verschwunden. Ich fühle in meine Backe hinein - nichts, kein Ziehen, kein Stechen, keine Schwellung.
"Bist du wirklich in Ordnung?" fragt meine Mutter. Sie steht immer noch in der Tür und wirkt müde.
"Ich bin in Ordnung, Mama. Aber dir geht´s nicht gut. Das sehe ich doch. Du bist dünner geworden!" antworte ich.
"Nur älter, Engelchen", sagt meine Mutter, dreht sich um und geht hinaus auf die Terrasse.
„Eben! Deshalb nehme ich Dich mit auf die Insel!“ rufe ich ihr hinterher. Aber sie winkt mir nur über die Schulter zu, ohne sich umzudrehen.
Es ist erst halb Zehn, aber wir sind müde geworden. Meine Mutter hat sich ins Schlafzimmer verzogen und sieht vom Bett aus fern. Es ist eine unvernünftige und ungesunde Angewohnheit, und ich ärgere mich über ihre Sturheit. Seit Jahren warne ich sie vor den gesundheitlichen Schäden, die Elektrosmog bewirkt, aber sie will davon nichts wissen. Als ich sie heute zum hundertsten Mal darauf hin wies, hat sie nur patzig geantwortet: „Wenn du auf deiner Insel weder fern siehst noch Radio hörst, dann ist das deine Sache. Aber in meiner Wohnung mache ich, was ich will. Basta!“
Der Fernseher ist viel zu laut, ich höre ihn bis ins Bad. Es muss ein amerikanischer Krimi laufen, denn dramatische Musik wechselt sich ab mit Schüssen und Reifenquietschen. Meine Mutter muss jetzt auch schlechter hören - früher habe ich den Fernseher nicht gehört. Auf dem Weg in mein Zimmer will ich noch schnell bei meiner Mutter vorbei schauen. Ich klopfe an ihre Schlafzimmertür, aber der Fernseher ist viel zu laut; sie kann mich nicht hören. Als ich eintrete, schreckt sie hoch, sie muss eingeschlafen sein. "Mama, ich muss mit dir reden", sage ich.
Sie setzt sich auf und jetzt erst bemerke ich, dass sie nackt im Bett liegt. "Mama! Warum hast du nichts an?"
Beschämt – wie ertappt – sieht sie an sich hinunter und sagt: "Stimmt. Ich habe es vergessen!".
Ihr Nachthemd liegt auf dem Stuhl neben dem Schrank und ich reiche es ihr. Umständlich versucht sie, sich das Hemd über zu ziehen. An ihrem Gesicht erkenne ich, dass sie Schmerzen hat. "Mama! Was ist denn los?"
"Ein bisschen Rheuma" antwortet sie. "Halb so schlimm!"
Und vielleicht auch ein bisschen Alzheimer, denke ich. Wer Rheuma hat, vergisst doch nicht, sein Nachthemd anzuziehen! Ich helfe ihr in die Ärmel und genieße den zarten Rosenduft, der sich im Baumwollstoff gefangen hat. "Schlaf gut, Mama!" sage ich, drücke sie sanft aufs Kissen und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Als ich den Fernseher ausschalten will, brüllt sie: "Nein!" und sitzt wieder aufrecht im Bett.
"Aber du hast doch vorhin schon geschlafen!"
"Ich kann nicht schlafen, wenn es still ist!" sagt sie und setzt ein eigenartiges Lächeln auf. "Der Tod fürchtet sich vor Lärm!"
Das ist es also! Ich ringe nach Worten, will ihr sagen, dass sie nicht so einen Blödsinn reden soll, dass sie noch viel zu jung fürs Sterben sei und dass ich sie noch brauche. Aber es geht nicht. Es ist nicht wahr, und ich weis das. Schwindeln war noch nie meine Stärke – sie hätte es mir auch nicht geglaubt. Also lasse ich den Fernseher laufen, küsse sie noch einmal auf die Stirn und wünsche ihr eine gute Nacht.
Es ist vier Uhr früh und der Fernseher ist immer noch an. Ich bin es nicht gewöhnt, bei solchen Geräuschen zu schlafen und stehe jetzt endlich auf, um diesem Ding den Saft abzudrehen. Aber kaum bin ich in Mutters Zimmer, sitzt sie wieder aufrecht im Bett und schreit: "Nein!"
Ich kann vor Müdigkeit kaum stehen und wanke zurück in mein Zimmer. Auch hier hat sich nichts verändert, es ist immer noch so wie früher – nur eben einen Stock tiefer. Die Möbel stammen aus meiner Kinder- und Jugendzeit. Neben ein paar Bilderbüchern im Regal sitzen meine Barbiepuppen, ein Ken und drei Barbies. Eine blonde, eine Rothaarige und eine, die ursprünglich eine schwarze Mähne hatte. Ich stehe auf und hole sie vom Regal. Meine Fingerkuppen berühren den geschorenen Kopf, die kleinen Haarspitzen kitzeln wie früher und ich höre meine Mutter klagen: "Man schneidet einer Puppe nicht die Haare ab! Wie kannst du nur so undankbar sein!"
Diese Puppe war der Anfang einer endlosen Reihe unausgesprochener Vorwürfe, die alle in dem harten Wort "undankbar" mündeten. Wäre ich dankbar gewesen, hätte ich ein klasse Abitur hingelegt und Medizin studiert. Ich hätte das Kind ausgetragen und meine Mutter zur Großmutter gemacht. Und ich hätte den Job beim Goehte-Institut behalten und würde immer noch drei Straßen weiter wohnen. All das ist mir nicht gelungen. Mein Notendurchschnitt reichte nur für Kunstgeschichte, der Vater meines ungeborenen Kindes erwies sich als Trunkebold – ich habe es abgetrieben und mich scheiden lassen. Als ich den Job am Goethinstitut verlor, habe ich die Wohnung gekündigt und bin auf meine Insel gezogen. Seitdem geht´s mir gut.
Aber hier in diesem Zimmer kommt das alles wieder hoch und ich habe wie früher das Bedürfnis, die Puppe in den Müll zu werfen, sie einfach aus meinem Leben zu entfernen. Damals hatte das nichts genützt, meine Mutter hat sie aus der Mülltonne gefischt und wieder zurück ins Regal gestellt.
Es ist jetzt halb Sechs und ich habe noch keine Minute geschlafen. Um sieben werde ich Mutter wecken, den Fernseher ausschalten und mich dann endlich hinlegen.
Ich bin jetzt schon zehn Tage in Deutschland und trunken vor Müdigkeit. Seit ein paar Nächten nicke ich wenigstens für ein- zwei Stündchen ein, aber wirklich gewöhnen kann ich mich an den Krach nebenan nicht.
Mutter ist gerade in der Küche und bereitet das Mittagessen vor. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ihr Adressbuch und ich schlage es auf. Hinter fast jedem Namen ist mit rotem Filzstift ein Kreuz gemalt. Das ist eine alte Gewohnheit meiner Mutter: Wenn jemand stirbt, schmückt sie den Namen mit einem roten Kreuz. Dieses Adressbuch scheint relativ neu zu sein und ich finde die Namen von Verwandten und alten Bekannten, die schon vor langer Zeit gestorben sind. Sie hat also auch die Toten ins neue Adressbuch übertragen! Ich prüfe das Buch genauer und suche nach Lebenden – außer einer alten Freundin finde ich nur Ärzte und Behörden, die kein rotes Kreuz tragen. Und ganz hinten, beim Buchstaben "X" steht der Name meines Vaters, mit einem roten Kreuz und unserer alten Adresse.
Mein Mutter fürchtet den Tod. Gleichzeitig pflegt sie ihn wie ihre Pflanzen. Und sie spricht mit den Toten aus ihrem Adressbuch! Vor drei Tagen hatte ich Gelegenheit, sie dabei zu beobachten. Ich wollte mich mit einer Zeitung zu ihr auf die Terrasse setzen, aber sie hatte mich nicht bemerkt. Also blieb ich hinter ihr stehen und belauschte einen merkwürdigen Monolog.
"Hallo Xaver!“, sagte sie mit einem starren Blick auf ihr aufgeschlagenes Adressbuch. „Ich hab mich lange nicht mehr gemeldet. Unser Engelchen ist zu Besuch ... Uns geht’s gut. Und Dir? ... Was, NICHT gut? ... Ach, du hast Edwald getroffen? ... Xaver, ich habe dir zu Lebzeiten schon gesagt: Lass die Finger von ihm. Seine Ideen bringen dich nur durcheinander ... Ich? Ich will noch ein klein wenig bleiben. Ist noch nicht alles erledigt ... Nein, es macht mir nichts aus, dass ihr schon alle oben seid ... Engelchen kommt gut klar ... Ja, sie geht mir ab. Aber man muss die jungen Schwalben ziehen lassen ... Jetzt hör aber auf, Xaver! ... Nein, ich werde das Handtuch noch nicht schmeißen! .. Ja, ich pass auf mich auf!"
Als ich meine Mutter zur Rede stellte, meinte sie nur: "Ich werde eben alt. Da muss man sich doch auf später vorbereiten – oder? Du rufst mich ja auch an, bevor du fliegst!"
Meine Mutter war immer schon etwas anders. Aber nun mache ich mir ernsthaft Sorgen. Gestern habe ich mit einem Sozialdienst telefoniert. Es sind sehr nette Leute, die sich auch gerne um meine Mutter kümmern würden. Aber meine Mutter lehnte ab. "Ich bin zwar alt, aber so alt nun auch wieder nicht! Ich schaffe das schon alleine, flieg du nur ruhig wieder auf deine Insel!"
Wie kann ich ruhig auf meine Insel fliegen, wenn zu Hause alles drunter und drüber geht? Meine Mutter ist vergesslich geworden, unaufmerksam und unkonzentriert. Sie wird von Zitteranfällen heimgesucht und manchmal kann sie links und rechts nicht unterscheiden. Es ist gut, dass sie kein Auto mehr hat. Eigenartiger Weise sieht sie das auch selbst so, alles andere leugnet sie schlichtweg ab. Vor allem aber will sie sich nicht helfen lassen und besteht darauf, die Vorbereitung auf ihren Tod alleine durchzustehen. Als ob das eine Kleinigkeit wäre! "Aber Mama, du hast doch Angst vor dem Tod!" sagte ich ihr einmal in einem Anflug von Verzweiflung.
"Habe ich nicht!"
"Und warum läuft dann die ganze Nacht der Fernseher?"
"Ach, stört er dich?"
Ich gab es auf. Da war nichts zu retten, sie wollte bei ihrem alten Stiefel bleiben, egal was ich davon hielt. Es war wie früher – und doch ein wenig anders. Früher wollte sie in meine Suppe spucken – jetzt ist es umgekehrt. Aber wie früher muss ich die Dinge geschehen lassen und kann nicht mehr tun als meine Koffer packen und gehen. Morgen ist es soweit. Ich werde den Flieger besteigen und für die nächsten fünf Jahre mein eigenes Süppchen kochen.
Unter mir tauchen die Alpen auf, ein paar Gletscher leuchten zwischen dem Grau der Felsen wie kleine, schmutzige Gästehandtücher. Ich sitze nahe an den Turbinen und gebe mich ihrem Brummen hin. Endlich schlafen! Mein Augenlider werden schwer und schwerer, ich sinke in den Sessel und fühle mich eins mit dem leise wahrnehmbaren Vibrieren der Maschine. Doch plötzlich pocht etwas, ein Stechen zieht von meiner Backe bis hinauf in die Schläfe! Oh nein! Hier ist es wieder, das alte Zahnweh, das ich fast vergessen hatte! Bitte nicht! Aber es lässt mich nicht los, es zieht und pocht gleichzeitig, ein Schmerz, der mir Tränen in die Augen treibt. Hilfe! Meine Schmerztabletten! Sie liegen immer noch zu Hause und ich habe mir in Deutschland keinen Nachschub besorgt! Wie dumm von mir, daran hätte ich doch denken können!
"Geht’s ihnen nicht gut?" fragt die Stewardess und beugt sich zu mir herunter. Ich muss wohl ziemlich bleich geworden sein.
"Zahnweh!" sage ich und sie nickt verständnisvoll. Das Aspirin lehne ich ab, bei diesem Schmerz ist es sinnlos und bringt mir höchstens Sodbrennen ein. Ein Blick auf die Uhr. Noch drei Stunden Flug, auschecken und dann die Heimfahrt ... frühestens in fünf Stunden werde ich an meine Tabletten kommen. "Könnte ich einen Eisbeutel haben?" frage ich die Stewardess. Sie nickt, und ein paar Minuten später darauf presse ich die kalte Wohltat auf meine Backe. Diese ist gerade dabei anzuschwellen; das Eis wird nur das Schlimmste verhindern können.
Wie fliegen durch eine Gewitterfront. Die Maschine wird gebeutelt und ächzt wie ein alter Eisenbahnwagon, die Stöße hallen in meiner Backe und die Turbinen heulen auf. Wir müssen uns anschnallen. Die Lichter in der Kabine gehen aus, Kinder fangen an zu heulen und die Frau neben mir wird bleich. Auch mir wird es zusehens mulmiger, die Kinder kreischen lauter, die Maschine stöhnt unter den harten Schlägen der Turbulenzen und langsam kommt auch bei mir Panik auf.
"Keine Angst, Engelchen", flüstert mir eine ewig nicht mehr gehörte Männerstimme zu. "Der Tod fürchtet sich vor Lärm!"
"Ich weis, Papa", antworte ich und presse den Eisbeutel fester auf meine Backe. "Dreh bitte Mamas Fernseher lauter!"
„Nicht mehr nötig“, antwortet er.
Hinter der Fensterluke türmen sich dunkelgraue Wolken, ich richte mich auf und betrachte das Schauspiel, als säße ich im Kino. Ein Blitz teilt den Himmel und meine Mutter flüstert: "Stromausfall, mein Engelchen. Vor dem Donner ist alles still."
Es ist windig und die Maschine schwankt ein wenig, als sie vom Boden abhebt. Es drückt mich in den Sitz und ich spähe aus dem Fenster, hinunter auf Lanzarote - meine Insel, die ich seit fünf Jahren nicht mehr verlassen habe. Unten entdecke ich mein Haus, es ist ein kleiner rechteckiger Punkt am Ortsausgang von Maguez, und kurz darauf stechen wir durch die Passatwolken, die sich wie üblich im Norden der Insel stauen.
Als das gleißende Sonnenlicht durchs Fenster dringt, durchzuckt mich ein Gedanke: "Himmel, du hast heute früh keine Tablette genommen!" Panik kommt auf und ich durchsuche mein Handgepäck: Adressbuch, Historienwälzer, Schminktasche, Haarbürste ... Die Tabletten müssen in meiner Reisetasche sein – oder schlimmer noch, zu Hause in Tablettenschrank. Wie soll ich ohne Schmerzmittel zwei Wochen mit meiner Mutter durchstehen? Hätte ich doch nur auf den Zahnarzt gehört! Er diagnostizierte eine „massive Wurzelentzündung“ und wollte den Zahn ziehen. Ich hingegen glaubte daran, die Wurzel retten zu können. Vor fünf Jahren hatte ich das gleiche Problem mit dem gleichen Zahn gehabt und es hatte sich von selbst gegeben. Also lehnte ich ab und der Zahnarzt verschrieb mir eine Klinikpackung Schmerztabletten mit den besten Wünschen für meinen Urlaub in Deutschland. Toll! Und nun habe ich sie heute früh nicht genommen und vielleicht sogar zu Hause vergessen! Ich könnte mich ohrfeigen! Und diesem einfallslosen Zahnarzt wünsche ich eine meterdicke Backe ... Backe? Hallo, was ist denn das? Ein völlig neues Gefühl! Keine Schmerzen, kein Kribbeln, nichts fühlt sich taub an! Vorsichtig betaste ich meine rechte Gesichtshälfte. Die Schwellung ist kaum mehr wahrzunehmen. Das darf ja nicht wahr sein! Spontanheilung, schießt es mir durch den Kopf. Juhu!! Der Zahn ist geheilt und der Urlaub gerettet! Ein klein wenig zweifle ich noch, höre in meine rechte Backe hinein ... aber da ist wirklich nichts. Das Kiefer fühlt sich an, als sei es nicht vorhanden. Gut so, denke ich, die linke Backe spüre ich ja auch nicht. Außerdem werde ich den Zahnarzt wechseln!
Als die Stewardess mit dem Getränkewagen an meiner Reihe hält, bestelle ich einen Kaffee. Und ein Bier! Ohne Schmerzmittel darf ich ja etwas trinken. Das muss gefeiert werden.
Es ist kühl in Deutschland. Während ich die Gangway hinunter gehe, greife ich instinktiv an meine rechte Wange, um sie vor der kalten Luft zu schützen. Gottseidank, es rührt sich immer noch nichts, nicht die Spur von Schmerz.
Am Gepäckband drängeln sich die Leute. Jetzt erst wird mir bewusst, dass ich iun einer Urlaubermaschine war: alle sind braun gebrannt, etwas müde vom Flug, aber erfüllt von wunderbaren Geschichten, die sie ihren Lieben erzählen werden. Das erste Mal seit fünf Jahren befinde ich mich ausschließlich von Deutschen umgeben. So schnell kann es gehen, sich in der Heimat fremd zu fühlen. Und wie ist es auf meiner Insel? Bin ich in der Fremde zu Hause? Ich weis es nicht, denke ich und fasse schon wieder an meine Backe. Sie tut immer noch nicht weh – und das stimmt mich jetzt eigenartig sehnsüchtig. Fast wünsche ich mir den Schmerz zurück, er würde mir das Gefühl geben, hier zu sein.
Hinten am Gepäckband blitzt etwas Rotes auf, es ist meine Reisetasche und ich drängle mich an einer Familie vorbei, deren Kinder müde am Hosenbein der Mutter hängen und an ihren Daumen lutschen. Der Vater steht ganz vorne am Band und wartet ungeduldig aufs Gepäck. Er beugt sich vor wie ein Raubvogel, der gleich zuhacken wird. Es ist aktiver, bestimmter Mann, der weis, was er will und sich um seine Familie kümmert. Von meinem Vater hätte man so etwas nicht behaupten können. Er hat sich aus dem Staub gemacht, als ich Vier war. In meiner Erinnerung ist er praktisch nicht vorhanden, aber für meine Mutter existiert er nach all den Jahren immer noch als tiefes Loch, das nie heilen wird.
Unwirsch stupse ich den Familienvater: "Meine Tasche! Kann ich mal?" sage ich. Er macht mir Platz, ohne seinen Blick von der Klappe zu wenden, aus dem die Gepäckstücke aufs Förderband purzeln.
Hinter der Glastür entdecke ich meine Mutter. Sie winkt mit einem weißen Taschentuch, als käme ihr nicht ein Strom von Urlaubern entgegen, sondern eine Befreiungsarmee. So etwas bringt nur sie fertig, immer die falschen Gesten zum falschen Zeitpunkt. Und wie immer ist mir das peinlich – sie selbst kommt sich großartig vor. Während ich langsam dem Strom von Menschen folge, lächle ich ihr zu und hebe die Hand zu einem kleinen Zeichen. Das lässt sie nur noch heftiger winken. Meine Mutter braucht große Worte und große Gesten; leise Hinweise ziehen einfach an ihr vorbei. Ganz die Alte, denke ich und grummle in mich hinein. Sie wird sich nie ändern, sie wird nie begreifen, dass ich die Theatralik nicht ausstehen kann, mit der sie sich bemerkbar macht und überall aus der Reihe tanzt. Klar, dass alle Umstehenden gespannt darauf sind, welcher Passagier eine so überschwängliche Begrüßung erhält. Klar, dass alle zusehen, wie meine Mutter durch die Sperre prescht, sobald ich an der Glastür ankomme, klar, dass alle hören, wie sie unter Freudentränen ruft: "Angela, mein Engelchen!" Klar, dass sich die Leute stupsen und auch jene auf uns aufmerksam machen, die sich gerade mit wichtigeren Dingen beschäftigen. Wie immer könnte ich im Boden versinken, ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt, aber da hat sie mich schon in ihren weichen, runden Armen und drückt mich an ihren Busen. "Mama, nenn mich nicht Engelchen", flüstere ich ihr ins Ohr und schiebe sie durch die Menschenmenge, die wie ein Bienenstamm den Ausgang bevölkert. „Ich weis, dass du das nicht magst, mein Engelchen“, flüstert sie zurück. „Aber du bist mein Engelchen. Was kann ich dafür“?
Endlich sind wir draußen. Ein kühler Windstoß fährt mir durch die Haare und meine Nase wittert die abgasgeschwängerte Stadtluft. Ja, jetzt bin ich in Deutschland, dieser Geruch sagt mir etwas. Ich stelle meine Reisetasche am Boden ab und umarme meine Mutter. "Hallo Mama", sage ich und stelle fest, dass sie dünner geworden ist. Sie wirkt so zart und porös wie eine Strohblume vom letzten Sommer. Nur ihr Duft nach Rosenwasser ist stark und intensiv wie früher, ich sauge ihn in mich auf und kann mich nun endlich über unser Wiedersehen freuen. "Wo hast du geparkt?" frage ich und hebe meine Reisetasche wieder auf.
Meine Mutter winkt nach einem Taxi: "Gar nicht. Ich habe mich von meinem Wagen getrennt!" flötet sie fröhlich. In ihren Augen entdecke ich einen kleinen Schatten.
"Was ist passiert?" frage ich, aber da hält das Taxi und der Fahrer steigt schwungvoll aus, reißt mir die Tasche aus der Hand, hievt sie in den Kofferraum und öffnet die Hintertür. Meine Mutter wirft ihm einen schelmischen Blick zu: "Aber nicht, dass sie auch so rasant fahren wie sie einpacken! Sie transportieren eine wertvolle Fracht!" Mit einer stolzen Geste deutet sie auf mich und fügt hinzu: "Mein Engelchen kommt nur alle paar Jahre zu Besuch!"
Ich werfe ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Stimmt doch!“ antwortet sie und steigt ein.
Das Taxi parkt vor dem Haus, in das wir nach dem Tod meines Vaters eingezogen sind. Es ist ein kleines Drei-Familien-Haus am Stadtrand mit einem hübschen Vorgarten und einem stets frisch gestrichenen, weißen Zaun.
Als wir vor der Haustür stehen, kann meine Mutter den Schlüssel nicht finden. Sie kramt hektisch in ihrer viel zu großen Tasche und als sie ihn endlich heraus zieht, zittert ihre Hand vor Aufregung. Sie hat Mühe, das Schlüsselloch zu finden, und ich bemerke, dass sie nicht nur dünner, sondern auch kleiner geworden ist. Beim letzten Besuch schon hatte ich das Gefühl, sie nicht mehr alleine lassen zu könnnen. Jetzt bin ich sicher, dass sie Hilfe braucht. „Mama, dieses Mal kommst du mit auf die Insel!“ sage ich. „Mein Haus ist groß genug für zwei!“
„Kommt nicht in Frage!“ antwortet sie und sperrt energisch auf. „Ich komme sehr gut alleine zu recht!“ Mit kleinen, raschen Schritten geht sie voran in den Hausflur, nimmt aber dann nicht die Treppe zu unserer Wohnung im ersten Stock, sondern geht geradeaus zur Erdgeschosswohnung. „Mama, was machst du?“ rufe ich ihr zu, doch sie sperrt bereits die untere Wohnung auf. „Ich wohne nicht mehr oben!" sagt sie und hält mir die Tür auf.
Ein ungutes Gefühl macht sich breit und ich fasse mir wieder an die Backe. Kein Zahnweh, alles klar.
Die Erdgeschosswohnung ist genauso geschnitten wie die obere und Mutter hat sie auch genauso eingerichtet. Im Flur steht an der gleichen Stelle wie oben das kleine Biedermeierschränkchen mit dem grünen Telefon darauf, im Wohnzimmer prangt immer noch der erdrückende, für den kleinen Raum viel zu große Bauernschrank, davor der Perserteppich in dunklen Rottönen, an der Westwand das grüne Samtsofa mit den grünen Sesseln und über dem Klavier an der Ostwand das einzige Familienfoto, das es von uns gibt: Vater, Mutter und ein fröhliches Kind.
"Ist ja alles so wie oben!" bemerke ich.
Meine Mutter zieht die Vorhänge vor der Terrassentür zurück und ruft: "Überraschung!"
Dort, wo oben nur ein schmaler Balkon war, zeigt sich hier eine geräumige Terrasse mit einem Meer aus bunten Blumen in Terrakotta-Kübeln. "Na! Das ist doch ein Fortschritt!" flötet meine Mutter und wieder entdeckte ich die Spur von Trauer in ihren Augen.
Abgesehen von den Pflanzen gibt es auf der Terrasse noch etwas Neues: einen runden Teakholztisch mit zwei bequemen Sesseln.
"Ist zwar kühl", sagt meine Mutter. "Aber zur Feier des Tages sollten wir draußen Kaffee trinken!"
Ich nicke und krame in meiner Reisetasche nach einem Pullover. Jetzt fallen mir wieder die Schmerztabletten ein. Ich muss mich schützen! Panisch breite ich den Inhalt der Tasche auf dem Perserteppich aus, krame im Toilettenbeutel, suche die Innentaschen ab – nichts. Ich habe sie wirklich nicht dabei.
"Was suchst du denn?" unterbricht mich meine Mutter. Sie steht mit einem Tablett in der Hand vor mir und beäugt meine verstreuten Sachen mit kritischem Blick. Ihr Hände zittern ein wenig; auf der Kaffeekanne klirrt leise der Deckel.
"Nichts. Nur meine Schmerztabletten. Ich hab Zahnweh gehabt, aber das ist jetzt schon wieder vorbei!" antworte ich und stopfe die Sachen wieder zurück in die Tasche.
Es gibt Zwetschgenkuchen mit Sahne – mein Lieblingsgebäck, das ich fünf Jahre nicht mehr gegessen habe. Als vom zweiten Stück nur noch ein Bissen übrig ist, frage ich: "Mama. Was ist passiert? Kein Auto ... eine neue Wohnung!"
"Nichts. Ich werde nur älter, Engelchen!" antwortet meine Mutter. Wieder dieser Anflug von Trauer in ihren Augen, den sie mit einer gezierten Handbewegung und einem fröhlichen Lächeln weg wischt.
"Was ist passiert?" insistiere ich, denn so einfach lasse ich mich täuschen. "Und warum hast du mir weder am Telefon noch in deinen Briefen davon erzählt?"
"Mir war nur das Treppensteigen zu viel"
"Und das Auto?"
"Nichts. Es war mir lästig."
"Mama. Lüg mich nicht an. Ich habe ein Recht, zu erfahren, was los ist!"
"Ein Recht?"
"Ja. Ich bin deine Tochter!" sage ich und stopfe das letzte Kuchenstück in den Mund.
Meine Mutter streicht ein paar Krümel von der Tischdecke und pustet sie dann auf den Boden. "Na ja..." sagt sie, steht auf und packt das Geschirr aufs Tablett. Ihre Hände zittern so heftig, dass sie Inhalt der Zuckerdose über den Tisch verstreut.
"Lass mal Mama, das mach` ich" sage ich, nehme ihr das Tablett aus der Hand und trage es in die Küche. Auch dort steht alles am selben Platz wie oben, die Küchenschränke glänzen wie neu, aber ich entdecke den Kratzer, der mir vor fünf Jahren an der Besteckschublade passiert ist. Während ich das Geschirr in die Maschine räume, lehnt meine Mutter in der Tür und sieht mir zu. "Du bist schlanker geworden. Und ein bisschen blass", sagt sie mit diesem besorgten Unterton, der mich als Jugendliche auf die Palme brachte. Heute tut ihre Frage gut, sie erinnert mich an das Gefühl, Tochter zu sein, und keine Verantwortung zu tragen.
"Ich hatte eine üble Zahngeschichte" antworte ich und schließe die Ladeklappe der Maschine. "Eine Wurzelbehandlung. Du weist ja, wie weh so was tut!"
"Brauchst du Nelken?" fragt meine Mutter.
"Bloß nicht!" antworte ich. Gewürznelken sind Mamas Allheilmittel und es schüttelt mich beim Gedanken an den scharf-bitteren Geschmack und das pelzige Gefühl im Mund, als ich meine letzten Zahnschmerzen damit bekämpfte. Eigenartig. Jetzt erst fällt mir die Parallellität auf: Vor fünf Jahren hatte sich die Wurzel des gleichen Zahns gemeldet, damals allerdings umgekehrt. Die Schmerzen kamen, als ich im Flugzeug saß und waren auf dem Rückflug verschwunden. Ich fühle in meine Backe hinein - nichts, kein Ziehen, kein Stechen, keine Schwellung.
"Bist du wirklich in Ordnung?" fragt meine Mutter. Sie steht immer noch in der Tür und wirkt müde.
"Ich bin in Ordnung, Mama. Aber dir geht´s nicht gut. Das sehe ich doch. Du bist dünner geworden!" antworte ich.
"Nur älter, Engelchen", sagt meine Mutter, dreht sich um und geht hinaus auf die Terrasse.
„Eben! Deshalb nehme ich Dich mit auf die Insel!“ rufe ich ihr hinterher. Aber sie winkt mir nur über die Schulter zu, ohne sich umzudrehen.
Es ist erst halb Zehn, aber wir sind müde geworden. Meine Mutter hat sich ins Schlafzimmer verzogen und sieht vom Bett aus fern. Es ist eine unvernünftige und ungesunde Angewohnheit, und ich ärgere mich über ihre Sturheit. Seit Jahren warne ich sie vor den gesundheitlichen Schäden, die Elektrosmog bewirkt, aber sie will davon nichts wissen. Als ich sie heute zum hundertsten Mal darauf hin wies, hat sie nur patzig geantwortet: „Wenn du auf deiner Insel weder fern siehst noch Radio hörst, dann ist das deine Sache. Aber in meiner Wohnung mache ich, was ich will. Basta!“
Der Fernseher ist viel zu laut, ich höre ihn bis ins Bad. Es muss ein amerikanischer Krimi laufen, denn dramatische Musik wechselt sich ab mit Schüssen und Reifenquietschen. Meine Mutter muss jetzt auch schlechter hören - früher habe ich den Fernseher nicht gehört. Auf dem Weg in mein Zimmer will ich noch schnell bei meiner Mutter vorbei schauen. Ich klopfe an ihre Schlafzimmertür, aber der Fernseher ist viel zu laut; sie kann mich nicht hören. Als ich eintrete, schreckt sie hoch, sie muss eingeschlafen sein. "Mama, ich muss mit dir reden", sage ich.
Sie setzt sich auf und jetzt erst bemerke ich, dass sie nackt im Bett liegt. "Mama! Warum hast du nichts an?"
Beschämt – wie ertappt – sieht sie an sich hinunter und sagt: "Stimmt. Ich habe es vergessen!".
Ihr Nachthemd liegt auf dem Stuhl neben dem Schrank und ich reiche es ihr. Umständlich versucht sie, sich das Hemd über zu ziehen. An ihrem Gesicht erkenne ich, dass sie Schmerzen hat. "Mama! Was ist denn los?"
"Ein bisschen Rheuma" antwortet sie. "Halb so schlimm!"
Und vielleicht auch ein bisschen Alzheimer, denke ich. Wer Rheuma hat, vergisst doch nicht, sein Nachthemd anzuziehen! Ich helfe ihr in die Ärmel und genieße den zarten Rosenduft, der sich im Baumwollstoff gefangen hat. "Schlaf gut, Mama!" sage ich, drücke sie sanft aufs Kissen und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Als ich den Fernseher ausschalten will, brüllt sie: "Nein!" und sitzt wieder aufrecht im Bett.
"Aber du hast doch vorhin schon geschlafen!"
"Ich kann nicht schlafen, wenn es still ist!" sagt sie und setzt ein eigenartiges Lächeln auf. "Der Tod fürchtet sich vor Lärm!"
Das ist es also! Ich ringe nach Worten, will ihr sagen, dass sie nicht so einen Blödsinn reden soll, dass sie noch viel zu jung fürs Sterben sei und dass ich sie noch brauche. Aber es geht nicht. Es ist nicht wahr, und ich weis das. Schwindeln war noch nie meine Stärke – sie hätte es mir auch nicht geglaubt. Also lasse ich den Fernseher laufen, küsse sie noch einmal auf die Stirn und wünsche ihr eine gute Nacht.
Es ist vier Uhr früh und der Fernseher ist immer noch an. Ich bin es nicht gewöhnt, bei solchen Geräuschen zu schlafen und stehe jetzt endlich auf, um diesem Ding den Saft abzudrehen. Aber kaum bin ich in Mutters Zimmer, sitzt sie wieder aufrecht im Bett und schreit: "Nein!"
Ich kann vor Müdigkeit kaum stehen und wanke zurück in mein Zimmer. Auch hier hat sich nichts verändert, es ist immer noch so wie früher – nur eben einen Stock tiefer. Die Möbel stammen aus meiner Kinder- und Jugendzeit. Neben ein paar Bilderbüchern im Regal sitzen meine Barbiepuppen, ein Ken und drei Barbies. Eine blonde, eine Rothaarige und eine, die ursprünglich eine schwarze Mähne hatte. Ich stehe auf und hole sie vom Regal. Meine Fingerkuppen berühren den geschorenen Kopf, die kleinen Haarspitzen kitzeln wie früher und ich höre meine Mutter klagen: "Man schneidet einer Puppe nicht die Haare ab! Wie kannst du nur so undankbar sein!"
Diese Puppe war der Anfang einer endlosen Reihe unausgesprochener Vorwürfe, die alle in dem harten Wort "undankbar" mündeten. Wäre ich dankbar gewesen, hätte ich ein klasse Abitur hingelegt und Medizin studiert. Ich hätte das Kind ausgetragen und meine Mutter zur Großmutter gemacht. Und ich hätte den Job beim Goehte-Institut behalten und würde immer noch drei Straßen weiter wohnen. All das ist mir nicht gelungen. Mein Notendurchschnitt reichte nur für Kunstgeschichte, der Vater meines ungeborenen Kindes erwies sich als Trunkebold – ich habe es abgetrieben und mich scheiden lassen. Als ich den Job am Goethinstitut verlor, habe ich die Wohnung gekündigt und bin auf meine Insel gezogen. Seitdem geht´s mir gut.
Aber hier in diesem Zimmer kommt das alles wieder hoch und ich habe wie früher das Bedürfnis, die Puppe in den Müll zu werfen, sie einfach aus meinem Leben zu entfernen. Damals hatte das nichts genützt, meine Mutter hat sie aus der Mülltonne gefischt und wieder zurück ins Regal gestellt.
Es ist jetzt halb Sechs und ich habe noch keine Minute geschlafen. Um sieben werde ich Mutter wecken, den Fernseher ausschalten und mich dann endlich hinlegen.
Ich bin jetzt schon zehn Tage in Deutschland und trunken vor Müdigkeit. Seit ein paar Nächten nicke ich wenigstens für ein- zwei Stündchen ein, aber wirklich gewöhnen kann ich mich an den Krach nebenan nicht.
Mutter ist gerade in der Küche und bereitet das Mittagessen vor. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ihr Adressbuch und ich schlage es auf. Hinter fast jedem Namen ist mit rotem Filzstift ein Kreuz gemalt. Das ist eine alte Gewohnheit meiner Mutter: Wenn jemand stirbt, schmückt sie den Namen mit einem roten Kreuz. Dieses Adressbuch scheint relativ neu zu sein und ich finde die Namen von Verwandten und alten Bekannten, die schon vor langer Zeit gestorben sind. Sie hat also auch die Toten ins neue Adressbuch übertragen! Ich prüfe das Buch genauer und suche nach Lebenden – außer einer alten Freundin finde ich nur Ärzte und Behörden, die kein rotes Kreuz tragen. Und ganz hinten, beim Buchstaben "X" steht der Name meines Vaters, mit einem roten Kreuz und unserer alten Adresse.
Mein Mutter fürchtet den Tod. Gleichzeitig pflegt sie ihn wie ihre Pflanzen. Und sie spricht mit den Toten aus ihrem Adressbuch! Vor drei Tagen hatte ich Gelegenheit, sie dabei zu beobachten. Ich wollte mich mit einer Zeitung zu ihr auf die Terrasse setzen, aber sie hatte mich nicht bemerkt. Also blieb ich hinter ihr stehen und belauschte einen merkwürdigen Monolog.
"Hallo Xaver!“, sagte sie mit einem starren Blick auf ihr aufgeschlagenes Adressbuch. „Ich hab mich lange nicht mehr gemeldet. Unser Engelchen ist zu Besuch ... Uns geht’s gut. Und Dir? ... Was, NICHT gut? ... Ach, du hast Edwald getroffen? ... Xaver, ich habe dir zu Lebzeiten schon gesagt: Lass die Finger von ihm. Seine Ideen bringen dich nur durcheinander ... Ich? Ich will noch ein klein wenig bleiben. Ist noch nicht alles erledigt ... Nein, es macht mir nichts aus, dass ihr schon alle oben seid ... Engelchen kommt gut klar ... Ja, sie geht mir ab. Aber man muss die jungen Schwalben ziehen lassen ... Jetzt hör aber auf, Xaver! ... Nein, ich werde das Handtuch noch nicht schmeißen! .. Ja, ich pass auf mich auf!"
Als ich meine Mutter zur Rede stellte, meinte sie nur: "Ich werde eben alt. Da muss man sich doch auf später vorbereiten – oder? Du rufst mich ja auch an, bevor du fliegst!"
Meine Mutter war immer schon etwas anders. Aber nun mache ich mir ernsthaft Sorgen. Gestern habe ich mit einem Sozialdienst telefoniert. Es sind sehr nette Leute, die sich auch gerne um meine Mutter kümmern würden. Aber meine Mutter lehnte ab. "Ich bin zwar alt, aber so alt nun auch wieder nicht! Ich schaffe das schon alleine, flieg du nur ruhig wieder auf deine Insel!"
Wie kann ich ruhig auf meine Insel fliegen, wenn zu Hause alles drunter und drüber geht? Meine Mutter ist vergesslich geworden, unaufmerksam und unkonzentriert. Sie wird von Zitteranfällen heimgesucht und manchmal kann sie links und rechts nicht unterscheiden. Es ist gut, dass sie kein Auto mehr hat. Eigenartiger Weise sieht sie das auch selbst so, alles andere leugnet sie schlichtweg ab. Vor allem aber will sie sich nicht helfen lassen und besteht darauf, die Vorbereitung auf ihren Tod alleine durchzustehen. Als ob das eine Kleinigkeit wäre! "Aber Mama, du hast doch Angst vor dem Tod!" sagte ich ihr einmal in einem Anflug von Verzweiflung.
"Habe ich nicht!"
"Und warum läuft dann die ganze Nacht der Fernseher?"
"Ach, stört er dich?"
Ich gab es auf. Da war nichts zu retten, sie wollte bei ihrem alten Stiefel bleiben, egal was ich davon hielt. Es war wie früher – und doch ein wenig anders. Früher wollte sie in meine Suppe spucken – jetzt ist es umgekehrt. Aber wie früher muss ich die Dinge geschehen lassen und kann nicht mehr tun als meine Koffer packen und gehen. Morgen ist es soweit. Ich werde den Flieger besteigen und für die nächsten fünf Jahre mein eigenes Süppchen kochen.
Unter mir tauchen die Alpen auf, ein paar Gletscher leuchten zwischen dem Grau der Felsen wie kleine, schmutzige Gästehandtücher. Ich sitze nahe an den Turbinen und gebe mich ihrem Brummen hin. Endlich schlafen! Mein Augenlider werden schwer und schwerer, ich sinke in den Sessel und fühle mich eins mit dem leise wahrnehmbaren Vibrieren der Maschine. Doch plötzlich pocht etwas, ein Stechen zieht von meiner Backe bis hinauf in die Schläfe! Oh nein! Hier ist es wieder, das alte Zahnweh, das ich fast vergessen hatte! Bitte nicht! Aber es lässt mich nicht los, es zieht und pocht gleichzeitig, ein Schmerz, der mir Tränen in die Augen treibt. Hilfe! Meine Schmerztabletten! Sie liegen immer noch zu Hause und ich habe mir in Deutschland keinen Nachschub besorgt! Wie dumm von mir, daran hätte ich doch denken können!
"Geht’s ihnen nicht gut?" fragt die Stewardess und beugt sich zu mir herunter. Ich muss wohl ziemlich bleich geworden sein.
"Zahnweh!" sage ich und sie nickt verständnisvoll. Das Aspirin lehne ich ab, bei diesem Schmerz ist es sinnlos und bringt mir höchstens Sodbrennen ein. Ein Blick auf die Uhr. Noch drei Stunden Flug, auschecken und dann die Heimfahrt ... frühestens in fünf Stunden werde ich an meine Tabletten kommen. "Könnte ich einen Eisbeutel haben?" frage ich die Stewardess. Sie nickt, und ein paar Minuten später darauf presse ich die kalte Wohltat auf meine Backe. Diese ist gerade dabei anzuschwellen; das Eis wird nur das Schlimmste verhindern können.
Wie fliegen durch eine Gewitterfront. Die Maschine wird gebeutelt und ächzt wie ein alter Eisenbahnwagon, die Stöße hallen in meiner Backe und die Turbinen heulen auf. Wir müssen uns anschnallen. Die Lichter in der Kabine gehen aus, Kinder fangen an zu heulen und die Frau neben mir wird bleich. Auch mir wird es zusehens mulmiger, die Kinder kreischen lauter, die Maschine stöhnt unter den harten Schlägen der Turbulenzen und langsam kommt auch bei mir Panik auf.
"Keine Angst, Engelchen", flüstert mir eine ewig nicht mehr gehörte Männerstimme zu. "Der Tod fürchtet sich vor Lärm!"
"Ich weis, Papa", antworte ich und presse den Eisbeutel fester auf meine Backe. "Dreh bitte Mamas Fernseher lauter!"
„Nicht mehr nötig“, antwortet er.
Hinter der Fensterluke türmen sich dunkelgraue Wolken, ich richte mich auf und betrachte das Schauspiel, als säße ich im Kino. Ein Blitz teilt den Himmel und meine Mutter flüstert: "Stromausfall, mein Engelchen. Vor dem Donner ist alles still."