Der Traum

rabi

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Ein schöner Sonntag im Mai. Wie fast jeden Sonntag geht Rudolf den Deich entlang. Er blickt die Böschung hinunter auf den Fluss. Das ist sein Lieblingsweg, den er schon oft gegangen ist. Hier kann er den Alltag vergessen und ganz entspannt seinen Gedanken nachgehen.

Was hält ihn eigentlich noch in dieser Stadt? Im Grunde ist es nicht viel: die schöne Wohnung, die er sich vor einigen Jahren gekauft hat. Das Viertel, in dem er wohnt und das recht ruhig und idyllisch ist. Nun ja, aber so etwas kann man doch auch in jeder anderen Stadt finden. Und dann dieser Weg am Deich, der ihn jedes Mal ganz poetisch träumen lässt.

Rudolf geht den Deich hinunter zum Fluss, um direkt am Wasser entlang gehen zu können. Hier unten kommen ihm keine Radfahrer entgegen, nur hier und da sieht er einen Angler sitzen.

In einer kleinen Bucht direkt am Wasser lässt Rudolf sich nieder. Er zieht seine Schuhe aus, dann die Socken krempelt die Hosenbeine hoch und lässt die Füße im Wasser baumeln. So lässt sich das Leben genießen und die Welt um sich herum vergessen. Diesen Augenblick müsste man festhalten können. Einfach die Welt anhalten. Warum nur gehen die schönen Momente immer so schnell vorbei? Gut, dafür kommen andere Momente, neue Eindrücke. Aber werden diese schöner sein? Oder nur anders? Diese Fragen gehen Rudolf durch den Kopf.

Das Wasser ist doch recht kalt, so dass Rudolf seine Füße wieder herauszieht. Ganz entspannt lehnt er sich zurück ins Gras. Seine Gedanken kreisen weiter. Was wird der morgige Tag bringen? Bestimmt nichts Außergewöhnliches. Im Grunde ist doch ein Tag wie der andere.

Die Sonne steht hoch am Himmel, und langsam fallen Rudolf die Augen zu, und er versinkt in eine andere Welt. Eine schönere Welt. Bilder erscheinen vor seinen Augen. Der Urlaub letztes Jahr am Mittelmeer. Die unendlich langen Spaziergänge am Strand. Das Rauschen des Meeres. Dabei der warme angenehme Wind. Ein Gefühl der Entspannung und des Glücks.

Und plötzlich erscheint sie! Eine junge Frau. Erst nur ganz verschwommen in der Ferne. Doch langsam kommt sie näher, und ihre Züge nehmen deutlichere Formen an. Er nimmt ihr Gesicht wahr: Es ist keines dieser Gesichter, die auf Plakatwänden für irgendwelche Markenartikel werben, sondern es ist von natürlicher Schönheit geprägt und strahlt eine wohlige Ruhe aus. Dann das dichte, lockige, schwarze Haar. Ihre hübschen braunen Augen blicken ihn sanftmütig an, und ihr Mund verzieht sich zu einem freundlichen Lächeln.

Mit ihrem Zeigefinger streicht sie über seinen Handrücken. Ja, sie meint ihn – ihn Rudolf ! Ein wohliger Schauer durchfährt ihn. Zärtlich nimmt er ihre Hand und schaut ihr tief in die Augen. Hand in Hand gehen sie am Strand spazieren. Sie ist nicht wie eine Fremde für ihn, sondern wie ein vertrautes Wesen! Rudolf fühlt sich unendlich glücklich. So ein Gefühl hat er schon lange nicht mehr gekannt. Weitere Bilder ziehen an ihm vorbei. Helle, farbenprächtige Bilder. Und dann immer wieder das Bild dieser Frau. Die niedliche kleine Nase, ihr süßer Mund, ihr Lächeln.

Allmählich wird ihm klar: Dies ist nur ein Traum. Ein Traum? Wie geht er weiter? Wie endet er? Rudolf versucht vergeblich, weiter zu dösen. Nun ist er hellwach. Er richtet sich auf und blickt um sich. Ja, natürlich liegt er hier im Gras, am Wasser, unterhalb des Deiches. Bald wird die Wirklichkeit ihn wieder einholen. Aber was bedeutete dieser Traum? Wer war diese Frau? Hatte er sie schon einmal gesehen? Im Bus? In der Schlange beim Supermarkt? Wie ist ihr Name? Er muß sie finden! Aber gibt es sie überhaupt? Oder war alles nur Phantasie? Handelte es sich wirklich nur um einen Traum? Was war das Besondere an ihr?

Tausend Gedanken schießen Rudolf durch den Kopf. Er sollte jetzt aufstehen und weitergehen. Würde er sie jemals wiedersehen? Auf dem Weg ins Büro? Im Fitneß-Studio? Oder wieder nur im Traum? Würde dieser Traum überhaupt jemals wiederkommen? Woran würde er sie erkennen? Das Bild, das er von ihr hatte, war nur sehr verschwommen. Die Stimme! Hatte er sie schon einmal gehört? Und wo? Sie hatte eine klare, helle Stimme. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein.

Langsam erhebt Rudolf sich, zieht seine Socken und Schuhe wieder an und geht weiter. Immer wieder muß er an diesen Traum denken. Ein Traum! Mehr war es doch nicht. Und doch hat er das Gefühl, dass es mehr war. Ein Wink des Schicksals!? Was macht ihn so sicher? Ist es nur seine ungeheure Vorstellungskraft, die ihn überzeugt, daß dieses die richtige Frau für ihn war. Eine Traum-Frau!

Aber was weiß er von ihr? Er versucht, sich zu erinnern. Das lockige schwarze Haar, die klare Stimme, die dunklen Augen, die ihn liebevoll anlächelten. Ist nicht alles nur Einbildung, ein Wunsch? Ist es nicht die bloße Hoffnung, dass sein Leben sich ändern möge, dass es von nun an einen neuen Sinn bekommt?!

Rudolf überquert die Brücke, die zum anderen Ufer des Flusses führt. Er sieht eine junge Frau hinter den Büschen um die Ecke biegen, direkt auf ihn zukommen. Die Figur, die schwarzen Haare! Ist es die Frau aus dem Traum? Die Frau kommt näher. Rudolf versucht, sie anzusehen, sie anzulächeln. Die Frau geht achtlos vorbei, würdigt ihn keines Blickes. Nein, mit Sicherheit war sie es nicht. Die Traum-Frau sah ganz anders aus, bewegte sich anders, erzeugte in ihm ein ganz anderes Gefühl. Was für ein Gefühl war das? Ein Gefühl von Ruhe, Geborgenheit, ein Gefühl der Sicherheit, der Vertrautheit, des Glücklichseins.

Rudolf hat das andere Ufer erreicht. Nur noch ein kurzer Teil des Weges liegt vor ihm, seines Lieblingsweges, dann wird er wieder in der Stadt sein. Von hier kann man den Fluss nicht mehr so deutlich sehen, da der Weg nun durch einen kleinen Wald führt. Aber gerade dieses letzte Stück gab ihm immer eine besondere innere Ruhe und Gelassenheit. Vielleicht hat gerade dieser Weg ihn vor einigen Monaten davor bewahrt, die Stadt für immer zu verlassen, weit weit weg zu ziehen, auszuwandern.

Aber warum sollte seine Traum-Frau gerade hier leben, in dieser Stadt?
Der Traum – ja natürlich, er spielte sich in einer anderen Umgebung ab. Der warme Wind, der Strand, das Meer. Dort sollte er sie suchen! Aber Personen und Orte geraten in Träumen häufig durcheinander und sind fern ab der Wirklichkeit.
Nein, das hat bestimmt nichts zu bedeuten.

Der Schlüssel zum Glück muß an einer anderen Stelle liegen. Nur wo? Was wollte der Traum ihm zeigen? Kann er ihn nicht einfach vergessen und als das abtun, was er ist – nämlich ein Traum, eine Einbildung, die einzig und allein aus seiner Phantasie entstanden ist?

Nein, das will er nicht! Gerade die letzten Minuten auf diesem Weg durch das Wäldchen haben ihn darin bestärkt, dass er sie finden muß, finden wird: diese Frau, die für ihn, nur für ihn etwas Besonderes ist, in deren Nähe er sich wohlfühlen wird. Nicht nur im Traum, sondern im Leben. Nicht nur für einige Sekunden, sondern für immer!

Ja, er wird sie finden! Rudolf ist sich nun ganz sicher. Vielleicht nicht mehr heute oder morgen, aber auf jeden Fall sehr bald. Diese Hoffnung, nein Gewissheit wird er nicht aufgeben!

Die ersten Häuser kommen in Sicht. Rudolf hat das Ende des Weges erreicht. Noch einmal blickt er hinunter zum Fluss. Seine Augen gleiten langsam den Weg zurück, den er gekommen ist. Weit hinten am anderen Ufer die kleine Bucht, wo er geträumt hat.

Und er weiß: schon bald wird er diesen Weg noch einmal gehen – Hand in Hand mit seiner Traum-Frau !!!


Gibt es zu diesem Märchen ein Fortsetzung, und wie sieht sie wohl aus ?
 



 
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