Der Vergessene

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Alessa

Mitglied
Der Vergessene


Aus dem Berg tritt Lenzo mit verlorenen Haaren,
schwacher Brust und blinden Augen aus.

Seine Furcht ist ein herrenloser hungriger Hund,
nur Kinder würden ihr flechtenreiches Kleid streicheln.
In den Maiglöckchen lassen seine knorrigen
nackten Füße Wunden fallen, die alle Blüten
in federlose Schwäne wandeln.

Im See singt der letzte Fisch seine Zunge weg,
die einst die Leere stillte. "Ob er noch ein Mädchen
zum heiraten finden wird", fragt er den Grafen.
Der zeigt seine Pracht, mit üppigen Fingern
auf den Berg, der umdreht und sich selbst umarmt.

Eine Tanne kniet vor ihm, sucht ihr Herz
in der klaffenden Erde, in die nun auch Lenzo weiter welkt.
 
O

orlando

Gast
Menno, Alessa,
du knallst uns aber (zunächst) Rätselhaftes vor die Füße. GroßArtiges!

Bei näherem Hinsehen entpuppt sich dein Gedicht als eine - sehr freie - Sonettvariation, vorwiegend Trochäen bzw. Jamben, mit kleinen Abweichungen. Du bleibst gleichsam der tradierten Form gewogen, kleidest sie aber ins Experimentelle.

Mir fallen die wunderbaren Bilder auf, die ich als ausgesprochen zutreffend gezeichnet empfinde (die Furcht als herrenloser Hund, das flechtenreiche Kleid, das Hineinwelken in die klaffende Erde).
Vielleicht überdenkenswert: "die üppigen Finger."

Lenzo, der schon (fast) vergessene Frühling, wankt aus seinem Refugium, angeschlagen, blutend. -
Die singenden Fische sind einer Märchenwelt entsprungen, ebenso wie der Berg des Vergessens. Sehr hübsch auch: die wörtliche Rede als Ehevermittlunganfrage. Natürlich durch einen Vertreter der adligen Oberschicht. :) Hier mischen sich, mit unaufdringlichem Humor, Fiktives und groschenromantisches Alltagsgeschehen. -
Doch wer wird den Abgehalfterten nehmen? Tja.
Ihm bleiben die Selbstumarmung und die Hoffnung, Herbst und Winter zu überdauern.

Ich beschäftige mich nun bereits 40 Minuten mit diesem Text und habe noch keine Sekunde bereut!

Für mich ein echtes Lupenleckerli
orlando

P.S. zum [blue]Heiraten[/blue]
 

Alessa

Mitglied
Der Vergessene


Aus dem Berg tritt Lenzo mit verlorenen Haaren,
schwacher Brust und blinden Augen aus.

Seine Furcht ist ein herrenloser hungriger Hund,
nur Kinder würden ihr flechtenreiches Kleid streicheln.
In den Maiglöckchen lassen seine knorrigen
nackten Füße Wunden fallen, die alle Blüten
in federlose Schwäne wandeln.

Im See singt der letzte Fisch seine Zunge weg,
die einst die Leere stillte. "Ob er noch ein Mädchen
zum Heiraten finden wird", fragt er den Grafen.
Der zeigt seine Pracht, mit üppigen Fingern
auf den Berg, der umdreht und sich selbst umarmt.

Eine Tanne kniet vor ihm, sucht ihr Herz
in der klaffenden Erde, in die nun auch Lenzo weiter welkt.
 

Alessa

Mitglied
Hallo orlando,

wow, was für eine Kritik. Dankeschön, auch für Deine lange Beschäftigung mit meinem Gedicht! Hat mich sehr gefreut.

üppig:
Schien mir metaphorisch, inhaltlich und alliteratorisch gesehen passend. :D

VG
Alessa
 
O

orlando

Gast
Hallo Alessa,
ich war schon wieder bei dir lesen. Das Gedicht fasziniert mich ungemein.
Auf einer zweiten Ebene kann Lenzo für einen Verlassenen stehen, für jemanden, der seine vermeintlich letzte Liebe erlebt hat. -
Die Sprache des Dichters, ein bewährtes Heilmittel, versagt in diesem Fall.
Hach, und dann beider Herzen, die in die Erde hineinwelken ...

Auf einer dritten Ebene könnte es um die Liebe zur Dichtkunst selber gehen.

Bewunderungswürdig.
 

Alessa

Mitglied
Dankeschön orlando.

ich hätt da noch eine vierte Ebene im Angebot. *g*

Ich hab richtig Freude daran, wie Dich mein Gedicht fasziniert. Schönes Gefühl.
 

Alessa

Mitglied
Hi nachts,

geht mir ebenso (Ich bin Lyrik- Dilettant) *lach*. Auch das mit dem anspringen und fesseln.

Danke, mein Text und ich haben uns über Deinen Kommentar gefreut.

Es grüßt
Alessa
 



 
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