Der Todesbote - dritter Teil (Kap. 5 und 6)

Billyboy

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5. Kapitel

Die eigentliche Ernennung zum Lord Mayor hatte Albert Donovan vor einer halben Stunde hinter sich gebracht und war mit seinem Anwalt gerade in seinem Büro in der Fetter Lane eingetroffen, wo er ein erneutes anonymes Schreiben in seinem Büro vorfand. Stewart Amersham schäkerte gerade mit einer hübschen Praktikantin im Vorzimmer, als er den lauten Schrei seines Chefs vernahm. Er stürzte in das Büro seines Arbeitgebers und schrak zurück. Der Millionär hockte hinter seinem breiten eichenen Schreibtisch, bleich, zitternd, den Brief anstarrend, der wie eine schweigende Bedrohung vor ihm lag. Als der Anwalt das Schreiben an sich nehmen wollte, schnappte sich Donovan das Blatt Papier mit einer behänden Bewegung und stopfte es in die Tasche des schwarzen Jacketts. „Verschwinden Sie! Raus! Lassen Sie mich allein!“ Er war aufgesprungen und drängte den überraschten Anwalt aus dem Büro. Dann verschloß er die Tür hinter ihm und ging in die Hocke. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er schnappte nach Luft, zog die Krawatte auf, fahrig suchten seine Finger nach dem Hemdknopf, doch die Luftknappheit ließ nicht nach. Albert Donovan sank zu Boden und blieb reglos an der Tür liegen.
Steward Amersham starrte nachdenklich auf die verschlossene Tür zum Nebenraum und fragte die immer noch verstörte Praktikantin nach dem Überbringer des Briefes. Die konnte sich nur noch daran erinnern, dass ein Botenjunge das Schreiben am späteren Vormittag überbracht hatte, ohne auf Trinkgeld zu warten.
Als der Anwalt sein eigenes Büro betreten hatte, setzte er sich grübelnd an seinen Arbeitsplatz. Was hatte das alles zu bedeuten? sinnierte er. Gefährdete hier irgend etwas seine Pläne? Das konnte er nicht zulassen! Gab es etwas, was seinen Chef belasten konnte? Und wenn, dann wollte er selber derjenige sein, der das belastende Material in den Händen hatte!
Entschlossen stand er auf, griff nach seinem Mantel und verließ zügig das Bürogebäude.

Die beiden Polizisten saßen in Elk´ Büro und starrten auf das Telex, welches sie aus Haverfordwest erhalten hatten. „Wie passt das alles zusammen?“ Beechum schüttelte den Kopf.
„Lassen sie uns mal versuchen, einen zeitlichen Ablauf zu konstruieren, Herr Kollege“ begann Elk. „Mary Hyde verschwindet 1931 in Sydney für mehrere Wochen – hat sie vielleicht heimlich entbunden? Taucht dann wieder auf und wird im November tot im Hafenbecken gefunden. Die Ermittlungen verlaufen im Sande, auch weil es keinen Beweis für ein Verbrechen gibt. Etwa zu dieser Zeit veranlasst Albert Donovan, der zu Mary Hyde in, sagen wir, körperlicher Beziehung stand, den Schiffskapitän der „Golden Brigg“, ein Päckchen nach England mitzunehmen. Dieser übergibt das Päckchen an den Schiffskoch und Kumpan Henry Black, der es nach der Ankunft des Schiffes in Port Talbot wieder dem Kapitän übergeben haben will. Wieso der Koch? Der Kapitän hätte doch leicht ein Päckchen verstecken können ohne einen Mitwisser? Weil der Koch den Säugling versorgen, ernähren musste! Lt. Schifffahrtsregister kam die „Golden Brigg“ am 15. Januar 1932 in Port Talbot an. Am 17. Januar nun vermeldet die Verwaltung des Kinder- und Weisenhauses Haverfordwest die anonyme Abgabe eines vermutlich zwei Monate alten Kleinkindes unbekannter Herkunft. Die Umstände des Auffindens lassen darauf schließen, dass der Säugling eine Seereise hinter sich gebracht haben könnte. Er war z.B. in Schiffsleinen gewickelt. Und das Weisenhaus ist keine zwei Stunden von Port Talbot entfernt“
„Klingt das jetzt nicht etwas zu stringent“ versuchte Joe Beechum einzuwenden. „Es könnte zwar so gewesen sein, dass Mary Hyde 1931 ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat. Aber wir haben keinen Beweis dafür, ebenso wenig dafür, dass es sich bei dem ominösen Päckchen um dieses Kind gehandelt haben könnte.“
Elk räusperte sich. „Nun, Herr Kollege, die Verbindung haben Sie ja selber entdeckt. Die Kopie eines amtlichen Schreibens der Einwohnerbehörde in Haverfordwest, welche etwa dieselben Angaben enthält, die wir heute erhalten haben. Diese Kopie, angefertigt vor gut zehn Jahren und angefragt von Henry Black, haben Sie ja selber in Blacks Unterlagen gefunden. Vor zehn Jahren musterte der Koch endgültig ab, zu dieser Zeit erfuhr er, dass er unheilbar an Lungenkrebs erkrankt war. Da bekam er ein schlechtes Gewissen, er erkundigte sich, was aus dem „Päckchen“ geworden war.“
Joe Beechum nickte. „Das klingt alles logisch, aber beweisen lässt es sich leider nicht. Wir wissen ja nichts Genaues über das Kind. Aus den Unterlagen geht nicht mal hervor, ob es ein Junge oder Mädchen war, im Weisenhaus erhielt es den Namen Kyle, der beides bedeuten kann. Und als Kyle Canvas, wie man das Findelkind bezeichnenderweise amtlich nannte, achtzehn Jahre alt wurde, verließ er / sie das Heim, ohne sich irgendwo anzumelden.“ Der Australier schien zu resignieren. Doch Elk ließ nicht locker: „Dann rufen Sie dort an. Vielleicht erinnert sich jemand an Kyle Canvas, oder es gibt Jahrgangsfotos im Archiv des Hauses. Das ist eine vielversprechende Spur, die erste überhaupt. Die gebe ich so schnell nicht auf!“ Er schlug mit der Hand so laut auf den Schreibtisch, daß Beechum zusammen zuckte.

Der Mann schlich durch den hellen Flur und sah sich um, ehe er leise die schwere Tür zum Arbeitszimmer Albert Donovans öffnete. Beinahe geräuschlos schloß er sie hinter sich und eilte auf den großen Schreibtisch zu. Er begann systematisch damit, die Schubladen von oben nach unten zu durchsuchen. Die meisten Unterlagen legte er sofort beiseite, ohne sie wirklich zu lesen. Leicht nervös nestelte er an einer verschlossenen Lade. Mit einem heftigen Ruck brach er das lausige Schloß auf und starrte hinein. Leer! Warum verschloß jemand eine leere Schublade? Er tastete den hinteren, für das Auge verdeckten Teil des Holzes ab. Ja! Da war etwas! Ein Schlüssel, am Holz befestigt. Rasch löste er den kleinen Schlüssel vom Holz und ließ ihn in die Rocktasche gleiten. Notdürftig machte er das Schubfach wieder zu. Den Schlüssel hatte er rasch als Safeschlüssel erkannt. Der Millionär hatte seinen Wertschrank hinter einem „Ahnenporträt“ versteckt, welches zu seiner Rechten an der Wand neben dem Alkoven mit seinem Sekretär hing. Amersham schlich sich zu dem Bild, tastete nach dem verborgenen Scharnier und klappte das Ölgemälde dann ohne Probleme zur Seite. Den Safe hatte er bereits oft gesehen, aber noch nie war es ihm möglich gewesen, einen Blick auf den Inhalt zu werfen. Immer hatte Donovan die Tür verschlossen, sobald er das Arbeitszimmer betrat. Nervös zog er den Schlüssel aus der Jackentasche und führte ihn in die Öffnung. Vorsichtig drehte er den Schlüssel und registrierte erleichtert, dass das Schloss nachgab. Ein leises Klicken verriet ihm, dass der Safe jetzt offen war. Ein Blick noch zur Tür, dann zog Stewart Amersham an dem metallenen Griff und blickte in das Innere des Geldschrankes. Das Bargeld interessierte ihn nicht besonders. Ihm hatte es ein vergilbter Ordner angetan, den er aufschlug und die Seiten mit schnellen Blicken überflog. Ein hässliches Grinsen umspielte seinen Mund. Na also, das war doch etwas! Der Alte hatte gehörig Dreck am Stecken! Nun, dieses Wissen würde er zu gegebener Zeit ausspielen. Er wollte den Safe gerade verschließen, als er vom Fenster her ein Geräusch vernahm. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich der schwere Vorhang leicht bauschte, dann nahm er einen Schatten war.



„Mein lieber Chefinspektor Elk“ hub Sir John an und schraubte sich aus seinem großen Ledersessel. „Ja glauben Sie denn, bei diesen vagen Hinweisen kann ich die ganze City abriegeln? Oder gar die Lord Mayors Show absagen? Also ehrlich, was sind denn das für Sachen?“ Der Chef der britischen Polizeibehörde fuhr sich mit einer Hand über das schüttere Haar, mit den anderen nahm er die schwere Brille ab und starrte dann durch sie hindurch auf den Kriminalinspektor, der mit Hut und Mantel in seinem Büro stand. In dieser Perspektive wirkte Elk ganz klein. Sir John schmunzelte, dann räusperte er sich und erklärte: „Die City Police ist informiert und in erhöhter Alarmbereitschaft. Ein großes Kontingent Einsatzkräfte ist sowieso zusätzlich unterwegs. Sie, mein lieber Elk“ Sir John beäugte seinen erfahrensten Beamten streng, „begleiten den Lord Mayor auf der gesamten Strecke und lassen ihn nicht aus den Augen!“
Chefinspektor Elk versuchte unbeteiligt zu wirken und betrachtete die dunkle Eichenholztäfelung an der Wand hinter seinem Vorgesetzten mit größtmöglichem Interesse. So etwas Ähnliches hatte er erwartet. Sir John war näher an den Kriminalinspektor herangetreten und fragte leise: „Und sagen Sie, ist an den anonymen Vorwürfen etwas dran? Hat dieser Donovan etwas mit dem Tod dieser...dieser, na Sie wissen schon, zu tun?“
„Mary Hyde, Sir. Es sieht so aus, obwohl leider endgültige Beweise fehlen, Sir. Aber unser australischer Kollege scheint fest davon überzeugt zu sein.“
„Eh, wo ist dieser, dieser, na sie wissen schon, eigentlich?“
Elk sah kurz auf seine Uhr und meinte: „Inspektor Beechum müsste eigentlich gleich hier sein, Sir.“
Die Tür wurde aufgerissen und Joe Beechum stürmte herein. Hinter ihm kam Sir Johns hübsche dunkelhaarige Sekretärin in das große Büro des Yard-Chefs. „Entschuldigen Sie, Sir John, er ist einfach...“ „Schon gut, Miss Finley, bringen Sie uns doch einen Tee“ wiegelte Sir John väterlich ab und begrüßte den Besucher: „Sie sind also Inspektor, eh, Beechum aus Sydney. Willkommen im Yard!“
Der Begrüßte nickte kurz, sah zu seinem Kollegen herüber und begann: „Ich habe Neuigkeiten im Fall Donovan. Die Beamten in Haverfordwest bestätigen insoweit unsere Erkenntnisse, dass es einen Säugling dieses Namens gab, der Anfang 1932 als Findelkind in das Weisenhaus gekommen ist. Die Mitarbeiter werden im Archiv nach Unterlagen oder Bildern suchen, aber das kann dauern. Laut Melderegister gibt es einen Paul Canvas, der 1951 aus Südafrika nach Manchester gezogen ist. Dieser Canvas ist angeblich 1933 geboren, aber solche Angaben lassen sich möglicherweise auch fälschen. Es ist der einzige Canvas auf der gesamten britischen Insel, von einem dreiundachtzigjährigen Vikar in St. Mary Mead abgesehen.“ Beechum griff in sein Jackett und zog ein Schreiben hervor. „Dies habe ich soeben von Dr. Fergussen aus der Gerichtsmedizin erhalten. Der Schiffskoch Henry Black starb an einem bisher unbekannten Gift, welches die Lähmung der Atemwege zur Folge hat. Es wurde offensichtlich über eine Einstichstelle im Nacken des Opfers injiziert. Fergussen hofft, durch weitere Untersuchungen Hinweise auf die genauere Herkunft des Giftes zu erhalten.“
Inspektor Elk griff nach dem Schreiben, warf einen Blick darauf und reichte es an den fragend blickenden Sir John weiter.
„Wenn ich hinzufügen darf“ Beechum sah zu beiden Yard-Leuten herüber, „solche Gifte werden von einigen afrikanischen Buschstämmen verwendet. Vielleicht ist dieser Paul Canvas eine heiße Spur?“
„Verhaften!“ rief Sir John erregt, „gleich verhaften! Gefahr im Verzug, Staatsnotstand oder so. Veranlassen Sie alles, Elk. Und denken Sie daran, bei Erfolg ist Ihre Ernennung zum Kommissar nur noch eine Formalität!“ Als Beechum den Raum bereits verlassen hatte, beugte sich Sir John zu seinem erfahrenen Beamten und raunte ihm zu: „Nehmen Sie sich ein Beispiel an diesem, eh, na Sie wissen schon, der geht voran. Sie sind etwas träge geworden, mein lieber Chefinspektor.“ Elk hielt eine Hand an sein Ohr und fragte: „Wie belieben, Sir?“ und verließ ruhigen Schrittes das Büro, als Miss Finley mit dem Tee erschien. Sie schien verärgert, aber Sir John tröstete sie: „Setzen Sie sich, Kindchen, trinken wir beide eben allein den Tee, nicht war?“ Er zwinkerte ihr vertraulich zu.

6. Kapitel

„War das Albert Donovan am Telefon?“ fragte Beechum seinen Londoner Kollegen, als dieser den Hörer auf den Apparat gelegt hatte.
„Ja, er hat uns darüber informiert, dass sein Anwalt, dieser Stewart Amersham, verschwunden ist und mit ihm Bargeld in Höhe von ca. 10.000 Pfund.“ Elk starrte auf das Telefon. „Als ob nicht alles schon kompliziert genug wäre.“
„Ob dieser Amersham etwas mit den Drohungen gegen Donovan zu tun hat?“ mutmaßte der Australier.
„Wer weiß? Wir lassen ihn zu Fahndung ausschreiben und warten ab. Mehr können wir da nicht tun.“ Die Beamten saßen in Elks Büro, welches Dank der untergehenden Sonne im Dämmerlicht versank und eine friedliche Atmosphäre ausstrahlte, die es eigentlich so nicht gab. Elk griff erneut zum Hörer und veranlasste die sofortige Festnahme von Paul Canvas in Manchester sowie dessen rasche Überstellung an den Yard. Dann meinte er: „Wir sollten für heute Feierabend machen, Herr Kollege. Morgen wird ein harter Tag! Wir sprechen morgen früh den Ablauf durch. Ab 11.00 Uhr begleite ich Donovan und Sie halten sich unauffällig im Hintergrund bereit. Denn an Paul Canvas als Täter kann ich nicht wirklich glauben. Oder was meinen Sie?“ Elk fixierte den australischen Polizisten gründlich.
„Nun, ich würde es nicht ausschließen, es passt gut zusammen!“
„Genau“ meinte der Chefinspektor müde, „es passt zu gut zusammen“.

Der 12. November 1966 begann wie viele Novembertage in London: mit Nebel und kühlen Temperaturen. Bereits früh waren die Straßen gefüllt von Leuten, die als Statisten und Teilnehmer der Prozession auf dem Weg zu ihren Stellplätzen waren. Viele waren schon in ihre traditionellen Kleider gehüllt und erfüllten die Innenstadt mit Farbe und Leben.
Viel hatte Inspektor Elk dafür nicht übrig, als er dem Bus entstieg und die wenigen Schritte zum Yard-Gebäude tat.
Kaum in seinem Büro angekommen, wartete schon ein Sergeant mit der Nachricht auf ihn, dass man Paul Canvas in Manchester nicht angetroffen habe, eine Fahndung sei eingeleitet worden. Eine sofortige Befragung der Nachbarn und Kollegen hatte nichts erbracht, der Mann sei ein Einzelgänger gewesen, habe momentan Urlaub und sei ohne Nachsendeadresse verreist. Also blieb diese Spur zumindest offen, resümierte der Inspektor.
Als Joe Beechum den Raum betrat, fand er den Kollegen über eine Liste gebeugt, welche die wichtigsten Stationen der heutigen Parade umfasste. Sie traten an die extra an die Wand gehängte Übersichtskarte der City:
„Es beginnt punkt 11.30 Uhr am Mansion House, wo sich der Zug in Bewegung setzt. Über Poultry und Cheapside geht es dann zu St. Pauls, wo Donovan um 12.20 Uhr, also etwa 20 Minuten nach der Spitze der Prozession, die Kathedrale durch den Westportikus betritt, um vom Bischoff von Canterbury begrüßt zu werden. Anschließend geht es über Ludgate, Circus und Fleet Street zu den Royal Courts of Justice, wo ihm die offiziellen Rollen überreicht werden. Das dauert eine Stunde etwa. Danach geht es via Norfolk Street und Victoria Embankment zurück ins Mansion House. Es ist schier unmöglich, alles zu überwachen. Was meinen Sie, Beechum, wo schlägt der Täter zu?“
„Nun, das ist wirklich schwer, Herr Kollege. Ich kenne mich zu wenig aus in der Stadt, um das einzuschätzen. Viel Zeit hat der Täter am Mansion House, wo sich der Zug sammeln muß. Dort könnte er in Ruhe den besten Moment abwarten, weil Donovan dort lange auf einer Stelle steht. Der nächste Halt, St. Paul, ist sicher auch möglich. Wenn der Täter sich nicht mit einem Trick Zugang zum engen Umfeld des Opfers verschaffen kann, wird er möglicherweise von einem Dach aus auf sein Opfer mit einem Gewehr mit Zielfernrohr schießen. Das wäre vor St. Paul sicher möglich.“ referierte Joe Beechum, obwohl er selber nicht ganz überzeugt wirkte. Sie sahen sich das Signalement des Verdächtigen Kyle alias Paul Canvas´ an und ließen die Beschreibung auch an alle Dienststellen weiterleiten.
Beide Beamte sprachen noch einige Varianten durch, wollten sich allerdings auf keine final sichere Variante festlegen. Beechum würde also ab 12.00 Uhr im Hintergrund unauffällig den Zug begleiten, während sich Inspektor Elk direkt im Gefolge des neuen Lord Mayor aufhalten und einen möglichen Attentäter dort erkennen sollte. Alle Polizisten im Bereich der Veranstaltung waren entsprechend instruiert worden. Es konnte losgehen.
Beechum war schon voraus zum Wagen geeilt und Elk stapfte bedächtig die Treppe hinunter, als ihm Dr. Fergussen über den Weg lief.
„Ah, Inspektor, schön, dass ich Sie treffe. Wollte gerade zu Ihnen, spart mir das weitere Treppensteigen“ Er schnaufte schon beängstigend. „Das Gift, das den alten Schiffskoch getötet hat, stammt wahrscheinlich von einem Eingeborenenstamm von den Tonga-Inseln. Hatte ja schon grob in Richtung Südsee gedacht und Ihnen mitteilen lassen. War gestern Abend noch in der Universitätsbibliothek und habe die einschlägige Literatur befragt. Hoffe, das bringt Sie weiter?“
Der Inspektor, in Gedanken schon bei der Prozession, nickte und rief dem stehen gebliebenen Polizeiarzt nach: „Ja, Danke. Legen Sie den Bericht doch bitte auf meinen Schreibtisch.“
Dr. Fergussen schüttelte ein wenig den Kopf und musterte die noch vor ihm liegenden Stufen.

Albert Donovan war kaum wieder zu erkennen: das prächtige Gewand des Lord Mayor kleidete ihn außerordentlich vorteilhaft. Kleider machen doch Leute, dachte Kriminalinspektor Elk, auch wenn dahinter nicht viel Ehrenvolles steckte. Der neu ernannte Lord Mayor begrüßte den Yard-Beamten nachsichtig: „Gibt es etwas Neues von Amersham oder dem Briefeschreiber? War er es gar selber?“ fragte er, während er an der goldenen Amtskette nestelte.
„Bedaure, Mr. Donovan“ Elk verkniff sich die offizielle Anrede Lord Mayor, was dieser finster bemerkte, ohne darauf einzugehen.
„Nun gut, was habe ich anderes erwartet. Ich gehe davon aus, dass Sie für den Schutz meines Lebens einstehen werden, Herr Inspektor. Sir John hat mir persönlich versichert, Sie seinen sein bester Mann. Sollt er sich irren, wird das persönliche Konsequenzen für Sie haben!“
Für Sie aber auch, dachte Elk gehässig und brummte: „Wie belieben?“
Der Würdenträger winkte resigniert ab und drehte sich zu dem noch geschlossenen Altarspiegel. „Wo bleibt mein Diener!“ rief er laut. Plötzlich hielt er inne. Er hatte einen Flügel des Spiegels aufgeklappt und starrte auf die Worte, die dort in blutroten Buchstaben aufgemalt waren: Mörder! Bereue, beichte, stirb!

Der Zug setzte sich Punkt 12.00 Uhr in Bewegung. Die Schottische Garde bildete traditionell die Spitze, gefolgt vom Assistent Commissioner der City of London. Überall an den Straßen hatten sich Spaliere von Menschen gebildet, die dem Lord Mayor die Ehre erweisen oder einfach einen guten Blick auf den farbenfroh gestalteten Umzug erhaschen wollten.
Der Frühnebel war nahezu verschwunden, einzelne Sonnenstrahlen drangen bis in die City vor und gaben dem Festumzug etwas Heiteres.
Einzig der Lord Mayor und Kriminalchefinspektor Elk konnten den Umständen nichts Positives abgewinnen. Donovan selber hatte sich beruhigt, nachdem er Zeter und Mordio schreiend durch die Amtsräume gelaufen war und jeden Diener persönlich befragt hatte, ob dieser eine verdächtige Person bemerkt hätten. Aber außer der Polizei und den Angestellten des Mansion House war der Dienerschaft niemand begegnet.
Wutentbrannt und aufgewühlt eilte Albert Donovan hinunter, um sich in den Festumzug einzureihen, gefolgt von einem sich prüfend umschauenden Inspektor Elk.
Es war 12.20 Uhr und die Kutsche des Lord Mayor setzte sich in Bewegung. Elk ging inmitten festlich gekleideter Bediensteter nebenher und versuchte dabei, die Umgebung im Auge zu behalten.

Etwa zu dieser Zeit hatte Joe Beechum die St. Pauls Kathedrale erreicht, wo der Zug das erste Mal halten sollte. Da die Zielperson hier die Kutsche verlassen und über den Platz zu den Stufen des Portals schreiten musste, konnte dies ein potentieller Anschlagsort sein. Er zog aus seiner dicken Aktentasche das von Sir John unterschriebene Papier, welches ihm Zutritt zu allen Sicherheitsbereichen gewährte und konnte ungehindert die Absperrung überwinden. Kritisch musterte er die umliegenden Gebäude, die ein eindrucksvolles Ensemble viktorianischer Baukunst darstellten. Dank seiner Recherchen war ihm das Umfeld inzwischen vertraut. Mit schnellen Schritten betrat er die Kathedrale. Das festlich geschmückte Kirchenschiff übte einen eigentümlichen Reiz auf den Australier aus. Er bekreuzigte sich und begann dann, seine Vorbereitungen zu treffen.

Die Schüsse ließen Elk zusammen zucken, doch es waren Salutschüsse der Garde, die den Lord Mayor begrüßte. Donovan saß winkend in der goldenen Kutsche, welche seit knapp zweihundert Jahren schon für diese Prozession Verwendung fand.
„Sir, Sir!“ Ein Bobby eilte quer über die Straße auf den erstaunten Yard-Mann zu. „Sir, Sie hatten doch eine Durchsuchung des Donovan´schen Anwesens in Gerrads Cross angeordnet. In einem alten Wassergraben haben wir eine Leiche gefunden, Sir.“ Der Beamte schritt neben dem Inspektor her und versuchte, seine Neuigkeiten so diskret wie möglich zu übermitteln, was angesichts des lärmenden Umfeldes nicht immer leicht war. „Es waren keine Papiere dabei, aber der Arzt meint, er wäre seit etwa vierundzwanzig Stunden tot. Es handelt sich um einen Mann von ca. 35 bis 40 Jahren, eher schmal gebaut, dunkelblond.“
Elk nickte und schickte den Streifenpolizisten wieder fort. Sich immer noch umsehend, versuchte er das Gehörte einzuordnen. Es wollte sich aber kein rechtes Gesamtbild aus all den Puzzleteilen ergeben.
Inzwischen hatten sie das Westportal der St. Pauls Kathedrale erreicht, der Tross stoppte. Eine Einheit der Paddler beendete gerade ihre Vorführung. Albert Donovan blickte sich etwas unsicher um, sein Blick streifte auch den Chefinspektor, der weiterhin das Umfeld im Auge behielt, soweit es eben möglich war. Jubelnde Massen säumten auch hier den Platz.
Elk fand, dass der Mann sich immer noch relativ gut im Griff hatte in Anbetracht der Tatsache, dass er massiv bedroht worden war.
Als der Lord Mayor aus der goldenen Karosse stieg, verließ auch der Inspektor seinen Platz, um den Mann zum Portal der Kirche zu begleiten. Er zog aus dem Mantel ein Funkgerät hervor und rief seinen australischen Kollegen an. „Beechum, wo sind Sie?“ „In der Allerseelenkapelle im nördlichen Seitenschiff“ drang es krächzend an sein Ohr. „Hier nichts Auffälliges“ „Funk Ende“ antwortete Elk und ließ das Gerät auf Empfang.
Zügiger als sonst üblich schritten beide die Stufen zum Kirchenportal hinauf, an welchem der Erzbischoff in seinen purpurnen Gewändern, umgeben von weiteren Geistlichen, auf den Gast wartete.
Angesichts der Bedrohungslage hatten sie vereinbart, die Begrüßungszeremonie komplett ins Innere der Kathedrale zu verlegen. Die kleine Gruppe aus kirchlichen Würdenträgern, Lord Mayor und Kriminalinspektor durchschritt also das Portal. Sofort umwehte sie ein Geruch aus Weihrauch und Patina, das beeindruckende Kirchenschiff vor ihnen wirkte erhaben und würdevoll.
Das Innere der prachtvollen Kirche war beinahe menschenleer, von wenigen Geistlichen in braunen Mönchskutten abgesehen. Elks Augen hatten sich schnell an das vorherrschende Dämmerlicht angepasst und glitten nach oben. Über ihnen tat sich in der prachtvollen Kuppel die Flüstergalerie auf, die in ca. 30 Meter die komplette Kuppel umlief. Ein Mönch eilte die Galerie entlang und verschwand in einer der zahlreichen Türen. Elk hielt nach seinem Kollegen Ausschau, aber Joe Beechum hatte sich offenbar eine gute Deckung gesucht.
Elk stutzte. Seit wann eilen Mönche? fragte er sich still. Er blickte rasch nach oben. Der Mönch war zurückgekehrt und stand an der Balustrade der Galerie, offenbar beobachtete er die kleine Personengruppe schräg unter Ihnen. Genau war das in dem Dämmerlicht nicht zu erkennen.
In diesem Moment, der Erzbischoff hatte gerade zu seiner kleinen Begrüßungsrede angesetzt, zuckte der Lord Mayor zusammen und schrie auf. Er griff sich verwundert an den Hals und zog einen kleinen Pfeil heraus, der ihn getroffen haben musste. Während der Verwundete wie in Zeitlupe zu Boden ging und die kirchlichen Würdenträger erschrocken zurück wichen, erfasste der Inspektor die Situation rasch, lief zu den Stufen der Galerie hinauf und rief ins Funkgerät: „Beechum, auf der Flüstergalerie, rasch, ein Mönch!“
Der „Mönch“ hatte inzwischen die Galerie verlassen und eilte die Stufen nach oben auf die Steingalerie zu. Elk konnte die Schritte hören, aber zu Gesicht bekam er den Attentäter nicht. Dieser hatte die außen liegende Steingalerie erreicht und betreten, ohne sich umzusehen. Er rannte ein Stück, schwang sich über das Geländer und ließ sich an einem vorher angebrachten Tau zum nächsten Dach hinunter. Elk tauchte oben an der Galerie auf, als der Flüchtende in einem der beiden Westtürme verschwand. „Beechum, im linken Westturm, er kommt runter“ rief er ins Funkgerät.
„Ich laufe auf ihn zu“ krächzte es zurück. „Muß ihn gleich sehen“
Während Kriminalchefinspektor Elk den Rückweg über die Kuppel antrat, wurde er per Funk Zeuge der Vorfälle, die ihn noch verwirren sollten. Aus dem Gerät waren die eiligen Schritte Beechums zu hören, plötzlich ein Krachen und Scheppern, jemand schrie auf, ein Kampf entbrannte offenbar, bis es mit einem Mal still war und Elk lediglich Schritte hörte, die sich entfernten. „Beechum, was ist los?“ rief er, seine eigenen Schritte beschleunigend. „Was ist los? Melden Sie sich!“
Nur das Rauschen des Gerätes drang an sein Ohr. Wenige Augenblicke später hatte er den Gang erreicht, in welchem sich der australische Polizist befinden musste und sah eine Gestalt reglos am Boden liegen. Von der anderen Seite kamen mehrere uniformierte Beamte herbei gestürmt.
„Haben Sie jemanden gesehen?“ fragte Elk atemlos die Polizisten, die dies verneinten. Elk beugte sich über den am Boden liegenden Joe Beechum und stellte erleichtert fest, dass dieser atmete. „Einen Arzt, schnell!“ rief er den Kollegen zu. Dann wandte er sich dem Verletzten zu und fragte: „Was ist passiert?“
„Mönch... Schlag...“ kam es leise und stockend aus dem Mund des Australiers, der kaum die Augen aufhalten konnte. Elk spürte Blut an seiner Hand, welches offenbar aus einer Platzwunde am Kopf des Kollegen herrührte.
Ein Beamter brachte dem Inspektor das Funkgerät sowie eine Mönchskutte. „Beides haben wir hier direkt hinter der Biegung gefunden, Sir.“ „Alles in die Kriminaltechnik“ entgegnete Elk leise. Dann sprach er dem am Boden liegenden Beechum gut zu, damit dieser bei Bewusstsein blieb. Als der Arzt eintraf, verließ Elk das Geschehen und begab sich hinunter in das Hauptschiff der Kirche, wo das Umfeld um die Leiche von Albert Donovan bereits abgesperrt war. Vom Attentäter fehlte jede Spur, offenbar hatte er den eigentlich hermetisch abgeriegelten Tatort unbemerkt verlassen können.
 

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Die eigentliche Ernennung zum Lord Mayor hatte Albert Donovan vor einer halben Stunde hinter sich gebracht und war mit seinem Anwalt gerade in seinem Büro in der Fetter Lane eingetroffen, wo er ein erneutes anonymes Schreiben in seinem Büro vorfand. Stewart Amersham schäkerte gerade mit einer hübschen Praktikantin im Vorzimmer, als er den lauten Schrei seines Chefs vernahm. Er stürzte in das Büro seines Arbeitgebers und schrak zurück. Der Millionär hockte hinter seinem breiten eichenen Schreibtisch, bleich, zitternd, den Brief anstarrend, der wie eine schweigende Bedrohung vor ihm lag. Als der Anwalt das Schreiben an sich nehmen wollte, schnappte sich Donovan das Blatt Papier mit einer behänden Bewegung und stopfte es in die Tasche des schwarzen Jacketts. „Verschwinden Sie! Raus! Lassen Sie mich allein!“ Er war aufgesprungen und drängte den überraschten Anwalt aus dem Büro. Dann verschloß er die Tür hinter ihm und ging in die Hocke. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er schnappte nach Luft, zog die Krawatte auf, fahrig suchten seine Finger nach dem Hemdknopf, doch die Luftknappheit ließ nicht nach. Albert Donovan sank zu Boden und blieb reglos an der Tür liegen.
Steward Amersham starrte nachdenklich auf die verschlossene Tür zum Nebenraum und fragte die immer noch verstörte Praktikantin nach dem Überbringer des Briefes. Die konnte sich nur noch daran erinnern, dass ein Botenjunge das Schreiben am späteren Vormittag überbracht hatte, ohne auf Trinkgeld zu warten.
Als der Anwalt sein eigenes Büro betreten hatte, setzte er sich grübelnd an seinen Arbeitsplatz. Was hatte das alles zu bedeuten? sinnierte er. Gefährdete hier irgend etwas seine Pläne? Das konnte er nicht zulassen! Gab es etwas, was seinen Chef belasten konnte? Und wenn, dann wollte er selber derjenige sein, der das belastende Material in den Händen hatte!
Entschlossen stand er auf, griff nach seinem Mantel und verließ zügig das Bürogebäude.

Die beiden Polizisten saßen in Elk´ Büro und starrten auf das Telex, welches sie aus Haverfordwest erhalten hatten. „Wie passt das alles zusammen?“ Beechum schüttelte den Kopf.
„Lassen sie uns mal versuchen, einen zeitlichen Ablauf zu konstruieren, Herr Kollege“ begann Elk. „Mary Hyde verschwindet 1931 in Sydney für mehrere Wochen – hat sie vielleicht heimlich entbunden? Taucht dann wieder auf und wird im November tot im Hafenbecken gefunden. Die Ermittlungen verlaufen im Sande, auch weil es keinen Beweis für ein Verbrechen gibt. Etwa zu dieser Zeit veranlasst Albert Donovan, der zu Mary Hyde in, sagen wir, körperlicher Beziehung stand, den Schiffskapitän der „Golden Brigg“, ein Päckchen nach England mitzunehmen. Dieser übergibt das Päckchen an den Schiffskoch und Kumpan Henry Black, der es nach der Ankunft des Schiffes in Port Talbot wieder dem Kapitän übergeben haben will. Wieso der Koch? Der Kapitän hätte doch leicht ein Päckchen verstecken können ohne einen Mitwisser? Weil der Koch den Säugling versorgen, ernähren musste! Lt. Schifffahrtsregister kam die „Golden Brigg“ am 15. Januar 1932 in Port Talbot an. Am 17. Januar nun vermeldet die Verwaltung des Kinder- und Weisenhauses Haverfordwest die anonyme Abgabe eines vermutlich zwei Monate alten Kleinkindes unbekannter Herkunft. Die Umstände des Auffindens lassen darauf schließen, dass der Säugling eine Seereise hinter sich gebracht haben könnte. Er war z.B. in Schiffsleinen gewickelt. Und das Weisenhaus ist keine zwei Stunden von Port Talbot entfernt“
„Klingt das jetzt nicht etwas zu stringent“ versuchte Joe Beechum einzuwenden. „Es könnte zwar so gewesen sein, dass Mary Hyde 1931 ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat. Aber wir haben keinen Beweis dafür, ebenso wenig dafür, dass es sich bei dem ominösen Päckchen um dieses Kind gehandelt haben könnte.“
Elk räusperte sich. „Nun, Herr Kollege, die Verbindung haben Sie ja selber entdeckt. Die Kopie eines amtlichen Schreibens der Einwohnerbehörde in Haverfordwest, welche etwa dieselben Angaben enthält, die wir heute erhalten haben. Diese Kopie, angefertigt vor gut zehn Jahren und angefragt von Henry Black, haben Sie ja selber in Blacks Unterlagen gefunden. Vor zehn Jahren musterte der Koch endgültig ab, zu dieser Zeit erfuhr er, dass er unheilbar an Lungenkrebs erkrankt war. Da bekam er ein schlechtes Gewissen, er erkundigte sich, was aus dem „Päckchen“ geworden war.“
Joe Beechum nickte. „Das klingt alles logisch, aber beweisen lässt es sich leider nicht. Wir wissen ja nichts Genaues über das Kind. Aus den Unterlagen geht nicht mal hervor, ob es ein Junge oder Mädchen war, im Weisenhaus erhielt es den Namen Kyle, der beides bedeuten kann. Und als Kyle Canvas, wie man das Findelkind bezeichnenderweise amtlich nannte, achtzehn Jahre alt wurde, verließ er / sie das Heim, ohne sich irgendwo anzumelden.“ Der Australier schien zu resignieren. Doch Elk ließ nicht locker: „Dann rufen Sie dort an. Vielleicht erinnert sich jemand an Kyle Canvas, oder es gibt Jahrgangsfotos im Archiv des Hauses. Das ist eine vielversprechende Spur, die erste überhaupt. Die gebe ich so schnell nicht auf!“ Er schlug mit der Hand so laut auf den Schreibtisch, daß Beechum zusammen zuckte.

Der Mann schlich durch den hellen Flur und sah sich um, ehe er leise die schwere Tür zum Arbeitszimmer Albert Donovans öffnete. Beinahe geräuschlos schloß er sie hinter sich und eilte auf den großen Schreibtisch zu. Er begann systematisch damit, die Schubladen von oben nach unten zu durchsuchen. Die meisten Unterlagen legte er sofort beiseite, ohne sie wirklich zu lesen. Leicht nervös nestelte er an einer verschlossenen Lade. Mit einem heftigen Ruck brach er das lausige Schloß auf und starrte hinein. Leer! Warum verschloß jemand eine leere Schublade? Er tastete den hinteren, für das Auge verdeckten Teil des Holzes ab. Ja! Da war etwas! Ein Schlüssel, am Holz befestigt. Rasch löste er den kleinen Schlüssel vom Holz und ließ ihn in die Rocktasche gleiten. Notdürftig machte er das Schubfach wieder zu. Den Schlüssel hatte er rasch als Safeschlüssel erkannt. Der Millionär hatte seinen Wertschrank hinter einem „Ahnenporträt“ versteckt, welches zu seiner Rechten an der Wand neben dem Alkoven mit seinem Sekretär hing. Amersham schlich sich zu dem Bild, tastete nach dem verborgenen Scharnier und klappte das Ölgemälde dann ohne Probleme zur Seite. Den Safe hatte er bereits oft gesehen, aber noch nie war es ihm möglich gewesen, einen Blick auf den Inhalt zu werfen. Immer hatte Donovan die Tür verschlossen, sobald er das Arbeitszimmer betrat. Nervös zog er den Schlüssel aus der Jackentasche und führte ihn in die Öffnung. Vorsichtig drehte er den Schlüssel und registrierte erleichtert, dass das Schloss nachgab. Ein leises Klicken verriet ihm, dass der Safe jetzt offen war. Ein Blick noch zur Tür, dann zog Stewart Amersham an dem metallenen Griff und blickte in das Innere des Geldschrankes. Das Bargeld interessierte ihn nicht besonders. Ihm hatte es ein vergilbter Ordner angetan, den er aufschlug und die Seiten mit schnellen Blicken überflog. Ein hässliches Grinsen umspielte seinen Mund. Na also, das war doch etwas! Der Alte hatte gehörig Dreck am Stecken! Nun, dieses Wissen würde er zu gegebener Zeit ausspielen. Er wollte den Safe gerade verschließen, als er vom Fenster her ein Geräusch vernahm. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich der schwere Vorhang leicht bauschte, dann nahm er einen Schatten war.



„Mein lieber Chefinspektor Elk“ hub Sir John an und schraubte sich aus seinem großen Ledersessel. „Ja glauben Sie denn, bei diesen vagen Hinweisen kann ich die ganze City abriegeln? Oder gar die Lord Mayors Show absagen? Also ehrlich, was sind denn das für Sachen?“ Der Chef der britischen Polizeibehörde fuhr sich mit einer Hand über das schüttere Haar, mit den anderen nahm er die schwere Brille ab und starrte dann durch sie hindurch auf den Kriminalinspektor, der mit Hut und Mantel in seinem Büro stand. In dieser Perspektive wirkte Elk ganz klein. Sir John schmunzelte, dann räusperte er sich und erklärte: „Die City Police ist informiert und in erhöhter Alarmbereitschaft. Ein großes Kontingent Einsatzkräfte ist sowieso zusätzlich unterwegs. Sie, mein lieber Elk“ Sir John beäugte seinen erfahrensten Beamten streng, „begleiten den Lord Mayor auf der gesamten Strecke und lassen ihn nicht aus den Augen!“
Chefinspektor Elk versuchte unbeteiligt zu wirken und betrachtete die dunkle Eichenholztäfelung an der Wand hinter seinem Vorgesetzten mit größtmöglichem Interesse. So etwas Ähnliches hatte er erwartet. Sir John war näher an den Kriminalinspektor herangetreten und fragte leise: „Und sagen Sie, ist an den anonymen Vorwürfen etwas dran? Hat dieser Donovan etwas mit dem Tod dieser...dieser, na Sie wissen schon, zu tun?“
„Mary Hyde, Sir. Es sieht so aus, obwohl leider endgültige Beweise fehlen, Sir. Aber unser australischer Kollege scheint fest davon überzeugt zu sein.“
„Eh, wo ist dieser, dieser, na sie wissen schon, eigentlich?“
Elk sah kurz auf seine Uhr und meinte: „Inspektor Beechum müsste eigentlich gleich hier sein, Sir.“
Die Tür wurde aufgerissen und Joe Beechum stürmte herein. Hinter ihm kam Sir Johns hübsche dunkelhaarige Sekretärin in das große Büro des Yard-Chefs. „Entschuldigen Sie, Sir John, er ist einfach...“ „Schon gut, Miss Finley, bringen Sie uns doch einen Tee“ wiegelte Sir John väterlich ab und begrüßte den Besucher: „Sie sind also Inspektor, eh, Beechum aus Sydney. Willkommen im Yard!“
Der Begrüßte nickte kurz, sah zu seinem Kollegen herüber und begann: „Ich habe Neuigkeiten im Fall Donovan. Die Beamten in Haverfordwest bestätigen insoweit unsere Erkenntnisse, dass es einen Säugling dieses Namens gab, der Anfang 1932 als Findelkind in das Weisenhaus gekommen ist. Die Mitarbeiter werden im Archiv nach Unterlagen oder Bildern suchen, aber das kann dauern. Laut Melderegister gibt es einen Paul Canvas, der 1951 aus Südafrika nach Manchester gezogen ist. Dieser Canvas ist angeblich 1933 geboren, aber solche Angaben lassen sich möglicherweise auch fälschen. Es ist der einzige Canvas auf der gesamten britischen Insel, von einem dreiundachtzigjährigen Vikar in St. Mary Mead abgesehen.“ Beechum griff in sein Jackett und zog ein Schreiben hervor. „Dies habe ich soeben von Dr. Fergussen aus der Gerichtsmedizin erhalten. Der Schiffskoch Henry Black starb an einem bisher unbekannten Gift, welches die Lähmung der Atemwege zur Folge hat. Es wurde offensichtlich über eine Einstichstelle im Nacken des Opfers injiziert. Fergussen hofft, durch weitere Untersuchungen Hinweise auf die genauere Herkunft des Giftes zu erhalten.“
Inspektor Elk griff nach dem Schreiben, warf einen Blick darauf und reichte es an den fragend blickenden Sir John weiter.
„Wenn ich hinzufügen darf“ Beechum sah zu beiden Yard-Leuten herüber, „solche Gifte werden von einigen afrikanischen Buschstämmen verwendet. Vielleicht ist dieser Paul Canvas eine heiße Spur?“
„Verhaften!“ rief Sir John erregt, „gleich verhaften! Gefahr im Verzug, Staatsnotstand oder so. Veranlassen Sie alles, Elk. Und denken Sie daran, bei Erfolg ist Ihre Ernennung zum Kommissar nur noch eine Formalität!“ Als Beechum den Raum bereits verlassen hatte, beugte sich Sir John zu seinem erfahrenen Beamten und raunte ihm zu: „Nehmen Sie sich ein Beispiel an diesem, eh, na Sie wissen schon, der geht voran. Sie sind etwas träge geworden, mein lieber Chefinspektor.“ Elk hielt eine Hand an sein Ohr und fragte: „Wie belieben, Sir?“ und verließ ruhigen Schrittes das Büro, als Miss Finley mit dem Tee erschien. Sie schien verärgert, aber Sir John tröstete sie: „Setzen Sie sich, Kindchen, trinken wir beide eben allein den Tee, nicht war?“ Er zwinkerte ihr vertraulich zu.

6. Kapitel

„War das Albert Donovan am Telefon?“ fragte Beechum seinen Londoner Kollegen, als dieser den Hörer auf den Apparat gelegt hatte.
„Ja, er hat uns darüber informiert, dass sein Anwalt, dieser Stewart Amersham, verschwunden ist und mit ihm Bargeld in Höhe von ca. 10.000 Pfund.“ Elk starrte auf das Telefon. „Als ob nicht alles schon kompliziert genug wäre.“
„Ob dieser Amersham etwas mit den Drohungen gegen Donovan zu tun hat?“ mutmaßte der Australier.
„Wer weiß? Wir lassen ihn zu Fahndung ausschreiben und warten ab. Mehr können wir da nicht tun.“ Die Beamten saßen in Elks Büro, welches Dank der untergehenden Sonne im Dämmerlicht versank und eine friedliche Atmosphäre ausstrahlte, die es eigentlich so nicht gab. Elk griff erneut zum Hörer und veranlasste die sofortige Festnahme von Paul Canvas in Manchester sowie dessen rasche Überstellung an den Yard. Dann meinte er: „Wir sollten für heute Feierabend machen, Herr Kollege. Morgen wird ein harter Tag! Wir sprechen morgen früh den Ablauf durch. Ab 11.00 Uhr begleite ich Donovan und Sie halten sich unauffällig im Hintergrund bereit. Denn an Paul Canvas als Täter kann ich nicht wirklich glauben. Oder was meinen Sie?“ Elk fixierte den australischen Polizisten gründlich.
„Nun, ich würde es nicht ausschließen, es passt gut zusammen!“
„Genau“ meinte der Chefinspektor müde, „es passt zu gut zusammen“.

Der 12. November 1966 begann wie viele Novembertage in London: mit Nebel und kühlen Temperaturen. Bereits früh waren die Straßen gefüllt von Leuten, die als Statisten und Teilnehmer der Prozession auf dem Weg zu ihren Stellplätzen waren. Viele waren schon in ihre traditionellen Kleider gehüllt und erfüllten die Innenstadt mit Farbe und Leben.
Viel hatte Inspektor Elk dafür nicht übrig, als er dem Bus entstieg und die wenigen Schritte zum Yard-Gebäude tat.
Kaum in seinem Büro angekommen, wartete schon ein Sergeant mit der Nachricht auf ihn, dass man Paul Canvas in Manchester nicht angetroffen habe, eine Fahndung sei eingeleitet worden. Eine sofortige Befragung der Nachbarn und Kollegen hatte nichts erbracht, der Mann sei ein Einzelgänger gewesen, habe momentan Urlaub und sei ohne Nachsendeadresse verreist. Also blieb diese Spur zumindest offen, resümierte der Inspektor.
Als Joe Beechum den Raum betrat, fand er den Kollegen über eine Liste gebeugt, welche die wichtigsten Stationen der heutigen Parade umfasste. Sie traten an die extra an die Wand gehängte Übersichtskarte der City:
„Es beginnt punkt 11.30 Uhr am Mansion House, wo sich der Zug in Bewegung setzt. Über Poultry und Cheapside geht es dann zu St. Pauls, wo Donovan um 12.20 Uhr, also etwa 20 Minuten nach der Spitze der Prozession, die Kathedrale durch den Westportikus betritt, um vom Bischoff von Canterbury begrüßt zu werden. Anschließend geht es über Ludgate, Circus und Fleet Street zu den Royal Courts of Justice, wo ihm die offiziellen Rollen überreicht werden. Das dauert eine Stunde etwa. Danach geht es via Norfolk Street und Victoria Embankment zurück ins Mansion House. Es ist schier unmöglich, alles zu überwachen. Was meinen Sie, Beechum, wo schlägt der Täter zu?“
„Nun, das ist wirklich schwer, Herr Kollege. Ich kenne mich zu wenig aus in der Stadt, um das einzuschätzen. Viel Zeit hat der Täter am Mansion House, wo sich der Zug sammeln muß. Dort könnte er in Ruhe den besten Moment abwarten, weil Donovan dort lange auf einer Stelle steht. Der nächste Halt, St. Paul, ist sicher auch möglich. Wenn der Täter sich nicht mit einem Trick Zugang zum engen Umfeld des Opfers verschaffen kann, wird er möglicherweise von einem Dach aus auf sein Opfer mit einem Gewehr mit Zielfernrohr schießen. Das wäre vor St. Paul sicher möglich.“ referierte Joe Beechum, obwohl er selber nicht ganz überzeugt wirkte. Sie sahen sich das Signalement des Verdächtigen Kyle alias Paul Canvas´ an und ließen die Beschreibung auch an alle Dienststellen weiterleiten.
Beide Beamte sprachen noch einige Varianten durch, wollten sich allerdings auf keine final sichere Variante festlegen. Beechum würde also ab 12.00 Uhr im Hintergrund unauffällig den Zug begleiten, während sich Inspektor Elk direkt im Gefolge des neuen Lord Mayor aufhalten und einen möglichen Attentäter dort erkennen sollte. Alle Polizisten im Bereich der Veranstaltung waren entsprechend instruiert worden. Es konnte losgehen.
Beechum war schon voraus zum Wagen geeilt und Elk stapfte bedächtig die Treppe hinunter, als ihm Dr. Fergussen über den Weg lief.
„Ah, Inspektor, schön, dass ich Sie treffe. Wollte gerade zu Ihnen, spart mir das weitere Treppensteigen“ Er schnaufte schon beängstigend. „Das Gift, das den alten Schiffskoch getötet hat, stammt wahrscheinlich von einem Eingeborenenstamm von den Tonga-Inseln. Hatte ja schon grob in Richtung Südsee gedacht und Ihnen mitteilen lassen. War gestern Abend noch in der Universitätsbibliothek und habe die einschlägige Literatur befragt. Hoffe, das bringt Sie weiter?“
Der Inspektor, in Gedanken schon bei der Prozession, nickte und rief dem stehen gebliebenen Polizeiarzt nach: „Ja, Danke. Legen Sie den Bericht doch bitte auf meinen Schreibtisch.“
Dr. Fergussen schüttelte ein wenig den Kopf und musterte die noch vor ihm liegenden Stufen.

Albert Donovan war kaum wieder zu erkennen: das prächtige Gewand des Lord Mayor kleidete ihn außerordentlich vorteilhaft. Kleider machen doch Leute, dachte Kriminalinspektor Elk, auch wenn dahinter nicht viel Ehrenvolles steckte. Der neu ernannte Lord Mayor begrüßte den Yard-Beamten nachsichtig: „Gibt es etwas Neues von Amersham oder dem Briefeschreiber? War er es gar selber?“ fragte er, während er an der goldenen Amtskette nestelte.
„Bedaure, Mr. Donovan“ Elk verkniff sich die offizielle Anrede Lord Mayor, was dieser finster bemerkte, ohne darauf einzugehen.
„Nun gut, was habe ich anderes erwartet. Ich gehe davon aus, dass Sie für den Schutz meines Lebens einstehen werden, Herr Inspektor. Sir John hat mir persönlich versichert, Sie seinen sein bester Mann. Sollt er sich irren, wird das persönliche Konsequenzen für Sie haben!“
Für Sie aber auch, dachte Elk gehässig und brummte: „Wie belieben?“
Der Würdenträger winkte resigniert ab und drehte sich zu dem noch geschlossenen Altarspiegel. „Wo bleibt mein Diener!“ rief er laut. Plötzlich hielt er inne. Er hatte einen Flügel des Spiegels aufgeklappt und starrte auf die Worte, die dort in blutroten Buchstaben aufgemalt waren: Mörder! Bereue, beichte, stirb!

Der Zug setzte sich Punkt 12.00 Uhr in Bewegung. Die Schottische Garde bildete traditionell die Spitze, gefolgt vom Assistent Commissioner der City of London. Überall an den Straßen hatten sich Spaliere von Menschen gebildet, die dem Lord Mayor die Ehre erweisen oder einfach einen guten Blick auf den farbenfroh gestalteten Umzug erhaschen wollten.
Der Frühnebel war nahezu verschwunden, einzelne Sonnenstrahlen drangen bis in die City vor und gaben dem Festumzug etwas Heiteres.
Einzig der Lord Mayor und Kriminalchefinspektor Elk konnten den Umständen nichts Positives abgewinnen. Donovan selber hatte sich beruhigt, nachdem er Zeter und Mordio schreiend durch die Amtsräume gelaufen war und jeden Diener persönlich befragt hatte, ob dieser eine verdächtige Person bemerkt hätten. Aber außer der Polizei und den Angestellten des Mansion House war der Dienerschaft niemand begegnet.
Wutentbrannt und aufgewühlt eilte Albert Donovan hinunter, um sich in den Festumzug einzureihen, gefolgt von einem sich prüfend umschauenden Inspektor Elk.
Es war 12.20 Uhr und die Kutsche des Lord Mayor setzte sich in Bewegung. Elk ging inmitten festlich gekleideter Bediensteter nebenher und versuchte dabei, die Umgebung im Auge zu behalten.

Etwa zu dieser Zeit hatte Joe Beechum die St. Pauls Kathedrale erreicht, wo der Zug das erste Mal halten sollte. Da die Zielperson hier die Kutsche verlassen und über den Platz zu den Stufen des Portals schreiten musste, konnte dies ein potentieller Anschlagsort sein. Er zog aus seiner dicken Aktentasche das von Sir John unterschriebene Papier, welches ihm Zutritt zu allen Sicherheitsbereichen gewährte und konnte ungehindert die Absperrung überwinden. Kritisch musterte er die umliegenden Gebäude, die ein eindrucksvolles Ensemble viktorianischer Baukunst darstellten. Dank seiner Recherchen war ihm das Umfeld inzwischen vertraut. Mit schnellen Schritten betrat er die Kathedrale. Das festlich geschmückte Kirchenschiff übte einen eigentümlichen Reiz auf den Australier aus. Er bekreuzigte sich und begann dann, seine Vorbereitungen zu treffen.

...

Wie es weitergeht, ob der geheimnisvolle Todesbote sein Ziel erreicht und welches dunkle Geheimnis Albert Donovan umgibt, dies alles kann man als e-book (pdf)nachlesen unter http://www.libri-amici.com (Download-Angebot)und als Hörbuch nachhören unter http://www.soforthoeren.de (Download-Angebot).
 



 
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