Der unvollendete Kuss

Ich sitze schon einige Zeit am Tresen, als ein Bekannter von mir das Lokal betritt und sich auch gleich neben mich setzt. Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln frage ich ihn ohne weitere Präliminarien, ob er diese kurzen Zeitspannen kenne, in der man gespannt auf das wartet, was unmittelbar bevorsteht; in der man sich selbst, seine Gedanken und beinahe das Atmen vergisst?

„Was meinst du genau?“, fragt er mich ungläubig.

„Nun, du wirst sicher jenen Moment beim Start eines Hundertmeterlaufes kennen“, fahre ich fort. Ich meine die Zeit, die zwischen dem Kommando ´Fertig´ bzw. ´Ready´ und dem Schuss liegt, der die Läufer aus den Startblöcken hochschnellen lässt. In dieser minimalen Zeitspanne verharren im Stadion Zehntausende in vollkommenem Schweigen.

„Doch-doch, das habe ich im Fernsehen schon gesehen“, bekomme ich zur Antwort. „Aber was ist so besonders daran, zumal es fast jedes Mal Fehlstarts gibt?“

Ich will dir noch ein Beispiel geben, sage ich, denn diese Zeitpixel des Stillstandes erlebt man auch anderswo: Man sitzt im Zug, der abfahrtsbereit im Bahnhof steht. Es ertönt die Pfeife des Schaffners. Aber der Zug setzt sich nicht sofort in Bewegung. Es dauert zwei, drei oder mehr Sekunden, während der es nichts als diese mit Leere gefüllte Zeit gibt.

„Ich fahre so gut wie nie mit dem Zug. Mit dem Auto bin ich unabhängiger“, bekomme ich zur Antwort. Mehr hat er dazu nicht zu sagen.

Ich unternehme einen neuen Anlauf und erwähne einen Liederabend, den ich kürzlich besucht habe. Der Sänger hatte sich neben das Klavier gestellt, straffte sich und stand dann unbewegt da. Die Pianistin saß wie erstarrt am Klavier, ihre Hände über den Tasten schwebend. Alle hielten inne, die beiden Musiker und das Publikum. In diesem Zeitraum, in dem sich die Sekunden unerträglich dehnten, bis sich endlich die Hände der Pianistin langsam senkten und der erlösende erste Ton zu vernehmen war, war das Dasein gebannt von einer lähmenden Anspannung und Erwartung. (Den abgedroschenen Spruch, dass die Zeit stehen blieb, verkneife ich mir.)

„Ich besuche keine Konzerte“, bemerkt mein Bekannter, dem ich daraufhin gedanklich das ´mein´ entziehe.

Nun fühle ich mich herausgefordert, ihm einen besonders plastischen Fall zu präsentieren:

„Du bist beim Zahnarzt und sitzt im Behandlungsstuhl; eine Wurzelbehandlung steht dir bevor. Der Zahnarzt nimmt die Spritze mit dem Betäubungsmittel zur Hand. Und da kommt er, dieser kurze zeitliche Abstand zwischen dem Eintauchen der Spritzennadel in die Mundhöhle und dem Einstich, der dir die Hände feucht werden lässt.“

„Ich habe Angst vor Spritzen, darum lasse ich mir keine geben“, höre ich ihn sagen. Ich bin nahe dran, den Mut zu verlieren.

Aber ich versuche es ein letztes Mal und bitte ihn, sich vorzustellen, wie er zu einem zarten Kuss ansetzt. Wer hat das nicht schon erlebt. Beide Lippenpaare nähern sich langsam an und kurz bevor sie sich berühren, halten sie für einen Moment inne. Verstehst du jetzt, was ich meine“, frage ich ihn.

Er schweigt eine Weile und sagt dann „Oh ja, ich kenne diesen Moment sehr wohl, denn er hält bei mir schon ein paar Jahre an.“

Auf meine erstaunte Nachfrage, was er damit meint, beginnt er zu erzählen:

„Vor ein paar Jahren hatte ich mich unsterblich verliebt. Es war eine laue Sommernacht und ich saß mit der Frau im Park auf einer Bank. Wir kannten uns erst ein paar Tage. Es kam genauso wie in deinem letzten Beispiel. Ganz langsam bewegten sich unser beider Lippen aufeinander zu und kurz vor dem Kuss stoppte die Annäherung. Wir verharrten so einige Zeit, dann zog meine Angebetete plötzlich ihren Kopf zurück, erhob sich und sagte mit erstickter Stimme ´Es tut mir so leid, aber ich kann nicht´. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, stand sie auf und lief davon. Seitdem befinde ich mich in diesem Stadium kurz vor der Vollendung eines Kusses.“

Als ich ihn frage, ob er denn diese Frau nicht wiedergesehen habe, schüttelt er nur den Kopf und sagt:

„Nein, ich würde das auch gar nicht mehr wollen. Ich kann ohne diesen immerwährenden Moment eines bevorstehenden Kusses nicht mehr sein. Verstehst du das?“

"Hast du denn keine andere Frau seitdem kennengelernt. Wünschst du dir nicht mal einen vollendeten Kuss von einer?", frage ich konsterniert nach.

"Ein erfüllter Wunsch ist eine Vollendung. Und wie du aus Erfahrung sicher weißt, mündet eine solche in den Schmerz der Erfüllung", erwidert er.

Darauf fällt mir nichts mehr ein. Irritiert von dem unerwarteten Verlauf des Gespräches winke ich den Kellner herbei.

„Willst du schon gehen?“, fragt mich mein Bekannter erstaunt.

Zwischen seiner Frage und meiner Antwort tut er sich wieder auf – jener ominöse Spalt. Da ich aber keine Lust habe, ihn zu schließen, verabschiede ich mich.

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Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

lietzensee

Mitglied
Hallo Schwalbenmann,
diesen Text finde ich klasse! Du hast ein Thema direkt aus dem Leben gegriffen, das die meisten übersehen hätten. Wegen solchen Texten lese ich gerne. Nur das Ende dehnt sich für meinen Geschmack etwas zu lang:

Als ich ihn frage, ob er denn diese Frau nicht wiedergesehen habe, schüttelt er nur den Kopf und sagt:
„Nein, ich würde das auch gar nicht mehr wollen. Ich kann ohne diesen immerwährenden Moment eines bevorstehenden Kusses nicht mehr sein. Verstehst du das?“
Das ist die Pointe, die überraschende Wende, auf die der Text hingearbeitet hat. Für mich wäre der Text am wirkungsvollsten, wenn er hier endete. Die Erklärungen die der Bekannte danach gibt, fügen ihr nicht viel Neues mehr hinzu und die Abschiedsszene lenkt von der eigentlichen Pointe sogar ab.

Noch ein paar Details:
schüttelt er nur den Kopf und sagt:
Da der bekannte nicht nur den Kopf schüttelt, sondern dazu auch redet, finde ich das "nur" hier unpassend.

Meiner Meinung nach verrät der Titel schon ein klein wenig zu viel von der Pointe. Ich würde etwas Mehrdeutigeres wählen, vielleicht "Die kurze Spanne Zeit" oder so ähnlich.

kennen“, fahre ich fort. Ich meine die Zeit,
Geht hier mit Ich meine die Zeit nicht die wörtliche Rede weiter? Dann fehlt da ein Anführungszeichen. Auch an anderen Stellen scheint mir die wörtliche Rede oft ungenau gekennzeichnet.

´Fertig´ bzw. ´Ready´
Das Ready finde ich hier überflüssig. Wenn diese Stelle wörtliche Rede ist, dann mag ich auch das bzw. nicht. Das ist ja eher Schrift-Sprache.

Viele Grüße
lietzensee
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Lietzensee,

zunächst möchte ich mir bei dir für den konstruktiven Beitrag bedanken. Was die Pointe betrifft, hast du ins Schwarze getroffen. Meine ursprüngliche Fassung endete nämlich tatsächlich nach dem Satz "Verstehst du das?". Du wirst das vielleicht kennen, dass man einen Text im Nachhinein verändert und ihn dadurch nur verschlimmbessert. Auch deinen anderen Hinweisen kann ich nichts entgegensetzen.

Viele Grüße
Robert, der Schwalbenmann
 



 
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