Der Tod hat ein Gesicht

Breimann

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Der Tod hat ein Gesicht
Rolf verehrte seinen Onkel Franz – oder besser: er hatte ein Gefühl für ihn, wie er es gerne für seinen Vater gehabt hätte – wenn er einen gehabt hätte. Dieser stille, stets traurig wirkende Mann, ersetzte ihm den Vater - er war sein Freund – bis zu diesem heißen Sommertag.
Er wusste nicht viel über ihn, über seine Vergangenheit. Onkel Franz sprach wenig, und über sich schon gar nicht. Dass er bei der SS gedient hatte, das war im Ort bekannt, das wusste auch Rolf und er wusste durchaus, was die SS gemacht hatte, welchen Ruf sie hatte. Niemand im Dorf sprach über die SS-Vergangenheit von Onkel Franz, es war ihnen nicht wichtig.
Außer Rolf hatte noch niemand das verhasstes Brandzeichen von Onkel Franz, die SS-Nummer unter der Achsel, gesehen. Er war rot und wütend geworden, als schäme er sich, als Rolf das Zeichen beim Waschen entdeckte und es befühlt hatte.
Der Tag, an dem Rolf etwas über die Vergangenheit seines Lieblingsonkels erfuhr, begann wie alle Tage in den Sommerferien; er begleitete seinen Onkel auf den Streifzügen durch die Wälder. An diesem Tag sprach sein Onkel mehr und länger als jemals zuvor. Vielleicht lag es am schönen Wetter, oder an dem alten Güterzug, den sie gegen Mittag erblickten. Jedenfalls, an diesem Sommertag, als sie alleine durch die Wälder gingen, um Bäume zu markieren, die gefällt werden sollten, ergab es sich einfach. Und danach wollte Rolf nicht mehr sein Freund sein.

„Hörst du sie? Die Bahn kommt gleich!“
Se saßen am sonnenbeschienenen Abhang, hörten, wie ein Zug klackernd und rumpelnd die Weiche hinter der Tannenschonung überrollte. Er musste an dieser Stelle langsam fahren, denn die Abzweigung war alt und der Untergrund nicht gerade fest gefügt.
„Da ist er! Siehst du schon den Dampf?“, sagte Ralf und zeigte aufgeregt auf den blauen Himmel über den schwarzgrünen Bäumen.
Hinten, über dem Kiefernwäldchen, stieg weißer Dampf in die klare Luft, wanderte von Wipfel zu Wipfel. Dann kroch die schwarze Lokomotive um die Ecke, zog sieben völlig geschlossene Wagen ohne Fenster hinter sich her. Ein kleiner Lüftungskarmin stand auf jedem Dach, ließ die Wagen wie Häuser auf Rädern aussehen. Die schweren Rolltore waren mit Bolzen aus Metall gesichert. Die grüne Farbe an den hölzernen Wänden wirkte selbst aus der Entfernung alt und schorfig.
„Ich mag diese alten Züge, Onkel Franz. Sie sind schöner als die neuen Züge – und sie haben bestimmt viel erlebt. Dieser Zug ist sicher schon vor dem Krieg gefahren, den Typ kenn ich gut“, sagte er betont und Onkel Franz stimmte nickend zu.
„Seid ihr damit an die Front gefahren worden, damals?“
„Auch, aber mit anderen Wagen. Da waren Fenster drin und richtige Türen. Später haben diese Lokomotiven andere Transporte, mit Wagen wie diesen hier, also mit Viehwagen, machen müssen.“
Der Zug fuhr rechts an ihnen vorbei, schob sich hinter einen Hügel, und das müde Schnaufen der Lokomotive wurde immer leiser; man konnte die Vögel wieder hören, die über ihnen in den Eichen saßen.
„Wofür wurden sie benutzt?“
„Ach lass!. Heute ist ein so schöner Tag, zu schön für so alte, hässliche Geschichten. Hörst du die Vögel? Riech nur mal die wunderbare Luft.“
„Ich möchte es gerne wissen!“
„Komm, Rolf! Ich muss was tun.“
Er packte den Henkel des Farbtopfes und den zerfaserten alten Pinsel und stand auf. Franz war untersetzt, hatte einen völlig haarlosen, vom Schweiß glänzenden, mächtigen Kopf. Sein breites Gesicht wirkte freundlich, gemütlich – und gerade jetzt sehr nachdenklich.
Ralf sprang auf und übernahm den Farbtopf. Sie gingen tiefer in den Eichenwald, liefen fast ziellos den Hügel runter, und mit suchendem Blick bewertete Onkel Franz die alten Bäume. Hin und wieder befühlte er ihre Rinde, blickte senkrecht am Stamm hoch, suchte totes Holz, oder abgebrochene Äste.
Hatte er einen passenden Baum gefunden, dann nickte er, öffnete die Farbdose und malte ein X auf den Stamm, genau in Augenhöhe. Seltener, nur bei besonders schön gewachsenen Stämmen, setzte er ein S hinzu. Das sollte „Selbstverbrauch“ heißen, hatte er erklärt und war die Nachricht für die Holzfäller.
„So haben sie damals die Juden gekennzeichnet! Frei zum Abschuss!“
„Mit Farbe?“
„Nein, anders. Aber sehr deutlich und wirkungsvoll. Ach Quatsch, was soll das alles.“
„Warum magst du nicht darüber reden, Onkel Franz?“
„Worüber?“, fragte und wusste genau, was gemeint war.
„Na, das mit den alten Zügen und mit den Juden. Ich bin ja nicht doof!“
„Nein, das bist du nicht. Aber noch sehr, sehr jung.“
„Und? War das denn schlimm, das mit den alten Zügen? Du sagst nie was!“
Er antwortete nicht, erledigte wortlos sein Tagespensum. Die Holzfäller wollten am nächsten Morgen mit der Arbeit beginnen. Der Gutsbesitzer machte Druck, weil er Geld brauchte. Am frühen Nachmittag erreichten sie den Waldrand auf der anderen Seite. Von hier sahen sie den Fluss, der breit und schwarz, sehr langsam durch die Wiesen strömte.
Sie setzten sich auf einen alten Baumstamm und packten ihre Brote aus, die sie in Umhängetaschen, mit einer Blechflasche voll Tee, auf dem Rücken getragen hatten. Sie aßen, tranken, betrachteten die Fischreiher, die angeberisch über die Wiese stolzierten, beiläufig ins Wasser schielten und ansonsten nichts taten.
„Du weißt, was ich im Krieg gemacht habe?“
„Du warst bei der SS, ich weiß. Du hast mir deine Nummer gezeigt. Und vorher warst du Polizist; da haben sie dich und Bruno, deinen Freund, zur SS eingezogen.“
„Genau! Hast gut aufgepasst. Was wir da machen mussten, das weißt du nicht? Du hast mich nie gefragt.“
„Warum? Was habt ihr schon gemacht? Gekämpft, geschossen, Verbrecher erschossen, Partisanen aufgehängt und so was.“
„Junge, Junge! Habt ihr das in der Schule gehört?“
„Auch! Und gelesen hab ich eine Menge. Gibt doch viele spannende Soldatenbücher. Hab ich aus der Jugendbibliothek der Kirche – die hole ich mir jeden Sonntag nach dem Gottesdienst. War schon toll, was ihr damals gemacht habt!“
„Glaubst du? – Ich will dir meine Geschichte erzählen – wenn du willst. Sie ist nicht schön, toll schon gar nicht; - aber das mit den Zügen, das kommt auch darin vor.“
„Ich bin schon dreizehn! Mir kannst du alles erzählen – alles!“
Es wurde stille. Rolf wartete gelassen und gespannt. Er kannte seinen Onkel Franz gut. Er war der netteste Mann den er kannte. Er arbeitete im erlernten Beruf des Möbelschreiners auf dem Gut. Rolf hatte ihn oft beobachtet, wenn er mit seiner schwieligen Hand über das glatt gehobelte Holz strich – zärtlich, genau so, wie er seinen Kopf streichelte, wenn er ihn tröstete.
„Im Februar 42 sind wir abgefahren, in so einem Zug – mit Fenstern. Bruno und ich sind zusammen geblieben – aus Zufall wohl. Wir wurden ins Generalgouvernement verlegt, also nach Polen – genauer, nach Warschau. Da war dieses Judenghetto. Wir mussten täglich Juden rausholen, verladen und wegschicken. Da gab es vor der Mauer, mitten zwischen hohem, abgestorbenem Gras und elenden Büschen, einige Gleise – einen gammeligen Verschiebebahnhof.“
„Da wurden die Juden verladen, stimmt´s?“
„Ja, da wurden die Juden verladen. - Hast du einen Freund?“
„Ja – Johannes; er ist Jude, sagt er wenigstens. Aber bei ihm weiß man nie...“
„Aha! Macht dir das was?“
„Wieso? Sollte es das?“
„Nein, nein! Ich meine nur. Ich habe in Warschau, im Ghetto, viele Juden gesehen -. danach nie mehr.“
„Hast du welche umgebracht?“, fragte Rolf leise, mit verschwörerischer Stimme, Vertrauen signalisierend.
Franz antwortete nicht, sah ihn nur forschend an, als wolle er prüfen, wie die notwendige Antwort wirken würde. Mit der klobigen Rechten fegte er ein paar Brotkrümel von der Hose, stierte auf den trägen Fluss, als suche er dort eine Antwort.
„Nicht direkt, will ich mal sagen. Wir haben bei dem Aufstand im Ghetto natürlich geschossen. Aber ob ich einen getroffen oder getötet habe, weiß ich nicht.“
„War ja auch richtig wie im Krieg, oder?“
„Ja, das war Krieg. Da hatte ich auch keine Probleme mit. – Die hatte ich später erst, nach diesem Tag Ende Mai.“
„Da hast du welche erschossen, ja?“
„Nein! Du hast eine falsche Vorstellung! Das war kein Spiel! Und jemanden erschießen, oder umbringen ist furchtbar, es ist das Letzte, was man tun sollte Nein, ich war dabei, wenn sie die Juden auf dem Verschiebebahnhof in Viehwaggons und andere Güterwagen verladen haben. Das war nach der Ghettoauflösung. Sie brachten sie alle ins Konzentrationslager Treblinka; viele wurden dort umgebracht. Aber selber einen getötet? Nein, da hatte ich nichts mit zu tun. Ich hab es anders gemacht.“
„Habt ihr viele Juden verladen?“
„Was nennst du viele?“
„Mehr als Tausend?“
„Mehr – eine Menge mehr!
„Unser Kaplan hat im Religionsunterricht darüber gesprochen. Er meinte, die Juden wären auch nicht unschuldig daran gewesen. Immerhin hätten sie Jesus umgebracht; brutal und unmenschlich. Die Juden hätten keine Seele, sagte er!“
„Wenn er meint! Er muss es ja wissen. Direkt nach dem Kampf haben sie 7.000 Juden vergast; und rund 30.000 erschossen. Brutal und unmenschlich, oder? Was meinst du?“
„Weiß nicht. Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen.“
Die folgende Stille war anders als sonst. Noch nie hatte Rolf solche Fragen gestellt und noch nie gezeigt, wie viel er wusste. Jetzt musste über alles Gesagte nachgedacht werden – von beiden.
Rolf versuchte, sich den Verschiebebahnhof vorzustellen; es sah einen schienendurchzogenen Platz. Vom Wind gebeugte, blattlose, niedrige Sträucher standen planlos, achtlos, wie hingeworfen, herum.
Er fand den Winter schrecklich; also ließ er nassen Schnee fallen, der das bräunliche Gras kaum bedeckte. Schwarz gekleidete Gestalten, in endloser Reihe, mussten jetzt noch über die dünne Schneedecke wanken. Er gab ihnen Reisekoffer in die eine und kleine Kinder an die andere Hand, malte junge und alte Gesichter und legten ihnen traurige, verzweifelte Augen zu.
Daneben stellte er uniformierte Männer mit Gewehren. Dem ersten Soldaten gab er das Gesicht von Onkel Franz und betrachtete seine glanzlosen Augen, die so traurig blickten wie heute, wie an manchen anderen Tagen. Er schüttelte den Kopf und warf das Bild raus.
„Mehr! Ich will mehr hören! Bitte!“
„Zuerst taten mir die Juden leid; sie sahen so ärmlich und verhungert aus. Kinder, Frauen, alte Männer. Aber jeden Tag war es das selbe Bild. Du stumpfst ab. Wir zwängten sie auf die Rampe, drückten sie in die Wagen, bis nichts mehr ging. Sie schrieen uns an, wehrten sich, spuckten uns an. Sie waren nicht wie Lämmer, eher wie störrische Esel – besonders die Frauen, wenn sie Kinder hatten.“
„Die wollten sie beschützen, oder?“
„Sicher. Aber irgendwann wirst du wütend. Du machst ja schließlich deine Arbeit! Und hinter uns standen sie, die Kettenhunde und die Aufpasser. Bruno sagte am Abend oft, dass er Angst gehabt hätte, sie würden ihn auch da rein schieben. Bruno hat immer mit ihnen gesprochen, hat sie getröstet und beruhigt.“
„Du nicht? Hast du sie richtig gehasst?“
„Nein. Aber es gab keine Möglichkeit, ihnen zu helfen. Und trösten konnte ich nicht – womit denn? Ich hätte selber welchen gebraucht. Alle wussten, was denen blühte. Treblinka! Und alle, die Gebrechen hatten, alle Alten und Kranken gingen in die Gaskammer. Wir wussten es genau! Unsere Kameraden, die die Züge begleiteten, erzählten uns die tollsten Geschichten, wenn wir am Abend zusammen saßen.“
„Und dann? Du bist ja früher zurück gekommen, als die anderen Soldaten, hast du gesagt.“
„Ja, ich bin in Warschau, im Ghetto umgefallen. Ich konnte den Geruch der toten Kinder und Frauen nicht ertragen. Ich hab geschrienen und geweint. Sie haben mich weggebracht, in ein Lazarett. Danach wollten sie mich nicht mehr.“
„Warst du deshalb ein Kriegsverbrecher? Haben sie dich verurteilt?“
„Nein. Ich war ihnen nicht wichtig genug. Meine Schuld liegt wo anders. Es ist passiert, als wir sie der Reihe nach raus holten aus dem Ghetto und abtransportierten.“
„Und das war schlimm, das hat dich getroffen?“
„Ja“, sagte Franz nachdenklich. „es fing damit an, dass ich sie plötzlich verachtete und hasste. Nach einigen Wochen war das Mitleid weg. Du musst dir diese riesigen Schlangen, grau und dunkel gekleideter Leute vorstellen. Sie krochen aus den Ruinen, über den Platz, du sahst kein Gesicht, keinen Menschen; es waren nur noch Transporteinheiten. Mehr nicht! Du stumpfst erst ab, und dann geht es schnell. Du ärgerst dich über jeden Widerstand, über unnötige Verzögerungen. Dann kommt irgendwann die Wut und du gibst ihnen die Schuld an deinem Versagen. Du weißt genau, dass du versagst. - Trotzdem wirst du zum Unmenschen und merkst es nicht einmal!“
„Du hast die Juden gehasst, weil du versagt hast?“
„Ich weiß nicht. – Vielleicht, - vielleicht war das alles nur ein Albtraum.“
„Aber du hasst doch niemanden, Onkel Franz! Du hast ihnen doch nichts getan!"
„Wenn du dich da man nicht irrst! An einem Tag, Anfang Juni 42, standen Bruno und ich vor dem Verschiebebahnhof und dirigierten die endlose Schlange in die Wagen. Es musste schnell gehen; der ganze Abtransport dauerte ihnen zu lange. Wir sollten mächtig Druck machen. Bruno stand mir gegenüber und wir schimpften mit den Leuten, schoben sie vorwärts. Eigentlich war Bruno an dem, was dann passierte, schuld.
Er stieß eine Frau mit dem Gewehrkolben - nicht vor den Körper, das hätte er nie gemacht - nein, er schlug auf den Koffer, den sie mühsam trug. Und der platzte auf; er war wohl ziemlich alt, nur mit Schnüren und Bändern gehalten. Er klappte auf und alles flog in den Dreck. Es war heiß an dem Tag, staubig, und wir waren genervt von den ständigen Unterbrechungen. Mal konnte eine alte Frau nicht mehr gehen, und sie trugen sie erst, wenn man sie anbrüllte, mal fiel einer einfach um und blieb liegen; es stockte pausenlos. Und dann dieser Mist mit dem Koffer! Die Frau trug ein leichtes, geblümtes. Sommerkleid und einen grauen Staubmantel auf dem Arm. Und da lag dann ihr ganzer Besitz im Dreck: Unterwäsche, Briefe, zwei Bücher. Sie wollte sich bücken und alles wieder einsammeln! Stell dir das vor, sie hielt den ganzen Transport auf wegen dieser ärmlichen Sachen.
„Na ja! Wenn meine Klamotten da gelegen hätten... Durftet ihr helfen?“
„Bist du verrückt? Sie hätten uns anschließend erschossen oder ins Lager gesteckt -. glaubte ich damals wenigstens, es wurde uns immer erzählt. Nein, nein. Ich brüllte also diese Frau an, sie solle den Mist liegen lassen und weitergehen. Aber die hat mich nicht mal angesehen; sie fiel auf die Knie und sammelte alles ein - hastig, sehr hastig, machte sie das. Sie raffte alles einfach zusammen. Zuerst die Wäsche, die Briefe und dann wollte sie die Bücher abstauben! Stell dir das vor! Es dauerte einfach zu lange; ich sah schon rot! Ich hab sie angeschrieen. Los, los! Voran!, hab ich geschrieen. Alles stand doch still und am Wagen warteten sie.“

Onkel Franz atmete schwer und holte sein riesiges kariertes Taschentuch raus. Rolf sah die schweißnasse Stirn und den roten Schädel, auf dem die Wasserperlen glitzerten. Er schnaufte abschließend ins Tuch, faltete es sorgfältig und steckte es langsam wieder in die Hosentasche.
„Es dauerte einfach zu lange! - Ich weiß nicht, wie es kam, ich bin einfach wütend geworden, furchtbar wütend. Ich hab mit dem Gewehrkolben zugeschlagen! Auf den nackten rechten Arm. Es hat gekracht, als der Knochen brach. Der Arm hing dann einfach runter. Es war ganz still rundum. Bruno hat dann was Gefährliches gemacht: Er hat ihr den Rest eingepackt, hat den Koffer zugebunden und in ihre linke Hand gedrückt.“
Ein grauer Reiher erhob sich, strich über die Wiese und ließ sich sanft ins seichte Wasser runtergleiten.
Rolf fror plötzlich. Es lag wohl am auffrischenden Wind, der über das Gras strich und sich in den Bäumen fing. Es rauschte und brauste, als ein kleiner Windstoß Wetteränderung ankündigte.
„Was wurde mit Bruno?“
„Nichts! Er hat einfach laut dabei gelacht und der Frau nachgerufen, sie soll nächstens aufpassen, sonst müsse er sie in den Koffer stopfen. Da haben alle Soldaten gelacht. – Nur ich nicht! - Ich wusste was ich gemacht hatte. Ich hatte sie zum Tode verurteilt, sie einfach umgebracht!“
„Wieso das? Du hast sie doch nur einmal geschlagen. War doch nur ein Armbruch.“
„Du weißt nichts, gar nichts! Ich hab sie in die Gaskammer geschickt, direkt nach der Ankunft in Treblinka ist sie wohl hingerichtet worden.“
„Was? Deswegen?“
„Ja, sie brachten alle sofort um, die zu alt, die gebrechlich oder krank waren. Die konnten die Frau mit dem zersplitterten Arm nicht gebrauchen für die Arbeit; sie war nichts mehr wert.“
Rolf schluckte. Er verstand nur ganz langsam, dann begriff er das Zögern seines Onkels. Sein Bild, sein schön gebasteltes Bild geriet ins Wanken. Und er suchte nach Entschuldigungen, er brauchte jetzt Hilfe, viel Hilfe.
„Onkel Franz! Überleg doch mal. War die Frau nicht schon alt?“
„Nein, sie war jung, sehr jung.“
„Wie jung denn, fünfzehn, zwanzig?“
„Mehr, dreißig - sicher.“
„Siehst du! Also doch schon ganz schön alt. Da hätte sie auch so vergast werden können.“
„Nein, lass das sein. Sprich nicht so über das Vergasen! Du weißt nicht, worüber du sprichst!“
„Ich meine doch nur. Wenn sie doch sowieso...“
„Nein! Nein! Sie war zu jung.“
Er stand auf und griff seine Sachen. „Komm, wir müssen gehen. Es wird Zeit.“ Er bereute seine Offenheit. Er hatte gehofft, es würde ihn erleichtern; nichts war passiert. Alles war nur noch schwerer geworden.
Sie gingen wortlos, Rolf schlug mit einem Ast an jeden Baum, der ihm im Wege war. Sie sahen das rote Hausdach zwischen den Birkenbäumen, als Rolf plötzlich stehen blieb.
„Wie sah sie aus, Onkel Franz? War sie schön?“
Franz sah ihn verwirrt an, er war weit weg mit seinen Gedanken. Dann lehnte er sich an einen Birkenbaum.
„Warum willst du das wissen?“
„Ich will an sie denken; ich muss an sie denken können. Gib ihr ein Gesicht, bitte.“
„Nein! Hör endlich auf! Es war schon mehr als genug!“
„Wie sah sie aus?“
Es brauchte lange, bis er wieder redete. Er schalt sich einen Narren, dass er diesem unreifen Jungen – den er so sehr mochte – das erzählt hatte. Andererseits, was sollte es schon.
„Das eben war mein Problem, - das kannst du nicht verstehen!. Es gab auf einmal ein Gesicht! Die Juden hatten tatsächlich Gesichter! Nichts war mehr wie vorher. Aus den anonymen Menschenschlangen war ein Gesicht heraus gekommen – alle hatten solche und ähnliche Gesichter, das wurde mir klar.“
„Und sie? Wie war sie?“
„Ihre Haare waren tiefschwarz, schulterlang, ihr Gesicht war schmal, sehr blass und hatte hohe Backenknochen. Ihre Augen waren grün, ja, richtig grün. Ihr Kleid hatte einen Ausschnitt.. Sie... ich... An ihrem Hals pulsierte eine blaue Ader, schnell wie bei einem ängstlichen Tier. Sie hat mich nur angesehen - ich hätte mich am liebsten versteckt. Sie hat nicht geweint, nicht geschrieen, sie hat mich nur ewig angeschaut.“
Rolf starrte seinen Onkel an. Ihm war eiskalt und als er in seine Augen blickte, sah er keine Regung. War das sein Onkel, sein Taufpate? War das der Mann, der aus dem Stall gehen musste, wenn ein Schwein geschlachtet wurde? Rolf war unsicher und hatte Angst, dass es eine andere Wahrheit geben konnte, als die, die er bisher gekannt hatte.
„ich will nichts mehr davon hören, nichts!“, sagte Rolf sehr leise. Onkel Franz nickte und sie gingen schweigend auf´s Haus zu.
„Er hat sie einfach geschlagen! Warum?“, dachte er verzweifelt.
 

Camaun

Mitglied
Grüße!

Das ist ne schöne Geschichte finde ich, vor allem weil dieser Onkel Fanz dann doch noch kapiert hat, daß die Menschen keineswegs gesichtslos sind und alle eine eigene wunderbare Geschichte haben.
Was ich aber schade finde ist, daß die meisten Menschen das immer erst durch solche Ereignisse lernen und nicht von alleine drauf kommen.
Die meisten Menschen lernens aber auch nie und das ist im Grunde noch trauriger.
Naja, aber durch solche Geschichten können die Menschen im nachhinein allerdings nicht behaupten, sie hätten von nichts gewußt.
Und deswegen gefällt mir die Story
*he concludes*
*ggg*
 

Breimann

Mitglied
Erinnerung oder Verleugnung

ja,
genau darum geht es! Mir wird übel, wenn ich dieses "Davon haben wir nie etwas gehört!", "Wir wussten nichts davon!", vernehme. Viele, sicher nicht alle, haben so viel gewusst! Ich nehme ihnen diese Entschuldigungen fast nie ab.
eduard
 

Breimann

Mitglied
Antwort an Klara

Liebe Klara,
ich habe gerade deinen Kommentar als Beitrag (Angst) gelesen. Angst war oft Thema in meinen Geschichten. Deine Erfahrung habe ich auch gemacht. Ich habe diese Geschichte unter dem Eindruck geschrieben, dass zu wenig nachgefragt wird. Ich hole sie hiermit mal nche vorne, dann findest du sie leichter.
Liebe Grüße
eduard
 

klara

Mitglied
Hallo Eduard,
ziemlich am Anfang der Geschichte steht;
"....und danach wollte er nicht mehr sein Freund sein..."
und
zum Schluß der Geschichte ist die Frage des Jungen zu lesen:"Er hat sie einfach geschlagen. Warum?"

Es tut mir so gut, zu wissen, dass der Junge seinen Onkel doch als Freund haben wird. Die Frage nach "Warum?", die Bemühung des Jungen, sich ein Bild von der geschlagenen Frau machen zu können, sein Wille danach...sind (meiner Meinung nach) nur durch den Onkel so intensiv, so lebendig.
Es hat Hoffnung.
Ich danke dir für deine Zeilen.
Grüße.
 

Breimann

Mitglied
Liebe Klara,

ich wollte, es gäbe viele Menschen - mehr als jetzt - die "Warum" fragen. Die nicht nur das "Gestern" meinen und vielleicht das "Heute" noch, sondern die Frage vorbeugend für "Morgen" stellen. Wenn das "Morgen" unser "Heute" ist, dann ist es zu spät.
Fragen wir doch: Warum schon wieder Gewalt? Warum versucht ihr es nicht anders? Und es gibt viel solcher Fragen, die man vorher stellen muss!
Liebe Grüße
eduard
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo eduard,

beim Lesen deiner Geschichte wurde ich an einen ehemaligen Kollegen erinnert, der mir irgendwann (wir kannten uns da bereits einige Jahre) erzählte, daß er bei der Waffen-SS gewesen sei. Er entsprach etwa dem Bild, welches Du von Onkel Franz entworfen hast. Er war nicht nur ein ausgezeichneter Fachmann, sondern auch als Mensch sehr beliebt. Er war durch und durch gutmütig, konnte herzlich lachen und vermochte sogar Wärme zu verbreiten. Bestimmt wa r er schon immer so. Und das ist für mich das Erschreckende. Wie leicht es doch zu sein scheint, selbst so wertvolle Menschen immer wieder zu irgendwelchem teuflischen Tun zu mißbrauchen. Nun, das hat es immer gegeben, und ich fürchte, das wird immer (oder zumindest noch sehr lange) so bleiben.
Noch ein Wort zum Text selbst. Die Szene auf dem Verschiebebahnhof fand ich sehr stark, weil eindringlich und berührend. Der Anfang, aber auch der Schlußteil können da nicht ganz mithalten. Sie kommen für meine Begriffe etwas zu behäbig daher. Auch die Fragen und die Reaktionen des Jungen sind manchmal nicht ganz nach zu vollziehen. Aber alles in allem - eine gelungene Erzählung. Eine kleine Frage am Schluß: Kann es sein, daß Du bei deinen letzten Geschichten mehr gefeilt hast, als an dieser hier?

Gruß Ralph
 

Breimann

Mitglied
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Ja, zur letzten Frage!
Es war hier durchaus gewollt, einen solchen "Langsam angehen-Dramatik-Ausklang-Verlauf" zu verfassen. Ich arbeite übrigens stets alleine, nie über eine Werkstatt und meine Texte werden später noch überarbeitet, wenn ich solche Einwände gelesen habe, wie du sie schreibst, lieber Ralph.
Liebe grüße
eduard
 



 
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