Der Todesbote - zweiter Teil (Kap. 3 und 4)

Billyboy

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3. Kapitel

„Erzählen Sie“ hatte Chefinspektor Elk sein Gegenüber aufgefordert, nachdem beide Männer im Wagen des Yard-Mannes Platz genommen hatten und der graue Vauxhall die Ausfallstraße nach Westen erreicht hatte. Es war erst kurz nach acht Uhr morgens und beide Polizisten auf dem Weg nach Gerrards Cross, wo sich das Anwesen der Familie Donovan befand.
Beechum berichtete von seinem abendlichen Gespräch mit dem alten Schiffskoch Henry Black. Nach einigen erklärenden Worten gab er den Inhalt der Unterhaltung wieder. „Black gab zu, dass er im Auftrag des Kapitäns Whooley ein Päckchen verstecken und nach England schmuggeln sollte. Allerdings will er nicht gewusst haben, was sich in diesem Päckchen befand. Sobald die „Golden Brigg“ den walisischen Hafen Port Talbot erreichte, will er das Päckchen an Whooley übergeben haben. Dieser hat ihm wohl 50 Pfund Schweigegeld bezahlt. Seither hätte sich niemand nach dem Verbleib des Päckchens erkundigt.“ schloß der Australier seinen kurzen Bericht.
„Und er hatte auch keine Vermutung, was in dem Päckchen gewesen sein könnte?“ hakte Elk nach.
„Offensichtlich nicht.“ Beechum verstummte.
Der Chefinspektor lenkte den Wagen mit ruhiger Hand über die Western Avenue, während er nachdachte. „Und meinen Sie, dieser Black sagt die Wahrheit? Er könnte ja etwas verschweigen? Vielleicht hat sich irgendwie strafbar gemacht und will sich nicht belasten?“
„Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Er machte den Eindruck eines Mannes auf mich, der mit seinem Leben abgeschlossen hat. Und er sah krank aus... Was hätte er zu verlieren?“
Elk nickte langsam. „Hat er gesagt, dass das Packchen von Donovan stammte?
Beechum schüttelte den Kopf: „Jedenfalls nicht direkt. Er sagte immer „dieser Bastard“. Ich habe ihn gefragt, ob er Donovan meint, aber er hat weder bejaht noch verneint.“
„Wäre auch zu schön gewesen.“ Der Chefinspektor bremste wegen eines abbiegenden Milchtransporters ab, beschleunigte zügig und fragte seinen Beifahrer: „Und wie sind Sie verblieben?“
„Ich habe Black geraten, vorsichtig zu sein und zu niemandem ein Wort zu verlieren. Und ich habe ihm angekündigt, dass ich ihn heute zum Protokoll in den Yard holen würde. Es schien ihm nichts auszumachen.“ Beechum starrte auf die Bäume, die jetzt häufiger an ihnen vorbei sausten.

Sie hatten sich anschließend über das weitere Vorgehen im Fall Donovan beraten und beschlossen, das Treffen mit dem bedrohten Industriellen dazu zu nutzen, ihm im Fall der toten Krankenschwester aus Sydney vorsichtig auf den Zahn zu fühlen. Immerhin konnte der Tod dieser Mary Hyde ja durchaus mit den aktuellen Vorfällen in Verbindung stehen.
Sie hatten Denham passiert und erreichten ein kleines Waldgebiet namens Duke´s Wood, an welchem sich der Wohnsitz der Donovans befand. Der Wagen rollte an einem Pförtnerhäuschen vorbei, nahm eine leichte Rechtskurve um einem künstlich angelegten Teich und kam vor der ansehnlichen Villa im Tudor-Stil zu stehen.
Beim Aussteigen musterten die beiden Männer das prächtige Anwesen aus den Augenwinkeln heraus. Der graue Feldstein kontrastierte gut mit den dunklen Balken der Fachwerkkonstruktion und dem weiß gestrichenen Putz der oberen Wände. Unzählige kleine Zinnen und verschiedenartige Giebel gaben dem Haus etwas unruhiges.
Ein Dienstbote in Livree ließ die Polizisten ein und führte sie in den Wintergarten im hinteren Teil des Hauses, in welchem der Hausherr in legerer Bekleidung an einem reichlich gedeckten Frühstückstisch saß.
„Guten Morgen, die Herren. Ich hoffe, Sie bringen gute Nachrichten? Eh, möchten Sie mir vielleicht Gesellschaft leisten?“ Albert Donovan wies mit dem Arm auf die Frühstücksutensilien. Offensichtlich hatte sich seine gestrige Aufregung etwas gelegt.
Elk erwiderte: „Eine Tasse Kaffee vielleicht. Danke. Und was die Vorkommnisse anbelangt, da sind wir noch nicht wirklich weiter. Die Anzeige wurde per Bote an die Zeitung übersandt, die Summe lag in bar dabei. Die Schreiben stammen alle von ein und derselben Schreibmaschine, einem älteren Modell, wie sie zu Tausenden verkauft wurden. Solange wir keine verdächtige Maschine finden...“ Elk unterbrach sich, weil der Livrierte mit den Kaffeetassen erschien und diese dann füllte.
Der Australier, der den Millionär schon länger unauffällig beobachtete, trank einen Schluck und sagte dann: „Mr. Donovan, könnte es sein, dass Sie eine Mary Hyde aus Sidney gekannt haben?“
Der Angesprochene gab sich alle Mühe, keine Regung zu zeigen, als er den Namen vernahm. „Wer? Wie...? Ich glaube nicht...“ Albert Donovan überspielte seine Unsicherheit, wenn er denn unsicher sein sollte, mit einigen Ersatzhandlungen: er nahm sich ein Stück Toast, suchte nach der Butter, griff nach dem kleinen Marmeladentöpfchen und begann mit der Zubereitung seiner Mahlzeit.
„Mr. Donovan, wir wissen, dass Sie Miss Mary Hyde im Jahr 1931 mehrere Male in ihrer Wohnung in Sydney aufsuchten, das ist alles in den Untersuchungsprotokollen der Polizei vermerkt.“ Beechum hatte sanft, aber mit Nachdruck gesprochen und sah dem Millionär unentwegt ins Gesicht.
„Ach so, ja. Die Mary Hyde...“ Donovan hüstelte verlegen. „Na ja, dann wird es so gewesen sein. Wissen Sie, ich war damals jung. Und sie hat es mir nicht schwer gemacht. Traurig, traurig alles. Was hat das dieser Sache hier zu tun?“
Elk mischte sich in die Unterhaltung ein: „Das hofften wir von Ihnen zu erfahren, Mr. Donovan?“
„Von mir?“ Die Scheibe Toast landete wieder auf dem Teller. Der künftige Lord Mayor von London City starrte den Polizisten feindselig mit seinen kleinen Äuglein an: „Ich verbitte mir irgend welche Unterstellungen! Ich hatte mit der Sache nichts zu tun. Das ist amtlich bestätigt. Ich lasse mir nichts anhängen. Ist das eine politische Intrige hier, oder was?“
„Aber Mr. Donovan“ beschwichtigte der australische Beamte den aufgebrachten Industriellen. „Bleiben wir bei den Tatsachen. Amtlich bestätigt ist nur, dass man Ihnen nicht nachweisen konnte, etwas mit dem Tod der Mary Hyde zu tun zu haben. Der Beweis der Unschuld sieht anders aus. Und“ Beechum ließ den in Bedrängnis geratenen gar nicht erst zu Wort kommen, „die Hinweise in den anonymen Schreiben weisen auch in die Vergangenheit. „Denk an damals!““
Donovan nestelte an seiner Serviette herum, wischte sich über den Mund und sagte dann förmlich: „Meine Herren, wenn Sie keine weiteren wichtige Fragen haben, entschuldigen Sie mich bitte. Nachher findet meine Vereidigung statt. Außerdem habe ich für den morgigen Tag noch viel vorzubereiten. Klären Sie bitte alles andere mit meinem Anwalt, Mr. Amersham. Er ist bereits im Hause, in meinem Arbeitszimmer.“ Donovan schraubte sich aus dem Rattansessel heraus, warf die Serviette auf den Tisch und verließ ohne ein weiteres Wort den Wintergarten. Als die beiden Beamten den Raum verließen, begann der Livrierte wortlos und mit unbewegtem Gesicht, den Tisch abzuräumen.


Stewart Amersham war Anwalt geworden, weil er seit seiner Kindheit die Gabe perfektioniert hatte, andere ohne deren Wissen manipulieren zu können. Er hatte sich stets durch das Leben hindurch manövriert, ohne irgendwo anzustoßen oder aufzufallen. Sein Äußeres kam ihm dabei zupass: durchschnittliche Größe, unauffälliges Gesicht, dunkelblondes Haar, unstete Augen, die er bei Gelegenheit hinter einer schmalen Brille versteckte, was seiner Erscheinung unberechtigterweise etwas Intellektuelles verlieh. Die Stellung bei Albert Donovan war ein Glücksfall für ihn gewesen. Bereits einige Zeit ohne zahlungskräftige Mandanten, hatte er schon an seinem Talent zweifeln wollen. Doch nun war er bereits einige Jahre Donovans Rechtsberater und mit dem morgigen Tag würden seine Pläne endlich in Erfüllung gehen. Wenn nichts dazwischen kam!
Der Anwalt stand an einem schmalen Stehpult im Alkoven des Donovan`schen Arbeitszimmers und blätterte in geschäftlichen Papieren, als die Eichentür mit einem kräftigen Schwung aufgestoßen wurde und zwei Männer den Raum betraten.
„Mr. Amersham? Wir kommen von Scotland Yard. Mein Name ist Elk, das ist Inspektor Beechum von der Polizei in Sydney. Wir würden gern die morgige Zeremonie mit Ihnen durchsprechen. Über die Hintergründe sind Sie ja sicher informiert.“
Der Angesprochene blinzelte durch seine goldgefasste Brille und legte die Papiere zur Seite. „Nun gut, hier ist der Plan für die Zeremonie, meine Herren.“ Er suchte im Sekretär nach einer Mappe und gab sie dem Chefinspektor. „Und was kann ich dabei für Sie tun?“

4. Kapitel

Die kaltschneuzige Art, mit der Donovans Anwalt die Bedrohung seines Chefs hinnahm, hatte auf die beiden Beamten schon etwas befremdlich gewirkt. Als sie keine halbe Stunde später in Elks Wagen zurück nach London fuhren, machten sich beide ihre Gedanken dazu. Der Yard-Mann brummte schließlich: „Ein zwielichtiger Kerl, dieser Amersham. Schien ganz froh, uns wieder los zu sein.“
Beechum entgegnete: „Nicht viel zwielichtiger als Donovan selbst. Wie konnte der eigentlich zum Lord Mayor ernannt werden?“ „Das Amt ist auch nicht mehr das, was es mal war. Wie überhaupt das Königreich.“ Die Stimme des Chefinspektors klang resigniert. „Donovan tauchte vor vielen Jahren mit Geld hier auf und investierte geschickt. Heute kontrolliert er einige größere Firmen, in der Hauptsache Import-Export. Er hat viel für Wohltätigkeit gespendet, ist im Lion´s Club, seit einiger Zeit Sheriff... Donovan ist nie direkt mit irgendwelchen Skandalen in Verbindung gebracht worden, auch wenn es so manche Gerüchte gab. Nun ja, man kann in niemanden hinein gucken.“ Er beobachtete den Australier aus den Augenwinkeln, aber Beechum ging nicht darauf ein.
In diesem Moment klingelte das Funktelefon im Armaturenbrett und Elk meldete sich. Es war die Leitstelle. „Sir? Wir haben soeben eine Meldung erhalten, dass die Leiche eines Mannes in der Themse gefunden wurde. Er wurde noch nicht identifiziert, hatte aber die Visitenkarte von Inspektor Beechum bei sich.“
Der Erwähnte zuckte zusammen. „Ist es ein älterer Mann, dünn, klein, spitzes Gesicht, wie ein alter Seemann?“ fragte er laut. Der Polizist in der Leitstelle bestätigte die Angaben. „Dann dürfte es sich um den Schiffskoch Henry Black handeln.“ erklärte der Australier frustriert.
Sie ließen sich die genaue Fundstelle durchgeben, Elk schaltete die Sirene an und beschleunigte den schweren Wagen.

Der Fundort war weiträumig abgesperrt. Der Chefinspektor lenkte den Vauxhall an den Rand des kleinen Platzes, schräg gegenüber einem alten Holzstapel, in dessen Schatten die bereits abgedeckte Wasserleiche lag. Bei Tageslicht hatte die Gegend ihren Schrecken verloren, trist überragten ein paar alte, ungenutzte Docks die Backsteinmauern, die den Platz vom Hafengelände trennten. Auf der anderen Seite des Platzes konnte Beechum den Kirchturm ausmachen, in dessen Nachbarschaft sich die Spelunke „Three Oaks“ befand.
Polizeiarzt Dr. Fergussen, ein übergewichtiger kleiner Mann mit Nickelbrille, hatte sich aufgerichtet und prustete kurzatmig: „Ich würde sagen, Mord, Chefinspektor. Ertrunken ist der Mann wahrscheinlich nicht. Die typischen Merkmale fehlen. Dafür befindet sich am Nacken ist ein kleiner Bluterguß, als ob er eine Injektion erhalten hätte etwa. Andere Verletzungen sind mit Ausnahme leichter Schürfwunden vorerst nicht auszumachen.“ Dr. Fergussen richtete sich auf – vergeblich – und ließ sein Köfferchen zuschnappen.
„Und der Todeszeitpunkt? Gibt es da schon was?“ fragte Beechum und starrte auf die von einer dunklen Plane verdeckte Leiche. „Nun, ich würde sagen, unter Berücksichtigung der Ausprägung der Leichenstarre, der Tod trat so vor etwa 12 bis 14 Stunden ein, also zwischen 22.00 und 24.00 Uhr etwa.“
Elk nickte, entließ den Doktor und winkte einen wartenden Constabler heran. „Wer hat ihn gefunden? Gibt es Zeugen? Wurden Anwohner befragt?“
Der Beamte erklärte, er selber hätte die Leiche bei seinem Rundgang entdeckt. Sie hatte sich in einem kleinen Wehr verfangen. Zeugen gäbe es bislang keine. Zwei Beamte hätten die Befragung in der Umgebung begonnen, wären aber noch nicht zurück.
Elk nickte zustimmend. „Veranlassen Sie, dass alle Berichte umgehend auf meinem Schreibtisch landen. Und begleiten Sie uns ins „Three Oaks““. Zu Fuß bewegten sich die Polizisten zu dem erwähnten Gasthof, der bei Tageslicht noch trister aussah als bei Nacht. Die Wirtin schrie erst Zeter und Mordio, beruhigte sich aber nach einem kräftigen schluck Rum schnell wieder. Sie grummelte nur noch „Wer zahlt mir jetzt die Miete? Wer zahlt jetzt?“ und zog sich resigniert in ihre Stube zurück, nachdem Elk ihr erklärt hatte, Henry Blacks Zimmer würde vorerst untersucht und dann versiegelt werden.


In dem unordentlichen Zimmer hatten es die Polizisten nicht leicht, den Überblick zu bewahren. Beechum sah sich die Bilder auf dem Vertiko an, zog die Schubladen auf und wühlte in den Sachen des alten Seemannes. Unter leicht vergilbten Hemden entdeckte er einen vielleicht A5 großen Umschlag, den er in die Jackentasche schob, ohne seine Durchsuchung zu unterbrechen.
„Sie haben was gefunden?“ brummte es hinter ihm. Chefinspektor Elk, gerade einen Seesack ausschüttelnd, sah ihn fragend an. Der Australier nickte. „Scheint so. Schauen wir uns nachher an.“
Die Durchsuchung des Raumes erbrachte ansonsten nichts Neues. Offensichtlich hatte der alte und kranke Henry Black keinen Kontakt zu seiner Umwelt gehabt und auf seinen nahen Tod gewartet. Ein ärztlicher Befund bescheinigte ihm Lungenkrebs in fortgeschrittenem Stadium. Auch die Befragung der Wirtin blieb ohne weitere Ergebnisse. Ja, Black sei ein ruhiger Mieter gewesen, habe pünktlich gezahlt, sei einem Schluck Portwein nicht abgeneigt gewesen. Er hätte bis auf den anwesenden Inspektor hier auch keinen Besuch empfangen, und es war schon verwunderlich, dass er gestern spät abends noch ausgegangen sei. Nein, sie wäre dann schlafen gegangen, immerhin haben ihre Mieter einen Schlüssel und sie sei ja kein Kindermädchen.
Sie verließen zu dritt den Gasthof und Elk erinnerte den Constabler nochmals an die Resultate der Befragungen. Dieser eilte zu seinen Leuten, während die beiden Kriminalisten schon im Wagen saßen und gen Scotland Yard fuhren.
Joe Beechum zog den Umschlag aus Blacks Zimmer aus der Tasche und öffnete ihn vorsichtig. Er enthielt lediglich ein Blatt, eine amtliche Bescheinigung offenbar.
„Was ist es?“ ließ sich Elk vernehmen, der sich auf den Verkehr konzentrieren musste. Beechum starrte auf das Blatt. „Ich werd daraus nicht schlau. Es scheint ein amtliches Schreiben zu sein, Grafschaft Pembrokeshire.“ Er sah nach links zu Elk hinüber, der sich nach wie vor auf den dichten Straßenverkehr konzentrieren musste. „Es geht um ein Kind, ein elternloser Säugling, der im Januar 1932 im kirchlichen Waisenhaus Haverfordwest abgegeben wurde.“ Der Inspektor schwieg, während Elk brummte: „Was hat das jetzt wieder zu bedeuten? Eine neue Spur? Oder eine Sackgasse?“
 



 
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