Der Tresenpoet

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Markus Veith

Mitglied
Um mich herum wuselt geräuschvoll das Kneipencafé. Mitten drin sitze ich, lasse mich berieseln von einer Dusche der verschiedensten Sinneswahrnehmungen und warte. Ich bin zum ersten Mal hier. Der nasskalte Schneeregen hat mich überrascht, und ich hatte die Wahl zwischen dem benachbarten McDonalds und dem hier. Da ich mich nebenan nicht erwischen lassen wollte, bin ich hier eben zusammen mit der Witterung hereingeschneit. Gelangweilt kippele ich mit dem Stehtischhocker und lasse den Blick wandern.
Die Luft hat den Anschein, als sei sie in graublauer Schwadenwatte verpackt und man könne sie in Scheiben schneiden, einwickeln und mitnehmen. An der Decke rotieren drei müde Ventilatoren und lassen einige Tropfen Luft in den Rauch fallen. Die Türen zu den Toiletten sehen aus, als wollten sie sich vor dem Gestank hinter ihrem Rücken flüchten und sich aus der Wand drücken. Geht man hindurch, wird man von der Stimme eines toten Sängers akustisch aufs heftigste geohrfeigt. Nicht, dass mir etwas daran gelegen hätte, jedoch machte es die Chance einer eventuellen Konversation während des Kachelbespülens gleich im Ansatz zunichte. Es blieb beim unerhörten Bestaunen oder Bedauern des Nachbarn und einem leidend ver-krampften Zugrinsen.
Eine weibliche, grellgeschminkte Stimme am Nebentisch euphoriert: "Er ist angekündigt." Ihre Freundin, ein wellsträhniges Brünett, die "alles von ihm gelesen hat", versichert kiekend, dass er "himmlisch" sei.
An den Tischen erhängt sich dichtgedrängt das restliche Publikum, eine bunte Mischung aus Yuppies und Struppies, Nasenreifen und Bunthaarstreifen, roten Thermowesten und Pullis aus Rosshaarresten, versoffenen Wasserleichen und läufigen Alkoholteichen schlürft trübe ihre lauwarme Biersuppe, putzt sich die Zähne mit Salzstangen, panscht Rum mit Tee und erklärt ihn zum Longdrink, pflückt schmutzigbraune Blumen von Krefeldern und nippt an werbebedruckten Colagläsern, stetig nach der Möglichkeit sinnend, sie nach dem Zahlen ungesehen mitgehen zu lassen.
In diesen endlos wirren Gedankenfluten versunken bröckle ich mit dem Fingernagel Löcher in den Putz der Säule neben mir. Den TakeThat-Aufkleber, der auf dem Tisch pappte, habe ich schon abgeknibbelt. Die bunten Flocken liegen neben meinem mit Strichen und Kreuzen hochverschuldeten Bierdeckel. Mit Hinblick auf die schal-gelbe Neige in meinem Glas hebe ich mindestens fünfmal die Hand hinter dem Kellner her, bis ich endlich sein Nicken auffange.
Plötzlich verstummt in den Lautsprechern die Stimme des tot- und begrabengeglaubten Sängers. Jemand betritt das Lokal. ER.
Alle erstarren und schauen. Alle tuscheln und fragen sich. Alle wundern und glauben zu erkennen. Man schaut in die Innenseiten kunterbunter Szeneblättchen, vergleicht und nickt.
ER trägt ein Brille. Selbstverständlich trägt er eine Brille! Gehört schließlich dazu.
Seine Geheimratsecken haben damit begonnen im geplanten Angriff das letzte Stirn bietende Flaumbüschel zu umzingeln. Eine hellbraune Cordjacke hängt an seinen Schreibtischhängeschultern. Deren Riesentaschen haben vollgeknüllte Papierbäuche von verworfener, jedoch noch nicht fortgeworfener, Rohliteratur. In seiner Rechten - in der Rechten! - Die Schreibrechte! - baumelt ein einfacher Leinenbeutel mit der aufgedruckten Werbung des Supermarkts in der Nähe. Neben mir fiepen zwei Stimmchen leise Hymnen über IHN und seine (Ach!) Bescheidenheit.
Er wechselt einige Worte mit dem Besitzer des Lokals. Dieser führt ihn zu einem Stehtisch in auffällig unauffälliger Nähe der Fensterfront. Hier ist, wie der Herr Besitzer ihm anvertraut, die Akustik am wenigsten schlecht und ich denke, der Herr Besitzer kann davon ausgehen, dass die Leute auf der Straße IHN von dort aus auch entdecken können. Zumal sein vielfaches, schwarzweißes Konterfei die Scheiben nahezu tapeziert und ihn in fingergroßen Buchstaben als den Tresenpoeten adelt.
Er holt einen Stapel sauber geheftete Poesie aus dem Beutel und legt ihn liebevoll vor sich. Doch bevor er beginnt, möchte er uns noch sagen, dass dies ein Stück seines Lebens sei und aus dem Tiefsten seines Herzens stamme. Er wolle mit diesem, seinem neuen Werk der Welt sein Leben, seinen persönlichen, ureigenen Sinn - ja - offenbaren. Schmachtendes Verständnis und Begierde nickt sich durch die Reihen. Ich bekomme mein Bier.
Dann beginnt er zu lesen.
Und was ich da höre ... was mir da offenbar offenbart wird ... was mir wie süßer Bal-sam in den Ohren klingt ... sich in mir breit macht wie ein warmer, wohliger Schauer ... ja, verflixt, das ist wirklich mein Leben. Ich weiß von dem, was er erzählt. Obwohl er doch von sich erzählt. Und doch erzählt er von mir. Er weiß, worüber er über mich geschrieben hat, doch weiß ich nicht, wie er darauf kommen konnte. Und was ich mir hierzu alles sagen lassen muss!! � Ich sehe, dass mein Leben unser Leben ist. Mein Leben. Dein Leben. Sein, ihr, dessen Leben. Unser Leben ist eins. Alle Leben sind eins. Alles eins. Alles gleich. Alles schön. Alles wohlgestaltete, formvollendete, wortherrliche Sprache. Ich spüre, höre, genieße, sehe mein Leben wieder vor mir. In seinen Worten. Es war die ganze Zeit über da, aber ich habe es nie so gesehen. Nie so erkannt. Mein Leben war nur Ablauf. Aber jetzt verstehe ich es erst mal.
... Ich sehe mich wieder auf dem Spielplatz unserer Kindheit, wo niemand etwas mit uns zu tun haben und mit uns spielen wollte, wo "Zwei Eis zu achtzig" noch wunderbare, von Mutti gesponserte Wirklichkeit war und wir mit einer klebrig verschmierten Handvoll Vanille-Softeis versuchten, jeden kleinen, potentiellen 'Willst-du-mit-mir-Spieler' zu kaufen.
Diese alten Zeiten, als wir nur Probleme mit unserer Lederlatzhose hatten, denen in dringlichen Lagen, wenn der kleine Mann mal nötig musste, eine Million zusätzliche, überflüssige Knöpfe dazuwuchsen und zu einer atemraubenden Falle wurden, wenn es hinter dem Pippihahn, wie er damals noch liebevoll jungmännlich von aller Welt genannt wurde, immer größer und voller wurde, - aber sie stand uns ja soooo süüüüß.
Oh ja, die sandigen, bedenkenlos vollgeschissenen Windeltage, als Mädchen uns noch so wichtig waren wie Steine in unseren Stopper-Halbschuhen, wir Rosenkohl und Spargel herunterwürgten, immer an der Grenze zum Brechreiz, weil wir wussten, dass es nachher Schokopudding gab, den wir nach der Ekelprozedur unter Mamas strengen Blicken nicht mehr mochten, - aber als Belohnung und Vorschuss fürs Früh-zu-Bett-gehen durften wir "Robbie, Tobbie und das Fliewatüüt" gucken.
Die Zeiten nach den Lehrabenden des Schuhzubindens, Namenschreibens und Ausgesperrtseins, als wir mit dem Schlüssel den Kampf mit dem klemmenden Wohnungstürschloss zu kämpfen hatten. Was da noch alles kam ...
Als wir lernten, was eine Fernbedienung ist und in der Kunst, mit ihr umzugehen, besser wurden als unsere Lehrer, die ganzen Filme, die wir nun zum zweiten Mal zu sehen bekamen, aber jetzt erst richtig verstanden, - und die Frau mit der Fackel im Columbia-Vorspann wurde unsere erste, große Liebe.
Diese Zeiten, in denen wir den ganzen Sie�s auf Schritt und Tritt folgten, mit der Zunge im Vormarsch, als Bürste, Gel und Odol-fresh unsere wichtigsten Requisiten waren, kein Spiegel ausgelassen wurde, um einen skeptisch-zornigen Blick auf das Pickelwachstum zu werfen und keine unbeobachtete Gelegenheit ungenützt blieb, diesem Übel quetschend Einhalt zu gebieten, als Eicheln in unserer Stonewashed-Jeans ihre jungferne Hülle sprengten und wahre Eichenbäume, fest und saftend in die Höhe sprossen, beim Anblick des geschulten, Französisch lehrenden Froileins, das ihre langen Wunderwerke in der fünften und sechsten Stunde unbedacht übereinan-derschreibtischte, während wir unsere stimmbruchgekiekten Vokabeln herunterstotterten.
Und die vollendete Vergangenheit wurde Tag um Tag zur plump hinkenden, unvollendeten Gegenwart: Wir stellen immer mehr fest. Dass wir nicht interessant sind. Bestenfalls ja-ja-ganz-nett.
Die Stellungskriege geraten in Vergessenheit. Im VW-Käfer. In Telefonzellen. Die letzte Kissenschlacht ist Jahre her.
Wir verlieben uns in vorbeitanzenden Sommerkleider. Bemühen uns, auf Augen und Gesicht zu achten. Unserer Aussage entsprechend.
Wir ackern uns durch die Stunden des Tages. Nach Feierabend stöhnend. Lassen uns dann von Moderatoren beblubbern. Während Kandidaten Geld und Autos aufgedrängt werden.
Wir lernen Werbespots auswendig. Zählen "Casablanca"-Wiederholungen.
Treffen alte Freunde. Leider immer öfter. Im Supermarkt. Beim Sprudelholen. Im Wartezimmer des Gynäkologen. Wir hören, wie wenig wir uns verändert haben. Jedes Mal. Michaels, Andreas' und Jörgs sind mit Tanjas, Susannes und Brittas verheiratet. Werden Ältern.
Wir nehmen uns viel vor. Alles, wofür wir keine Zeit haben. Was wir uns nicht leisten können. Wir sagen viel. Nur nicht zueinander. Aber immer wieder, dass das letzte Hemd keine Taschen habe. Unser Wagemut wird anerkannt. Bis die Zukunftsplanung ihr Kassenschalterende findet. Beim gefrusteten Kugelschreiberkettenspiel.
Wir warten aufs Peter-Pan-Syndrom. Längst fällig. MickyMaus-Comics, bis sie auf der Nase entschlafen. Spielen mit der Eisenbahn des kleinen Neffen. Obwohl wir es hassen. Aber man verlangt es doch von uns. Irgendwie. Oder?
Mir ist, als tippe mir ein eben Erhängter auf die Schultern und murmele so etwas wie: "Mensch! Siehe: Dein Leben."
Ich wische mir unter tosender Applausbeschallung die Tränen in den Jackenärmel und lasse mir den Rest des zehnten Bieres in den Hals fließen.
"Ich danke Euch", sagt er kaum vernehmbar und unaufhörlich nickend.
Ich warte und beobachte, wie sich die Reihe der bierdeckellauernden 'Schreib-mal-hier-drauf-Man-kann-ja-nie-wissen-Autogrammjäger' lichtet. Anschließend möchte der Dichter gehen, muss jedoch seine entleerte Flasche Tafelwasser noch beim Herrn Besitzer bezahlen. Dann verlässt er das Lokal.
Ich habe beschlossen, ihm nachzugehen. Ich möchte wissen, woher er das alles über mich weiß. Und wenn er dann immer noch behauptet, es sei aus seinem Leben oder sogar gesteht, er habe sich das alles bloß ausgedacht, dann hau ich ihn. - Ich weiß nur noch nicht wohin.


Juni 1996
überarbeitet im Juni 2003
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, Markus Veith

Da ist dir ein Menge sehr schöne Sprachbilder gelungen. Leider habe ich so großes Vergnügen an ihnen, dass ich den Text nun viel zu genau gelesen habe.

Mal abgesehen von den lästigen automatischen Trennungen, die Word in einen Text einbaut: Möchtest du deinen "Tresenpoeten" nicht doch noch einmal bearbeiten?

Oder ist es Absicht, dass deinen Erzähler der Schneeregen hereingetrieben hat, der Tresenpoet aber trotz der Sommerhitze eine hellbraune Cordjacke trägt?

Schöne Grüße von blaustrumpf
 

Markus Veith

Mitglied
Hallo, Blaustrumpf!

Oops, hab herzlichen Dank für deine Hinweise. Ich hoffe, nun stimmt alles und ich habe keinen Trennstrich übersehen.
Markus
 



 
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