Der Traum des Nobelpreisträgers

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Wer in der Altstadt Stockholms die wenigen Stufen zum Eingang hochgeht und dann durch das von Säulen flankierte Portal tritt, hat es geschafft: Er betritt hier die ehrwürdigen Räume des Börshuset, früher Börse der Hauptstadt, der Sitz der Königlichen Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Archivar Gösta Berglund vollbringt dieses täglich, seit neun Jahren schon. Er gehört zu denjenigen Privilegierten, die dort ihren Arbeitsplatz haben. Der Literaturwissenschaftler Berglund ist als Referent für englischsprachige Literatur in dem Bereich des Instituts beschäftigt, das für die Vergabe des Nobelpreises zuständig ist. Dass Freunde ihn schon mal Bokmal, Bücherwurm, nennen, stört ihn nicht. Er liebt seine Arbeit. Und davon hat er zur Zeit reichlich zu erledigen. Die Akademie ist dabei, frühere analog erstellte Dokumente zu digitalisieren.

Heute beschäftigt er sich mit Irland, ein Land, das ihm sehr sympathisch ist. Er hat die grüne Insel mehrmals bereist und ist immer wieder aufs Neue von dem Leben dort, und vor allem von den Menschen begeistert. Dass der enorme Konsum von Bier und Whiskey hier fast den Status eines Volkssports hat, mindert seine Sympathie nicht, eher das Gegenteil ist der Fall. Für Gösta Berglund hat ein Volk, das sein dunkles Starkbier 'That Old Black Magic' nennt, eine große Menge Poesie im Blut. Es gehört für ihn auch dazu, in einem urigen Pub zu sitzen und den Erzählungen dieser Menschen hier zuzuhören, ihren Geschichten und den Balladen zu lauschen, von Leprechauns und Fairies, diesen märchenhaften Kobolden und Feen, Liedern von Liebe und von Leid. Der tiefgründige, romantisierte Umgang mit dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort ist auf dieser Insel sprichwörtlich. So ist es auch nicht verwunderlich, dass von von hier vier Literaturnobelpreisträger stammen - aus den über sechzigmal bevölkerungsreicheren USA nur insgesamt zwölf.

Und die Daten, Fakten und Hintergründe eines irischen Nobelpreisträgers hat er heute zu bearbeiten, alles ordentlich in einem Schuber sortiert. Was ihn besonders interessiert, ist ein Tagebuch, das leider auf Gälisch verfasst worden ist. Diese Sprache wird außer in Irland nur in einigen speziellen, keltisch geprägten Regionen Europas gesprochen. Zu seinem Glück findet er ein ins Englisch übersetztes, ein sauber getipptes Typoskript als Anlage. Der Verfasser des Tagebuchs, ein bekannter Dichter und Dramatiker des frühen vorherigen Jahrhunderts, hat darin akribisch über seine Tagesabläufe Buch geführt, auch über seine nächtlichen Träume. Und dabei stößt der schwedische Experte auf einen ganz besonderen Traum, der, mit nur geringen Abweichungen, mehrfach vorkommt. Der Dichter beschreibt in mehreren Sequenzen ein buntes, lautes Treiben in einer südlichen Umgebung, es handelt sich offensichtlich um ein mediterranes Land, es ist Italien, es findet in dessen Hauptstadt Rom statt.

Der Träumer wandelt durch diese Welt wie durch ein Kaleidoskop betrachtet. Es ist keiner der bedrückenden Träume, die er an anderer Stelle auch beschreibt. Alles ist bunt, hell und heiter. Er rauscht förmlich durch das antike Ambiente des alten Roms. Kolosseum, Forum Romanum, der Capitol-Hügel, all das erlebt er hautnah auf dieser ungewöhnlichen Traumreise. Aber nichts davon wirkt museal, eher im Gegenteil, es kommt ihm vor, er befände sich in einer Zeit weit voraus in der Zukunft. Dieser Ausflug endet irgendwann auf der Piazza vor dem Palazzo Chigi, dem Sitz der italienischen Regierung. Und dieser pittoreske Platz ist voller jubelnder Menschen. Sie lassen jemanden hochleben, einen etwas rundlichen, älteren Mann mit wenig Kopfhaar und einer Brille. Dieser winkt laut lachend mit einem Dokument, das er in seiner rechten Hand hält. Er bringt auch das Publikum zum Lachen. Auf den irischen Literaten macht er den Eindruck eines Clowns. Der Dichter fragt seinen Nachbarn zur Linken, was hier wohl gefeiert würde. Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur natürlich, erhält er als Antwort.

Mit diesem Bild schreckt der irische Dichter aus dem Schlaf. Der bis dahin so erbauliche Traum ist mit einem grotesken Schluss zu Ende gegangen. Er reibt sich die Augen. Dann fängt er lauthals zu lachen an. Das hätte er sich in seinen verrücktesten Träumen nicht vorstellen können. Jahrzehnte nach ihm wird einem Spaßmacher, einem Komiker, diese Auszeichnung zuteil.

Gösta Berglund befindet sich nun im Jagdfieber. Er durchsucht das komplette Archiv nach weiteren Traumbeschreibungen ähnlicher Art. Vergebens. Er hätte zu gerne die Aufzeichnung einer Traumsequenz in den Unterlagen entdeckt, in der die Dokumentation solch einer Preisverleihung zu Beginn des nächsten Jahrhunderts beschrieben worden wäre: die Verleihung des Literaturnobelpreises an einen amerikanischen Folksänger und Liedermacher.
 



 
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