Der Untergang der Familie Halla

DMW

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Hätte man meinen Vater Eetu gefragt, so hätte er die Schuld am Niedergang unserer Familie seinem Großvater gegeben, der das Familienunternehmen, das er selbst geerbt und dem er sein gesamtes Leben gewidmet hatte, aus heiterem Himmel kurz nach dem Tod seines Vaters Jonne zu vernachlässigen begann. Er hätte nicht froher sein können, als sein Sohn Keke, mein Großvater und alleiniger Erbe und plötzliches Oberhaupt des kleinen Familienimperiums, da sein Vater nicht nur das Interesse an seinem Unternehmen, sondern zeitgleich auch an seiner Familie verlor, die Geschäfte mit seiner Volljährigkeit offiziell übernehmen konnte. Ohne ersichtlichen Grund übergab auch dieser eines Tages ohne Vorwarnung die Leitung der Angelegenheiten des Unternehmens und der Familie an Eetu und zog sich nach und nach immer weiter zurück. Lebte schon fast wie ein Einsiedler, obwohl das Haus, in dem er lebte, ein Nebengebäude des Anwesens der Familie und nur von einem kleinen Wäldchen vom Hauptgebäude abgetrennt war.

Meine Mutter Eina hingegen behauptete, zumindest im letzten Jahr ihres Lebens, dass auf allen Männern der Familie Halla ein Fluch lag und wenn ihr dies vor ihrer Vermählung bereits bewusst gewesen wäre, sie niemals in diese verdammte Sippe eingeheiratet hätte. Da ich niemanden aus den Generationen vor meinem Großvater noch persönlich kennen lernen konnte und auch meinen Großvater selbst kaum kannte und ihn wenig zu Gesicht bekam, habe ich zu diesen Aussagen keine Meinung. Ich kann aber mit Sicherheit sagen, dass der Tod Keke Hallas gleichbedeutend ist mit dem Beginn des endgültigen Endes der gesamten Familie. Genauer gesagt liegt der Grund dafür nicht in seinem Tod direkt, sondern in seiner Hinterlassenschaft.

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Wenige Tage nach seiner Beisetzung machte sich mein Vater daran die wenigen Habseligkeiten seines Vaters durchzugehen und zu ordnen. Zunächst mussten mein Bruder Eldar und ich dabei helfen. Anfangs waren wir sehr gespannt, was wir im kleinen Häuschen des Großvaters alles finden würden, aber schnell wurde klar, dass dieser nur sehr wenig Interessantes in seinem Haus aufbewahrt hatte. Wir blätterten einige Bilderalben durch, in dem aber hauptsächlich Menschen zu sehen waren, die uns nichts sagten und die zum Teil auch unser Vater nicht identifizieren konnte. Ansonsten gab es kaum Dinge im Haus, die man als persönlichen Besitz hätte bezeichnen können und die Beschäftigung mit der Hinterlassenschaft des Großvaters brachte für uns nicht die erhoffte Offenbarung, wer der Mann, den wir kaum kannten, gewesen war. Eldar, der fast fünf Jahre älter war als ich, hatte den Großvater besser gekannt und hatte ihn zwar als distanziert, aber liebevoll in Erinnerung. Ich hingegen hatte kaum Kontakt mit ihm gehabt – es schien, als hätte er mir immer aus dem Weg gehen wollen – und meine Erinnerungen sind die an einen abweisenden und barschen Griesgram.

Erst spät fiel mir auf, dass das Erdgeschoss der Hütte anders aussah, als ich es aus meiner Kindheit, seit der ich sie nicht mehr betreten hatte, kannte. Der Großvater muss heimlich neue Wände gezogen haben, sodass die Wohnräume und die Küche im Erdgeschoss deutlich kleiner wurden, sein Arbeitszimmer aber den hauptsächlichen Raum des Geschosses einnahm. Zudem war das Haus in weiten Teilen in einem schlechten Zustand, alles schien verdreckt und verstaubt, als hätte unser Großvater das Haus selbst nicht bewohnt, und in jedem Raum hing ein eigenartiger Geruch, der in mir nach einiger Zeit Kopfschmerzen und ein Gefühl schleichender Übelkeit verursachte.

Einzig das erwähnte Arbeitszimmer bildete eine Ausnahme. Dieses war in einem tadellosen Zustand und obwohl es unüberschaubare Mengen an Büchern, Ordnern und Notizen enthielt, wirkte es aufgeräumt und bis ins Detail sauber gehalten, fast steril. Daher wollte unser Vater auch nicht, dass wir Söhne hier beim Sortieren des Nachlasses halfen, sondern beauftragte uns den Rest des Hauses aufzuräumen und Nutzloses zu entsorgen, während er selbst die Unterlagen seines Vaters durchgehen wollte.

Als wir einige Stunden später zurückkamen, saß er am Schreibtisch über den Büchern und Notizen des Großvaters und hatte begonnen seine eigenen Notizen anzufertigen. Zunächst reagierte er nicht auf unsere Aufforderungen, er solle uns zum Mittagessen ins Haupthaus begleiten. Erst als ich ihn leicht an der Schulter berührte, zuckte er zusammen und drehte sich genervt von unserer Störung zu uns. Knapp erklärte er uns, dass er keinen Appetit habe und wir ohne ihn gehen sollten, und schon hatte er sich wieder umgedreht und seinen Kopf wieder in den Unterlagen gesteckt. Als er jedoch bemerkte, dass mein Bruder ihm über die Schulter sah und heimlich mitlas, schnellte er herum und fuhr uns barsch an, dass uns all dies nichts anginge und wir sofort den Raum verlassen sollten. Kaum ausgesprochen, hatte er uns auch schon Tür hinausgeschoben und uns diese vor der Nase zugeknallt. Wie beschlossen darauf, ihm erst einmal ungestört zu lassen und begaben uns zum Mittagstisch. Auf dem Weg zum Haus versuchte ich mehrfach Eldar zu Überlegungen anzustiften, was unseren Vater so beschäftigen könnte. Schließlich war er nie ein Mann gewesen, der sich vor der Familie verschließt und sich mit seinen Belangen in sich selbst zurückzieht. Auch die überraschend groben Worte, mit denen er uns des Zimmers verwiesen hatte, erschienen mir ungewöhnlich. Eldar hörte mit aber kaum zu, war mit den Gedanken woanders und beschränkte sich auf ein gelegentliches zustimmendes Brummen

Nach dem Essen kehrten wir in die Hütte zurück, fanden aber das Arbeitszimmer verschlossen vor und hörten den Vater im Inneren hin- und hergehen und leise vor sich hinsprechen. Während mich dies noch weiter beunruhigte, schien Eldar weiterhin seinen eigenen Gedanken nachzuhängen und erledigte mechanisch das Ausräumen der anderen Räume. Da es insgesamt wenig zu tun gab, war die Arbeit am späten Nachmittag erledigt. Der Vater hatte sich weiterhin im Arbeitszimmer verschanzt und ich war froh, die Hütte und ihrem Muff zu entkommen, hatte ich doch unserer Schwester Hilja versprochen, am Abend mit ihr zu spielen. Meistens waren mir ihre kindlichen Spiele zwar zu langweilig und albern, aber ich wusste, dass es für sie nicht leicht war, so viel jünger zu sein als ihre Brüder und ich genoss es, dass verschlossene und oft sehr stille Mädchen beim Spielen oft auftaute und aus sich herauskam. Außerdem erhoffte ich mir eine Ablenkung vom seltsamen Verhalten von Bruder und Vater. Du besser als die stinkige Hütte wäre dies allemal. Eldar hingegen machte sich direkt und ohne sich zu erklären auf den Weg in die städtische Bibliothek. Erst sehr spät am Abend kehrte er heim, wirkte zerknirscht und ging sofort wortlos zu Bett.

Mitten in der Nacht erwachte ich vom Geräusch der Haustür, schlich an meine Zimmertür, legte ein Ohr gegen diese und konnte die schweren Schritte des Vaters auf der Treppe ins Obergeschoss unseres Hauses hören. Nur wenige Augenblicke nachdem sich die Tür des Schlafzimmers meiner Eltern geschlossen hatte, erklangen wieder Schritte auf der Treppe und das Öffnen und Schließen der Haustür. Ich hastete zum Fenster und konnte die Umrisse einer Person – zweifelsohne mein Bruder – in der Dunkelheit ausmachen, die um das Wäldchen hinter dem Haus und in Richtung der Hütte des Großvaters hastete.

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In den nächsten Tagen veränderte sich das Leben in unserem Haus schrittweise immer mehr. Der Vater kam immer früher von der Arbeit nachhause, verschwand dann aber direkt wieder in der Hütte und kehrte erst spät abends, oft erst in tiefster Nacht zurück. Alder war tagsüber kaum noch zu sehen. Meistens verschlief er den Tag und schlich sich nachts aus dem Haus. Die endgültige Wende kam dann an Joulupäivä. Meine Mutter hatte es mit viel Geduld und ernsten Worten geschafft, dass Vater sich an diesem Tag einmal nicht in seine Hütte – inzwischen konnte man nicht mehr von der Hütte des Großvaters sprechen, da Vater seine gesamte Freizeit dort verbrachte – verzog und dass Eldar wenigstens zum gemeinsamen Abendessen sein Zimmer verließ. Soweit ich mit mich erinnern kann, hat Mutter immer viel Aufhebens um die Weihnachtsfeierlichkeiten und ein gelungenes Familienessen gemacht. Dieses verlief diesmal aber wenig erfreulich, da von Vater und Eldar eine gewaltige Anspannung ausging, die sich auf alle Übertrug, und am Tisch kaum gesprochen wurde.

Hilja, in ihrer kindlichen Naivität, fragte den Vater mehrfach, was er denn ständig in der alten Hütte triebe, doch diese wich in seinen Antworten nur aus. Eldar, von einigen Gläsern Wein glühten ihm bereits die Wangen, stieg provokant in Hiljas Fragen ein: „Ja Vater, erzähl uns, was du in der Hütte treibst. Du wirst doch keine Geheimnisse vor der Familie haben! Oder bereitest du eine Überraschung für die Familie vor? Vielleicht etwas ganz zauberhaftes?“. Beim letzten Wort schien der Vater innerlich zu explodieren. Seine Augen traten hervor und sein Kopf lief tiefrot an. Wütend knallte er seine Servierte, die auf seinem Schoß gelegen hatte, auf den Tisch, stieß dabei sein Weinglas und eine Kerze um und brüllte Eldar an: „Du warst heimlich in der Hütte und hast dich in das Arbeitszimmer geschlichen! Diese Dinge gehen dich nichts an! Halte dich fern von den Büchern und Schriften! Weder sind sie für dich bestimmt, noch könntest du sie verstehen!“ Eldar erhob sich langsam und hielt Mutter, die ebenfalls aufgestanden war, um die Sauerei, die der Rotwein auf der umgestoßenen Tischdecke hinterlassen hatte zu beseitigen, am Arm zurück. „Lass nur, Mutter, ich mach das“, sagte er, ohne sie anzusehen. Stattdessen starrte er meinem Vater tief in die Augen und hielt diesen Kontakt, als er um den Tisch herumging. Dabei wählte er absichtlich den etwas weiteren Weg um das entgegengesetzte Ende des Tisches herum, damit er dem Vater nicht zu nahekommen oder hinter ihm vorbeilaufen musste. Ohne vom Vater wegzusehen, stellte er Weinglas hin und mit einer kurzen Handbewegung und einigen gemurmelten Worten löste sich der vergossene Wein langsam aus der Tischdecke, schwebte für einen Moment in kleineren und größeren Tropfen in der Luft wie eingefärbter regen, der im Fallen eingefroren war und landete schließlich in Vaters Glas, als wäre er nie verschüttet worden. Während die Familie noch ungläubig schweigend zusah, stellte Eldar die Kerze wieder auf, deutete mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand darauf und schnippte mit Daumen und Mittelfinger der gleichen Hand, woraufhin der Docht sofort Feuer fing.

Die Reaktionen der Familienmitglieder hätten nicht unterschiedlicher sein können. Mutter, die ein Leben lang strenggläubige Christin gewesen war, brach in ein heftiges Schluchzen aus, stellte die Ellenbogen auf den Tisch ab und vergrub ihr Gesicht in den Händen, sodass ihr Weinen und gemurmeltes Zetern dahinter dumpf verstärkt wurde. Hilja dagegen war begeistert und rief: „Du kannst zaubern! Du kannst zaubern! Mein Bruder ist ein Zauberer! Kannst du mir das beibringen? Ich will auch zaubern!“ Ich beschränkte mich auf stilles Beobachten der Familie, vor allem des Vaters. Dessen Gesichtsfarbe war von tiefrot zu grau gewechselt und er war zurück in seinen Stuhl gesunken. Er sah müde aus und als hätte er gerade eine schwere Niederlage einstecken müssen. Den Kopf zur Seite geneigt und auf die Knöchel der geballten Faust gestützt, starrte er auf sein Weinglas. Eldar stand da und grinste überlegen in Vaters Richtung. Schließlich ergriff Vater das Wort und sprach dabei langsam und in einem Ton, der irgendwo zwischen Hass und Enttäuschung lag, der aber keinen Zweifel daran ließ, wie ernst ihm seine Worte waren: „Außer Eldar verlassen alle den Raum. Keiner hält sich in einem der Nebenzimmer auf und versucht zu lauschen. Keiner kommt wieder hier herein, bis ich es erlaube. Los! Raus!“

Wir verließen das Esszimmer und bekamen Vater und Eldar an diesem Abend nicht mehr zu Gesicht, denn erst sehr spät, ich lag bereits im Bett und hatte einige Zeit gelesen, hörte ich Eldar in sein Zimmer eilen. Kurz darauf kam auch Vater nach oben und ich konnte hören, dass er vor meinem Zimmer stehen blieb. Nach einigen Momenten, die ich gespannt abwartete und dabei auf die Tür starrte, klopfte es an dieser und Vater trat ein. Er schien ausgelaugt und zerstreut, zugleich aber auch bekümmert und schuldig wie ein kleiner Junge, der seinen Eltern eine Ungezogenheit beichten musste. Und im Endeffekt tat er das auch. Er erläuterte mir nämlich, dass es an mir wäre, die Leitung des Familienunternehmens zu übernehmen und mein Studium der Rechtswissenschaft, das ich erst kurz zuvor begonnen hatte, an den Nagel hängen müsse. Er selbst könne aufgrund der Entdeckung im Erbe des Großvaters und den daraus entstandenen Entwicklungen in unserem Haus das Geschäft nicht mehr leiten und Eldar weigere sich aus denselben Gründen. Einerseits freute ich mich natürlich, da es schon immer klar gewesen schien, dass Eldar einmal in die Fußstapfen des Vaters im Unternehmen treten wird und ich nur eine untergeordnete Rolle im Unternehmen spielen würde. Allerdings besorgte es mich, dass alles so plötzlich passierte und ohne wirklichen Vorlauf. Zudem machten mich die von Vater angesprochenen Entwicklungen nervös. Vater beruhigte mich aber, dass er mir natürlich vor allem an Anfang mit Rat und Tat zur Seite stehen werde – was er aber nicht tat – und dass ich mir um das, was zwischen Eldar und ihm vorging, keine Sorgen machen sollte. Mir blieb insgesamt eigentlich keine wirkliche Wahl und so willigte ich ein und startete bereits am nächsten Morgen mit meiner neuen Aufgabe.

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Diese spielt hier aber eigentlich keine Rolle, denn was sich zuhause abspielte war viel entscheidender für die Zukunft der Familie. Wie uns inzwischen klar war, hatten sich Vater und Elder in den letzten Wochen beinahe ausschließlich mit magischen Studien auf Basis der Schriften des Großvaters beschäftigt. Wie genau dies ablief war dem Rest der Familie zunächst unklar. Beide verbrachten nun aber gemeinsam fast ihre gesamten Tage in der Hütte und kehrten nur spät nachts heim oder verbrachten zum Teil auch die Nächte dort. Wie sich mit der Zeit herausstellte, waren die beiden in eine Art Wettbewerb geraten, wer schneller mehr und mächtigere Zauber beherrschte. Die Familie beeinflusste das zunächst nur insofern, dass man die beiden nicht mehr zu Gesicht bekam und Mutter ständig klagte, dass all das nicht mit rechten Dingen zugehe und man sich Teufel und Dämonen ins Haus holen werde. Hilja beschwerte sich nur, dass sie nicht dabei sein dürfe und sie sich langweile. Ich selbst war im Unternehmen eingespannt und kam selbst erst oft spät abends nach Hause, sodass de Entwicklungen in der Familie fast komplett an mir vorbeiging.

Erst als nach einem unerwartet starken Schneefall das Dach der Hütte eingestürzt war und man befürchten musste, dass auch der gesamte erste Stock einbrechen würde, brachten Vater und Eldar hastig, aber mit System, alle Bücher und Notizen ins Haupthaus. Dort verwandelten sie Vaters Arbeitszimmer in ihren gemeinsamen Arbeitsplatz. Allerdings war dieses deutlich kleiner geschnitten als das vom Großvater erweiterte Arbeitszimmer in der Hütte und selbst nachdem die beiden mitten in der Nacht eine Wand zum Eingangsbereich des Anwesens hin herausrissen, um sich selbst etwas mehr Platz zu gönnen, stapelten sich hier die Bücher noch höher stapelten und man hatte noch weniger Überblick über die Unmengen an Schriften, auch wenn die beiden eifrigen Studenten sich in diesem Wust gut zurechtzufinden schienen. Für uns bot sich aber aus dem klaffenden Loch im Arbeitszimmer, das die letzte gemeinschaftliche Arbeit von Vater und Sohn gewesen sein sollte und nie in irgendeiner Form verputzt oder auch nur annähernd vorzeigbar vollendet wurde, die Gelegenheit, die beiden beim Arbeiten zu beobachten. Zunächst war dies wenig spannend. Mehrfach stand ich nach einem langen Tag in der Firma vor eben jener Öffnung und beobachtete die beiden, wie sie unbewegt über den Büchern hingen, sich nur zum Umblättern oder zur Niederschrift einiger Notizen bewegten und generell alles in Stille abliefen ließen. Nur hin und wieder verließ einer der beiden für einige Zeit das Haus und verschwand im Wäldchen neben dem Haus, um – wie ich später herausfand – die erlernten Zauber auszutesten, ohne dass der andere oder der Rest der Familie sie dabei sahen. Nach wenigen Wochen jedoch änderte sich das Verhalten der beiden erheblich – vermutlich geschuldet durch das ständige und enge Aufeinandersitzen im kleinen Arbeitszimmer. Aus dem Wetteifer, mit dem Vater und Eldar das Erlernen der Zauberei angegangen waren, wurde ein Wettstreit, bei dem viel die Ellenbogen zum Einsatz kamen. Es fing harmlos an: Man versteckte die Notizen des anderen oder legte Bücher an Stellen, an die sie nicht gehörten, sabotierte die Lieblingsschreibfeder des Kontrahenten oder versuchte auf ähnliche Arten und Weisen sich gegenseitig vom Studium abzuhalten. Das Verhalten, dass Vater und Bruder an den Tag legten, erinnerte mich dabei sehr an die Zeiten, zu denen Eldar und ich noch zur Schule gingen und uns ähnlich verhielten, um den anderen in Schwierigkeiten zu bringen.

Bald jedoch wurde der Wettstreit zum Wettkampf, bei dem vor allem die erlernten Zauber zum Einsatz kamen, um den anderen von der Aneignung neuer Erkenntnisse abzuhalten. Den Anlass dafür gab Eldar, der aus Wut darüber, dass Vater wieder einmal heimlich Fehler in Eldars Notizen eingebaut und diese somit weitestgehend unbrauchbar gemachte hatte, dem Vater einige Notizen unter dem Stift wegriss und ins Feuer warf, dass im Kamin brannte. Im Gegenzug nutzte Vater den Trick mit dem Fingerschnippen, mit dem Eldar an Weihnachten die Kerze entzündet hatte, um einige von Eldars handgeschriebenen Seiten in Brand zu setzen. Der konnte diese zwar größtenteils retten, aber damit war die Grenze, die Zauberei nicht gegeneinander einzusetzen, überschritten. Vater sorgte dafür, dass sämtliche Schreibblätter sich unter Eldars Federhaltern wegbewegten, als würden sie vor seiner Schrift fliehen. Eldar ließ die Bücher, in denen Vater lesen wollte, sich immer wieder von selbst zuschlagen. Vater schaffte es, dass Eldar für einen halben Tag nur noch so verschwommen sah, dass es ihm unmöglich war, etwas zu lesen und Eldar rächte sich, in dem er verhinderte, dass Vater seine Augen überhaupt öffnen konnte und somit beide blind und lamentierend im Haus herumtapsten. Mutter, die zunächst fassungs- und machtlos zugesehen hatte, griff schließlich ein, als Eldar das komplette Gedächtnis des Vaters löschte, sodass dieser sich für mehrere Stunden nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern konnte, geschweige denn, dass er eine Familie hatte. Auch wenn das gegenseitige Geplänkel ansonsten durchaus unterhaltsam war, empfand ich es doch erschreckend, Vater, der mir früher immer so stark und selbstsicher vorgekommen war, in einem Zustand absoluter Hilflosigkeit und Panik zu erleben. Auf Mutters Intervention hin versprachen die beiden aber, dass sie in Zukunft nicht mehr zu solch dramatischen Mitteln greifen würden.

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Dramatisch waren auch die Veränderungen, die die Versuche in der Magie von Vater und Sohn in den nächsten Monaten in unserem Wäldchen hervorriefen. Bei einem nachmittäglichen Streifzug durch dieses – ich war einmal eher von der Arbeit zurückgekehrt, Mutter war mit Hilja in die Stadt gefahren und der Rest der Familie saß an ihrem Schreibtisch – entdeckte ich, dass mehrere Anzeichen der ausgeübten Magie im Wald. Bäume waren verfärbt und missgestaltet, an mehreren Stellen fanden sich Brandspuren und sogar geschmolzenes Gestein konnte ich sehen. An einer Stelle, an der einst eine dichte Wand aus Brombeerbüschen gestanden hatte, klaffte ein quadratisches Loch im Boden mit einer Kantenlänge von etwa zehn Metern und der gleichen Tiefe. Die Ränder des Loches waren so scharf geschnitten, als hätte jemand mit einer übergroßen Plätzchenform einen Würfel aus dem Erdreich ausgestochen. An den Wänden des Würfels waren noch die sauber abgetrennten Wurzelstränge zu sehen, die sich vormals durch diese Erde gezogen haben mussten.

Am erschreckendsten waren aber die Tiere, die an verschiedenen Stellen im Wald zu finden waren. Seltsam war waren die Anzahl und die Art der Tiere, die ich überall im Wald sehen konnte. Schon immer gab es in unserem Wäldchen einzelne Rehe und Füchse, recht viele Hasen und kleine Nager, gelegentlich war auch eine Wildschweinrotte durchgezogen. Aber nun lagen überall verwesende Tierkadaver, sodass man an einigen Stellen aufpassen musste, dass man nicht auf sie trat. Zudem waren unter ihnen einige Tiere, die ich in der Gegend noch nie gesehen hatte oder von denen ich wusste, dass es sie hier eigentlich nicht geben sollte. Die Menge und die Art der Tiere waren verwunderlich und besorgniserregend, aber ihr Zustand war das, was mich wirklich erschreckte. Einige von ihnen hatten kreisrunde Löcher in ihren Körpern, von der Stärke einer Stricknadel bis zu faustgroßen Löchern, die aussahen, als wären sie mit einem lächerlich großkalibrigen Gewehr geschossen worden, sodass zum Teil nur noch Fetzen der Tiere zu erkennen waren. Andere Kadaver enthielten ausgeschnittene Stellen, die ganz klar die gleiche Herkunft wie der Krater im Boden hatte, nur deutlich kleiner. Ich lief an einem auf der Seite liegenden Elch vorbei, aus dessen Flanken Würfel in verschiedenen Größen wie herausgestanzt waren, sodass ich durch seinen Körper hindurch den blutbefleckten Schnee sehen konnte. Und bei einem seitlichen Blick in die herausgestochenen Löcher, konnte man die verschiedenen Schichten des Gewebes, Haus, Fett, Muskeln, aber auch Knochen und Organe, gut erkennen und deutlich unterscheiden.

Auf einem umgekippten Baumstamm unweit des Elches, stand eine Reihe kleinerer Tiere, vor allem Ratten und Hermeline – letztere kamen in der Gegend eigentlich nicht vor – , die in ihrer Bewegung eingefroren waren und komplett versteinert dastanden. Aus einigen Metern Entfernung schienen sie noch wie lebendig und auch ihr Fell war noch so weich wie es sein sollte und wurde vom Wind sanft hin und her bewegt. Allerdings zeigten sie keinerlei Regung als ich näher an sie herantrat und selbst als ich sie anfasste, zuckten sie nicht. Nicht einmal, wenn ich versuchte mit Gewalt etwas an der eingenommenen Haltung zu ändern, etwa einen Vorderlauf zu beugen oder in einen anderen Winkel zur Schulter zu stellen, tat sich etwas. So standen die Tiere wie Trophäen eines überaus talentierten Taxidermisten aufgereiht auf dem Baumstamm, zum Warten in Wind und Wetter verdammt, Fliegen über die Nase und die geöffneten Augen wandernd, einer ungewissen Zukunft ausharrend, die für sie vermutlich als Zielscheibe für die Zauber von Vater und Eldar enden würde. Widerte die Situation mich ohnehin schon an, erfasste mich das Grauen vor den Taten meiner Familie, als ich eines der Tiere, einen prächtigen Hasen, den ich mir genauer ansehen wollte, hochhob. Denn als ich meine Hand unter seine Brust schob, spürte ich seinen rasenden Herzschlag gegen meine Handfläche hämmern. Erschrocken ließ ich den Hasen fallen und er landete halb auf der Seite liegend im schneebedeckten Gras, als wäre er ein Stofftier, dass ein Kleinkind achtlos fallengelassen hatte. Mit zitternden Fingern tastete ich die anderen Tiere auf dem Baumstamm ab und bei jedem von ihnen konnte ich einen Herzschlag in der kleinen Brust feststellen. Ich kann nicht sagen, ob Ekel und Abneigung gegen die Taten meiner Familie, oder Mitleid gegenüber den Tieren in mir dominierten. Ich erinnere mich jedoch an eine wütende Niedergeschlagenheit und so stellte ich den Hasen zurück auf den Baum, damit Vater und Eldar nicht herausfanden, dass ich wusste, was sie hier taten. Auf dem Weg zurück zum Haus lief ich an einigen zerborstenen Bäumen vorbei, sah einige Findlinge aus dem Boden ragen, deren obere Hälften verformt, fast wie geschmolzen, waren und in vielerlei Farben schimmerten. Aber ich hatte genug von diesem Ort und wollte zu sehr nach Hause, als dass ich diese Dinge genauer untersuchen konnte.

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Das letzte Mal, dass die gesamte Familie zusammenkam, war Pääsiäinen des vergangenen Jahres, etwa ein Vierteljahr nach meinen Entdeckungen im Wald und im zweiten Jahr der Zaubermanie in unserem Haus. Mutter, die seit einigen Wochen bereits kränkelte – was ich auf die Sorgen, die sie sich um das Treiben von Ehemann und Sohn machte, schob – zwang die beiden Zauberwütigen schon fast sich mit an den Esstisch zu setzen, indem sie damit drohte das Arbeitszimmer mitsamt dem restlichen Haus niederzubrennen, wenn sich die beiden weigerten, wenigstens einen Abend im Kreis der Familie zu verbringen. Eldar fing an ihr süffisant zu widersprechen und ihr verständlich zu machen, dass er dies niemals zulassen würde. Vater jedoch unterbrach ihn, indem er mit einem Wischen seiner Hand Eldars Mund gewaltsam schloss, sodass er sich beinahe auf die Zunge biss, und ließ mit einer weiteren Handbewegung seine Lippen zu einer zu einer starren Fläche verschmelzen, die an die Rinde eines Ahorn erinnerte und Eldar somit nur noch gedämpfte Laute von sich geben konnte.

Zwar strafte Mutter dies mit einem vernichtenden Blick an den Vater ab, aber dieser konnte die Freude über das Zusammensein mit der Familie nicht aus ihrem Gesicht verbannen. Strahlend führte sie Vater und Eldar ins Esszimmer, letzterer bereits wieder komplett hergestellt, in dem Hilja und ich bereits am Tisch saßen. Mutters Freude verblasste aber schnell, da das Familienessen in einvernehmlichem Schweigen vonstattenging. Vater und Eldar warfen sich ständig bösartige Blicke zu, mich widerte es an mit den beiden am Tisch zu sitzen, da ich ja wusste, was sie in unserem Wäldchen trieben, und Hilja schien seit einigen Wochen schon so eingeschüchtert von den Vorgängen in unserem Haus, dass sie wenn überhaupt nur noch sprach, wenn sie mit Mutter allein war. Mutter versuchte einige Male ein Gespräch anzukurbeln, gab dies aber aufgrund ausbleibender Reaktionen schnell wieder auf und der von ihr herbeigesehnte Abend als Familie löste sich schnell wieder auf.

Knapp ein halbes Jahr später verstarb Mutter, nachdem sie zuvor immer schwächer geworden war und letztendlich nicht mal mehr das Bett verlassen konnte, während Vater und Eldar wie gewohnt und von der Krankheit der Mutter scheinbar unberührt, ihre Tage im Arbeitszimmer verbrachten. Auch wenn ich natürlich nicht sicher sein kann, gebe ich die Schuld daran dem Verhalten meines Vaters und Bruders. So zornig ich auch über den Verlust war, traf es Hilja doch am härtesten. Sie verbrachte den letzten Monat rund um die Uhr an Mutters Seite und kümmerte sich liebevoll um sie. Nach dem Tod unserer Mutter verbrachte sie ihre Tage in ihrem Zimmer, wollte niemanden sehen und verfiel gänzlich in Schweigen. Nur für die Beerdigung sie, sauber herausgeputzt in einem schwarzen Kleid und mit schwarzen Schleifen im blonden Haar, ihr Zimmer. Auch Vater kam zu diesem Anlass aus dem Arbeitszimmer und begleitete uns zur Beerdigung, deren Organisation er mir überlassen hatte. Allerdings sprach er weder auf dem Hin- oder Rückweg mit uns, noch reagierte er auf die Beileidsbekundungen der Menschen, die gekommen waren, um Mutter die letzte Ehre zu erweisen. Eldar erschien zur Beerdigung überhaupt nicht.

Spät am Abend nach der Beisetzung erschien Vater im Türrahmen des Wohnzimmers, in dem ich über einigen Unterlagen brütete, und es war offensichtlich, dass er sich in den letzten Stunden ausnahmsweise einmal nicht im Arbeitszimmer der Magie hingegeben hatte, sondern ausgiebig dem Alkohol. Hätte man es ihm nicht ohnehin angesehen, an seiner Haltung und seiner Gesichtsfarbe, hätte die fast leere Vodkaflasche in seiner Hand es verraten. Nachdem er einige Momente vor sich hingestarrt hatte, begann er zu sprechen, ohne mich dabei anzusehen: „Ich weiß, du hältst mich und deinen Bruder für schlechte Menschen und verurteilst, was wir da tun. Vor allem was draußen im Wald passiert. Und vielleicht hast du damit auch recht. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich dieser Familie nie etwas Böses wollte und auch deiner Mutter nicht. Der einzige Grund, warum ich mein gesamtes Leben auf das Zaubern ausgerichtet habe, ist, dass ich Angst habe, was dein Bruder tun könnte, wenn er zu viel davon lernt und zu mächtig wird und niemand da ist, der ihn in Schach halten könnte.“ Er sah auf und starrte mir tief in die Augen. Ich hielt seinen Blick, verzog dabei aber keine Miene und antwortete nicht. „Hast du gehört? Ich wollte nicht, dass unsere Familie sich so verändert. Ganz im Gegenteil! Ich wollte sie schützen!“, rief er eindringlich, lehnte seinen Oberkörper dabei in meine Richtung, als würde ich ihn dann besser verstehen, verlor dabei aber seinen sicheren Stand und musste ein paar Schritte nach hinten wanken, um nicht umzufallen. Angewidert senkte ich den Blick, um mich wieder auf die Papiere auf dem Tisch vor mir zu konzentrieren, und winkte abfällig in seine Richtung ab. Als wäre es auf meinen Befehl hin gewesen, fuhr in diesem Moment ein Windstoß vom geöffneten Fenster durch das Wohnzimmer, der Vater die Tür vor der Nase zuschlug. Leise hörte ich ihn fluchen, bevor seine schlurfenden Schritte sich entfernten, ohne, dass seine Worte Eindruck bei mir hinterlassen hatten.

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Mit dem Tod der Mutter fielen bei Vater und Eldar die letzten Hemmungen in ihrem Wettkampf und den Versuchen, den jeweils anderen davon abzuhalten, sich weiter mit der Magie zu beschäftigen. Vater sorgte dafür, dass sämtliche Muskeln in Eldars Körper den Dienst verweigerten und Eldar somit schlichtweg von seinem Stuhl rutschte und reglos auf dem Boden liegenblieb. Glücklicherweise erkannte Vater sofort, dass dies doch zu weit ging, da alle Muskeln natürlich auch lebenswichtige Organe beinhält, wie Eldars Herzschlag und seine Lungen. Faktisch hat Vater Eldar also für einige Sekunden das Leben genommen, aber seinen Fehler noch rechtzeitig bemerkt und Anpassungen an seinem Zauber vornehmen können, sodass dieser wieder lebensfähig wurde und nur nutzlos anstatt tot am Boden des Arbeitszimmers lag. Allerdings musste sich Vater nun auch bis zu einem gewissen Maße um meinen Bruder kümmern, denn nach wie vor benötigte dieser natürlich Wasser und auch seine Verdauung mit all ihren Konsequenzen musste natürlich aufrecht erhalten werden. Nach nicht ganz sechs Tagen gab er also Eldar die Kontrolle über dessen Körper zurück. Einige Tage später folterte Eldar Vater als Vergeltung mit Wahnvorstellungen, die ihm zeigten, wie Mutter und Hilja immer wieder qualvolle Tode sterben mussten. Aus Wut darüber trennte Vater seinem Sohn, als dieser nicht aufpasste, den Kopf von den Schultern und versteckte ihn in einem Sack im Keller, sodass Eldars kopfloser Körper stundenlang im Haus herumirrte, bis er sich selbst fand und sich wieder zusammenfügen konnte.

Zum ersten Mal war ich froh darüber gewesen, dass Hija ihr Zimmer nicht mehr verließ und sie diese Spektakel nicht mit ansehen musste. Dennoch machte ich mir mehr und mehr Sorgen über ihre Zurückgezogenheit und die Verweigerung auf jegliche Ansprache zu reagieren oder von sich aus zu sprechen. Mehrfach versuchte ich ihr eine Freude zu bereiten in dem ich ihr Puppen, Kleider oder Schmuck mitbrachte, aber stets ließ sie diese unangetastet an der Stelle liegen, an der ich sie abgelegt hatte. Auch die Versuche sie aus dem Haus zu bewegen, in dem ich sie auf Ausflüge in unserer Kutsche oder in das kurz zuvor eröffnete Kino in der Stadt einlud, schlug sie aus. Lange Zeit wusste ich mir nicht zu helfen und so vergingen die Monate in unserem Haus, mit dem Vater und dem Bruder, die sich mehr und mehr bekriegten, und einer Schwester, die nur noch in sich selbst lebte. Bis schließlich der Herbst wieder Einzug hielt und der ganze Spuk auf die denkbar furchtbarste Weise endete.

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Eines Abends, es war kurz nach dem dritten Todestag meines Großvaters und die Dämmerung setzte langsam ein, kam ich aus der Firma zurück, als ich bereits von weitem Rauch über unserem Haus aufsteigen und am Abendhimmel Lichter in verschiedenen Farben aufblitzen und flackern sah. Ich beeilte mich nachhause zu kommen und stellte mit Erleichterung fest, dass unser Haus unversehrt zu sein schien. Als ich jenes jedoch umrundet hatte, erkannte ich, dass unser Wäldchen, oder das, was davon noch übrig war, der Schauplatz der Ereignisse war.

Der Teil des Waldes, der dem Haus am nächsten war, hatte sich in eine leere, spiegelglatte schwarze Fläche verwandelt. Vorsichtig betrat ich diese und es fühlte sich tatsächlich an, als würde man über Glas laufen, nur dass sich unter mir eine undefinierbare harte schwarze Masse befand, die von farbigen Schlieren durchzogen war, die sich ineinander verschlangen, als hätte ein Strudel unter dem Glas alle Farben der Umgebung eingezogen. Langsam bewegte ich mich vorwärts und erreichte schließlich das Ende der Fläche und der Boden unter mir wurde schlagartig zum gewohnten, schneebedeckten Waldboden. Allerdings fanden sich in diesem überall die bereits bekannten Löcher und Würfelausschnitte. Zudem waren an vielen Stellen im Gras und an den Bäumen – von denen viele umgefallen waren und einige regelrecht zerfetzt worden sein mussten – Brandspuren zu sehen, vereinzelt brannten sogar noch kleine Feuer.

Hinter einigen Felsbrocken tiefer im Wald ging ich in die Hocke und beobachtete das Spektakel, dass sich nicht einmal 100 Meter vor meinen Augen abspielte: Vater und Eldar standen sich in einigen Dutzend Schritten Abstand gegenüber und warfen sich unaufhörlich und in rascher Abfolge Zauber entgegen. Dabei schienen beide stets gleichzeitig mit Angriff und Abwehr beschäftigt, denn unaufhörlich blitzen Lichter an unsichtbaren Schilden knapp vor den Kämpfenden auf, an denen die Zauber des Gegenübers abprallten oder umgeleitet wurden. Die Umgebung, in der sich die beiden in diesem Moment befanden, war von den Zaubern, die abgeleitet wurden oder ihr Ziel verfehlten, so verbrannt und durchlöchert, dass es aussah, als würden die beiden auf einer toten Mondlandschaft miteinander streiten, in der mit Sicherheit nie wieder etwas wachsen würde. Zudem bewegten sich beide unablässig umeinander, sodass ich ihr Gefecht kontinuierlich aus einem anderen Winkel betrachten konnte. Es schien schier unmenschlich, wie schnell die beiden gestikulierten, dabei scheinbar Worte vor sich hinmurmelten und scheinbar immer genau die richtige Antwort für die Aktionen des Gegners parat hatten. In Vaters Gesicht schien sich ein Hass widerzuspiegeln, den ein Vater nicht für seinen Sohn empfinden sollte. Vereinzelt flogen ihm Spucketropfen aus dem hochroten Gesicht und mehrmals schien er seine Zauber zu unterbrechen, um meinem Bruder etwas zuzurufen, das ich aber aufgrund des durchgehenden Lärms von Zaubern, die auf Schilde prallten, die den Boden zerpflügten und Bäume zerfetzten, kaum meinen eigenen Atem hören konnte.

Ich richtete mich halb auf und kroch geduckt hinter den Felsen hervor, um zu einigen Bäumen, die übereinander gestürzt waren und so eine hüfthohe Deckung bildeten, zu gelangen. Doch sobald ich um die Felsbrocken gekrochen war, sah ich nur wenige Meter vor mir einen blutroten Haarschopf im Gras, der eigentlich blond hätte sein sollen. Ohne auf meine Deckung zu achten, rannte ich los und stürzte neben meiner Schwester auf die Knie und rollte sie von der Seite, auf der sie lag, in meinen Schoß. Ihren Anblick werde ich nie vergessen, erscheint er mir doch jedes Mal, sobald ich meine Augen schließe, detailreich im Gedächtnis. Und dieser Anblick war es, der den Untergang der Familie Halla endgültig besiegelte. Sie sah furchtbar aus. Die linke Hälfte des Gesichtes war nahezu restlos weggebrannt, die Rechte von zahlreichen stecknadelkopfgroßen Löchern durchsiebt, durch die ich den Stoff meiner Hose sehen konnte, auf der Hiljas süßer kleiner Kopf ruhte. Zwischen ihrer Kehle und der rechten Schulter klaffte eines der bekannten würfelförmigen Löcher. Die linke Seite der Hüfte und das linke Bein bis knapp unterhalb des Knies waren steif und erinnerten an das Glas der Fläche, die ich erst wenige Minuten zuvor beim Betreten des Waldes überquert hatte. Und überall Blut. Ich strich ihr zärtlich über die Wange der unverbrannten Gesichtshälfte und hielt ihre Hand für einen Moment. Ihr Körper war eiskalt, was bei den im winterlichen Finnland natürlich kein Wunder war. Aber dennoch hieß es, dass sie zumindest seit einiger Zeit dort gelegen haben musste, unbemerkt von Eetu und Eldar. Ich küsste ihre Stirn, legte sie vorsichtig, mit den Händen vor der Brust gefaltet, auf den Rücken und versprach ihr, dass ich gleich wieder bei ihr wäre. Dann schob ich die Trauer beiseite, um in meinem Herzen Raum für Wut und Hass zu schaffen.

Ich trat auf die Lichtung, die durch den Kampf zwischen Eetu und Eldar entstanden war. Beide entdeckten mich gleichzeitig und für einen Moment stoppten die Lichter und Einschläge der Zauber. Sie sahen mich fragend an, doch ich wollte nicht reden. Ich schlug die Hände dicht vor meinem Gesicht zusammen und die entstandene Druckwelle warf die beiden zu Boden. Ich riss die Arme auseinander und wie Puppen, die von einem Kind durchs Zimmer geworfen wurden, schleuderte ich sie damit durch die Luft. Eetu prallte mit dem Rücken gegen einen Baumstamm, Eldar schlug heftig mit der Brust auf dem Boden auf. Auf einen Fingerzeig schleifte eine unsichtbare Kraft die beiden über den Boden direkt vor meine Füße, wobei sie auf ihrem Weg hart über den Boden gezogen wurden und ihre Körper dazu genutzt wurden, Hindernisse wie Äste und Steine zur Seite zu schieben. Mit aus vielen Wunden blutenden Gesichtern sahen sie erschrocken und verwundert zu mir auf. Eetu setzte an etwas zu sagen, doch wie ein Dirigent, der zum Crescendo ansetzt, hob ich blitzschnell meine Arme, woraufhin beide einige Meter in die Luft gehoben wurden, bevor sie, auf ein rasches Senken meiner Arme hin, schneller als die Gravitation es hätte erlauben sollen, wieder auf den Boden krachten. Röchelnd und keuchend lagen sie da, doch versuchte diesmal niemand etwas zu sagen. Erneut hob ich die Arme und deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war. Langsam schwebten die beiden auf die Stelle zu, an der Hilja lag. Ich ließ sie für mehrere Minuten direkt über ihr schweben, ihre geschundenen Gesichter nur etwa einem halben Meter über dem zerstörten Körper ihrer Tochter, beziehungsweise Schwester. Sie sollten genau sehen, was sie angerichtet hatten, und ich hoffte, dass ihnen in diesem Moment klar wurde, was ihnen bevorstand. Ich rief sie zurück und wieder landeten sie unsanft zu meinen Füßen, bevor ich sie knapp über meiner Augenhöhe direkt vor in die Luft hängte. Vater hing starr und mit leerem Blick da. Eldar wollte jetzt etwas sagen, doch ich wollte nicht zuhören. Mit einem Fingerschnippen riss ich ihm den Unterkiefer samt Lippe und Zunge aus dem Gesicht, sodass sich eine Blutfontäne über mir ergossen hätte, wenn ich nicht schnell einen Schild erschaffen hätte, an dem das Blut wie Regen an einer Fensterscheibe hinunterlief und schließlich als blutige Schlieren in der Luft hängen blieb. Mein Bruder gab röchelnde Schmerzensschreie von sich, doch ein Winken der rechten Hand sorgte dafür, dass diese nicht mehr wahrnehmbar wahren, als hätte man den Lautstärkeregler eines Radios ganz nach unten geschraubt. Ich drehte die beiden in die Richtung, in der hinter den Bäumen unser Haus lag. Ein weiteres Winken und mehrere Baumreihen vielen zur Seite und öffneten so wie ein Bühnenvorhang eine Schneise, die den Blick auf das Anwesen freigab. Ein kurzer, gemurmelter Befehl und hinter jedem der Fenster erschienen Flammen, die in Windeseile das gesamte Haus einnahmen und in Inferno verwandelten, bei dem das Gebäude hinter den Flammen kaum noch zu erkennen waren. Ich ließ Eetu und Eldar einige Minuten zusehen, wie mit dem Haus ihre verdammte Arbeit vernichtet wurde, drehte sie wieder in meine Richtung und begann wieder und wieder mit dem Finger auf sie zu zeigen. In schneller Folge durchstachen winzige Löcher die Oberkörper und Gesichter der beiden Männer, zu denen ich einmal vor so langer Zeit aufgesehen hatte, die ich nun aber nicht mehr als Familie betrachten konnte. Als nächstes riss ich wieder und wieder kleine Würfel aus ihren Gliedmaßen, bis an diesen kaum noch Gewebe hing. Anschließend verwandelte ich ihre Körper von den Hälsen an abwärts in schwarzes Glas. Ob einer der beiden zu diesem Zeitpunkt noch bei Bewusstein war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich hoffte es aber. Ich kann auch nicht sagen, dass meine Wut über ihre Taten oder der Hass, den ich für sie empfand, nachließen. Noch empfand ich Mitleid mit ihren Schmerzen oder Reue über das, was ich mit ihnen gemacht hatte. Vermutlich war ich es einfach leid sie anzusehen und war einfach fertig mit ihnen. Ohne ein letztes Wort oder einen Blick in ihre Augen ließ ich sie in die Flammen schweben, die nun viele meterhoch über dem Haus aufragten. Dort hielt ich ihre Körper, bis ich mir sicher sein konnte, dass da nichts übriggeblieben war, außer zwei Haufen Asche, die sich mit der des Hauses vermischen und vom Wind verteilt werden würden.

Ich kehrte zu Hilja zurück und setze mich neben sie in den Schnee. Eine Weile redete ich mit ihr. Erzählte ihr von ganz früher, als sie noch ein Säugling und Kleinkind war und von den Streichen, die ich ihr oft gespielt hatte, als sie ein wenig älter geworden war. Erinnerte sie, wie sehr die Mutter sie geliebt hatte und all die schönen Spiele, die gemeinsam gespielt hatten. Entschuldigte mich immer wieder bei ihr, dass ich mich in den letzten Jahren zu wenig um sie gekümmert hatte und sie nicht aus diesem Haus, in dem sich durchgehend wahnsinnige Vorgänge abgespielten hatten, herausgeholt hatte. Bedauerte, dass ich nicht einmal gemerkt hatte, dass aus meiner kleinen Schwester in der Zwischenzeit ein Jugendliche, schon fast eine junge Dame geworden war. Und definitiv trifft auch mich eine Schuld an ihrem Tod, war ich doch der Zauberei ebenso verfallen wie Eetu und Eldar verfallen.

Es war bereits tiefe Nacht als ich mich erhob und ihren kleinen Körper in meine Arme nahm. Ich ging mit ihr tiefer in den Wald und fand eine Stelle, die mir friedlich und abgelegen genug vorkam. Ein Nicken und einige Dutzend Bäume wurden samt Wurzelwerk aus dem Boden gerissen und flogen tief in den Wald, sodass eine kleine Lichtung entstand. Auf meinen Willen hin öffnete sich der Waldboden quaderförmig und ein Bett aus Moos und Kirschblüten, die hatte meine Schwester im Frühling immer besonders geliebt, erschien im Loch und kleidete die Wände aus. Ich legte Hilja vorsichtig in das Erdloch, küsste sie ein letztes Mal auf die Stirn, stieg aus dem Loch und verschloss das Grab nach einem langen letzten Blick. Ein starker Wind, der an meinen Kleidern zerrte, hob an und blies den Schnee auf dem Boden fort, dafür erschien saftiges Gras, durchsetzt mit hunderten Gänseblümchen, Hiljas Lieblingsblumen, aus denen sie immer Kränze geflochten hatte, und mehrere Kirschbäume wuchsen in atemberaubender Geschwindigkeit in Reih und Glied zu drei Seiten um das Grab, das vom Mondschein erhellt wurde, und würden Hilja so für immer spalierstehen.

***​

Ich verstehe nicht, wie Eetu – es fällt mir inzwischen zu schwer ihn noch „Vater“ zu nennen – annehmen konnte, dass ich mich nicht auch mit der Magie, die der Großvater hinterließ, beschäftigen würde. Natürlich war ich vom ersten Moment an ähnlich gefangen in der Materie, wie Eetu und Eldar, nur schaffte ich es, dies vor dem Rest der Familie geheim zu halten. Dabei kam mir auch die scheinbare Übernahme der Leitung des Familienunternehmens zur Hilfe, denn bereits am zweiten Tag verkaufte ich dieses zu einem Spottpreis an unseren größten Konkurrenten, der somit zum absoluten Marktführer wurde. Zwei Bedingungen für den Verkauf stellte ich jedoch: Nach außen hin sollte zunächst nichts von diesem Ausverkauf bemerkbar sein und die Firma weiterhin und dem Namen Halla laufen. Des Weiteren würde ich offiziell Geschäftsführer bleiben und auch mein Büro behalten, ohne mich jedoch in die Angelegenheiten der Firma einzumischen. Somit hatte ich den Vorteil, dass ich mein eigenes Arbeitszimmer hatte, in dem ich mich ungestört meinen Studien widmen konnte, und mich auch nicht mit der gegenseitigen Gängelei herumschlagen, die sich im Arbeitszimmer unseres Hauses abspielte. Der einzige Nachteil, den gegenüber den anderen Zauberern der Familie hatte, war der Zugang zum Material. In den ersten Tagen musste ich passende Gelegenheiten abpassen, um mich in das Arbeitszimmer der Hütte zu schleichen und Schriften an mich zu nehmen, bei denen ich annehmen konnte, dass ihr Verschwinden zunächst unentdeckt bleiben würde. Gleich im dritten Anlauf fand ich ein Buch mit Zaubern, wie vorübergehende Unsichtbarkeit, das Erschaffen einer Zeitblase und Ähnlichem, die mir zunächst einige Schwierigkeiten bereiteten, deren Beherrschung das Unterfangen erheblich erleichterten. Insgesamt glaube ich, dass ich nicht weniger Zugang zu den Schriften hatte, als meine geheimen Konkurrenten – auch wenn die natürlich nichts von dieser zusätzlichen Konkurrenz wussten. Zudem schien mir die Magie zuzufliegen und ich brauchte nie lange, um Neues zu erlernen. Darüber hinaus musste ich nicht wie Eetu und Eldar meine Künste im Geheimen ausprobieren. Ich wusste einfach, dass ich sie beherrschte, sobald ich die Theorie hinter den einzelnen Zaubern verstanden hatte. Ich glaube, dass ich auch deshalb so angewidert vom Treiben meiner Familie im Wald war, da es mir erbärmlich erschien, dass die beiden ihre Zauber testen und üben mussten.

An dieser Stelle möchte ich einen Zettel erwähnen, den ich gleich in den ersten Tagen meiner Studien in einem der Bücher fand und für mich behielt. Es war ein kleine Stück Papier, das von einem größeren Blatt abgerissen und beschrieben worden war. Das Papier war stark vergilbt und die Falzen des gefalteten Zettels wirkten schon sehr brüchig. Die Handschrift wirkte fahrig und unsauber und war mir gänzlich unbekannt. Aus dem Inhalt erschloss sich aber, dass es sich um ein Schreiben des Vaters meines Urgroßvaters Keke handeln musste:



Mein Sohn Keke,

wenn du diese Notiz in der Hand hältst, heißt das, dass du mein Erbe, sei es nun Fluch oder Segen, angetreten hast. Ich werde nicht versuchen, dich vor den Versuchungen zu warnen, die dich hier erwarten, denn ich weiß, dass dies zwecklos wäre, so wie es das auch bei mir und den Generationen vor mir zwecklos war. Vor allem da dir nun ein Wissen zur Verfügung steht, das über Jahrhunderte angesammelt worden ist und dir einen schnellen Zugang in die Materie ermöglichen sollten. Jeder deiner Vorfahren hat etwa so viel Energie in das Erlernen der Fähigkeiten, die sich in dieser Sammlung verbergen, gesteckt, wie in die Erweiterung derselbigen.

Einen Rat möchte ich dir aber geben, damit du wenigstens die Chance hast, dass das Familienerbe nicht wie so oft schon auch für dich zu einem Fluch wird. Stelle sicher, dass sich niemals zwei oder mehr Hallas gleichzeitig mit der Magie beschäftigen. Die Erfahrungen unserer Vorfahren über die Jahrhunderte hinweg haben gezeigt, dass dies nur zu Unheil und Leid führt. Bestenfalls hat ein Halla überhaupt nur einen männlichen Nachkommen, um dieses Problem zu umgehen. Aus diesem Grund musste auch dein Bruder Aatami sterben, als ich das Erbe meines Vaters antrat. Erwähne dies jedoch nie vor deiner Mutter, sie soll weiterhin glauben, dass es ein Unfall war.

Nutze das Vermächtnis sinnvoll und gebe weiter was du kannst, um die nachfolgenden Generationen vor Schaden zu bewahren. Ich hoffte, ich selbst könnte dir mehr Hilfestellung zum Umgang mit unserem Erbe geben, aber mehr habe ich dir nicht zu bieten.

Dein Vater
Jonne




Nun, Jonne schien recht behalten zu haben. Aber für die Zukunft wird das keine Rolle mehr spielen. Das Erbe der Familie Halla ist vernichtet und es ist auch niemand mehr übrig, der es antreten könnte. Ich bin der Letzte unserer Familie und auch meine Existenz wird nicht mehr lange andauern. Ich beabsichtige mein Können der Verteidigung des Vaterlandes gegen den Einfall der roten Armee im vergangenen Monat zur Verfügung zu stellen. Sollte ich dies überleben, werde ich meinem Leben selbst ein Ende setzen und damit sollte alles, was an das Erbe der Hallas erinnerte, ausgelöscht sein. Keiner soll mehr die Chance bekommen, etwas von dem, was die Hallas über so viele Generationen antrieb, in die Finger zu bekommen. Aus diesem Grund habe ich versucht bei den „Büchern“ und „Zaubern“, die ich in dieser Chronik des Endes einer Familie erwähnt habe, möglichst vage zu bleiben, falls diese überhaupt jemals gefunden und gelesen wird.

Tauno Halla, Dezember 1939
















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Die Namen der Familie Halla:

  • Vater – Eetu (der Hüter des Besitzes)
  • Mutter – Eina (die Alleinkämpferin)
  • Sohn 1 – Eldar (der Feuerkämpfer)
  • Sohn 2 (Erzähler) – Tauno (der Friedliche/der Bescheidene)
  • Tochter –Hilja (die Stille)
  • Großvater – Keke (der alleinige Herrscher)
  • Urgroßvater – Jonne (das Kind der Sterne)
 



 
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