Der Vorfall

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G. Neville

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Wie immer um diese sommerliche Jahreszeit herrschte reges Treiben in der Münchner Maximilianstraße zwischen Max-Joseph-Platz und dem Bayerischen Landtag. Die bekannte Einkaufsmeile die von Edeljuwelieren, Luxusboutiquen, Kunstgalerien und exklusiven Antiquitätenläden nur so strotzte vibrierte wieder einmal unter dem Ansturm der vielen Touristen aus aller Herren Länder. Die Eisverkäufer ließen ihre Kühlaggregate auf Hochtouren laufen und der rege Straßenverkehr gebärdete sich teilweise recht bockig. Nörgelndes Hupen, hektische Ausweichmanöver und eine unentwegt klingelnde Trambahn bestimmten das flirrende Straßenbild. Schneidige Fahrradkuriere mit gestählten Körpern schwirrten wie aggressive Mücken durch das alltägliche Verkehrsgewühl.

Im nahen Völkerkunde Museum gegenüber der Regierung von Oberbayern spazierten wissbegierige junge und alte Menschen staunend durch die hohen Räume. Ehrfürchtig und neugierig zugleich blickten sie auf die beeindruckenden Zeugnisse vergangener sowie gegenwärtiger Kulturen. Auf der großen Freitreppe der Bayerischen Staatsoper standen die Menschen dicht gedrängt in eleganter Abendgarderobe und tauschten in gemeinsamer Vorfreude auf einen schönen Theaterabend galant Höflichkeiten aus.

Vor dem Eingang zur öffentlichen Schatzkammer der Münchner Residenz sausten wie immer einige Jugendliche in äußerst waghalsiger Art und Weise auf ihren Skateboards hin und her. Und das obwohl diese Art des sportlichen Zeitvertreibs direkt vor dem Portal streng verboten war. Doch gerade das war natürlich der Reiz, den die jungen Kerle augenscheinlich sichtlich genossen. Denn in immer kürzer werdenden Abständen stürzte ein rotgesichtiger Aufsichtsbeamter aus dem Gebäude und schimpfte was das Zeug hielt. Allerdings zeigten diese Verscheuchungsaktion so gut wie keinerlei Wirkung bei den erhitzten Jungs. Im Gegenteil. Sie steigerten sogar noch ihre Aktivitäten. Als der Aufseher aber schließlich lautstark damit drohte die Polizei zu holen zogen es die Jugendlichen doch lieber vor das Feld zu räumen. Sie verlagerten ihre tollkühnen Aktionen aber lediglich in die Residenzstraße zum Leidwesen vieler Passanten, denn das schrecklich laute Aufschlagen der Rollbretter auf den Asphalt, hallte weiterhin Unruhe verbreitend über den gesamten Max-Josef-Platz.

Am Taxi Standplatz vor der alten Hauptpost erzählte eine offensichtlich leicht beschwipste ältere Dame einem jungen Taxifahrer gerade ihr ganzes Leben und das wahrscheinlich in allen Einzelheiten. Auf dem verkehrsberuhigten Platz, direkt vor dem prächtigen Orlando di Lasso Haus, verzehrten zufriedene Touristen die wohlschmeckenden Köstlichkeiten eines weltbekannten Münchner Sternekochs. In unmittelbarer Nähe zum Eingang des Hofbräuhauses verharrte ein bunt gekleideter Pantomime in weißen Stulpenstiefeln im professionellen Sich-Nicht-Bewegen.

Alles lief also in den üblichen Bahnen bis auf eine äußerst befremdlich wirkende Begebenheit die sich zur gleichen Zeit in der Münchner Frauenkirche ereignete. Dort kniete in der Eingangshalle eine völlig in Schwarz gekleidete Frau auf dem kalten Steinboden. Und während sie sich mit beiden Händen am Boden abstütze leckte sie an dem schwarzen Teufelstritt der sich bekanntlich seit Jahrhunderten am Boden der Münchner Frauenkirche befindet.

Denn der Legende nach hatte im frühen Mittelalter der Baumeister Jörg Ganghofer mit dem Teufel einen Pakt geschlossen, damit ihm dieser helfe, die Kirche zu bauen. Im Tausch zu der Hilfe sollte der Teufel die Seele der ersten Person bekommen, die die Kirche betritt. Als die Kirche fertig war und die Menschen in die Kirche strömten, wollte der Teufel seinen Lohn abholen. Als er zum Baumeister ging, sagte dieser allerdings, dass die geleistete Arbeit des Teufels schlecht sei, da er die Fenster in der Kirche vergessen habe. Und tatsächlich: Als er einen Blick in die Kirche warf, gab es in der ganzen Kirche kein einziges Fenster, was daran lag, dass er genau an dem Ort stand, wo alle Fenster von Säulen verdeckt werden. Vor Wut stampfte der Teufel fest auf und verließ wutschnaubend die Kirche. An dieser Stelle ist der Fußtritt des Teufels bis heute noch zu sehen.

Zurück zu unserer Geschichte: Die groteske Aktion der am Boden knienden und gleichzeitig innbrünstig betenden Frau verursachte naturgemäß großes Aufsehen. Ein Raunen ging durch die Frauenkirche. Ein Eklat! Doch schließlich eilte der Wächter des Doms herbei. Ein hoch gewachsener stattlicher Mann, mit einem hageren, asymmetrischen Gesicht. Erstaunt betrachtete er die bigotte Szenerie: „Ja, was soll denn das nun werden? Sie sind wohl verrückt geworden, so geht das aber nun wirklich nicht!"

Die seltsame Frau schien ihn jedoch gar nicht wahrzunehmen. Wie eine Besessene leckte sie weiter voller Innbrunst am Fußabdruck des Teufels. Im nächsten Moment jedoch packte der Wächter des Doms die Frau mit eisernem Griff am Arm und zog und zerrte diese offensichtlich verwirrte Person hinaus aus der geheiligten Stätte. Der äußerst ungewöhnliche Vorfall hatte jedoch für ihn darüber hinaus keine weitere Bedeutung. Dazu hatte er einfach schon zu viele Dienstjahre auf dem Buckel. Ein Benehmen hatten die Leute manchmal. Unglaublich!

Es dauerte aber nicht lange, dann ging wieder ein leises Raunen durch die Reihen der zahlreichen Kirchenbesucher. Die Frau, welche der Wächter gerade eben auf unsanfte Art und Weise hinausbefördert hatte, war doch tatsächlich wieder zurückgekehrt. Alle Blicke richteten sich erneut auf diese seltsame Person.

„Ja, sind sie jetzt schon wieder hier!" rief nun der Wächter des Doms mit mahnender Stimme. Die Alte würdigte ihn jedoch wiederum keines Blickes, sondern ging zielstrebig weiter in Richtung des großen Weihwasserbeckens. Dort angekommen holte sie einen großen, gusseisernen Schöpflöffel unter ihrem schwarzen Mantel hervor und tauchte ihn in das Weihwasser. Gierig trank sie daraus das geweihte Wasser, während gleichzeitig ihre blutunterlaufenen Augen aus dem Schädel hervorquollen, wie bei einem zu Tode erschrockenen Tintenfisch. Das Weihwasser schien ihr jedoch überhaupt nicht zu bekommen. Denn plötzlich zischte und dampfte es aus ihrem weit geöffneten Mund und beißender Schwefelgeruch verbreitete sich in Windeseile im gesamten Kirchenschiff.

Der Wächter des Doms packte nun die Frau erneut am Arm und gleichzeitig versuchte er den riesigen Schöpflöffel zu entreißen. Doch mit ungeahnter Kraft und einem gellenden Schrei riss sich die Frau los, woraufhin der Wächter entsetzt zurückwich und vor Schreck erstarrte. Denn das Gesicht dieser offensichtlich Besessenen verzerrte sich urplötzlich zu einer scheußlichen Fratze. Ihr Mund verformte sich zu einem runden orangeroten Loch. Als Nächstes stieß sie einen gewaltigen rot glühenden Feuerstrahl aus der dem eines Flammenwerfers nicht unähnlich war. Der infernalische Feuerstrahl traf den Wächter des Doms unvermittelt voll im Gesicht.

Seine Dienstmütze und sein dunkler Mantel fingen daraufhin sofort Feuer und brannten lichterloh. Schreiend und mit weit ausgebreiteten Armen lief er nun lodernd wie ein brennendes Kreuz durch das gesamte Kirchenschiff in Richtung Hochaltar.
Und der Dämon, welcher offensichtlich Besitz von dieser Frau ergriffen hatte, spie weiterhin mit Feuer um sich, gerade so, wie ein altertümlicher Feuerkünstler. Doch alsbald kam der Wächter des Doms wieder zurück. Diesmal aber in einer herrlich strahlenden Rüstung aus purem Gold die auch dem Erzengel Gabriel alle Ehre gemacht hätte. Seine rechte Hand umklammerte dabei ein gewaltiges Flammenschwert, dessen Griff mit funkelnden Edelsteinen verziert war.

Von der Empore herab erschallten Posaunen und Fanfaren der rituellen Bedeutung dieses einzigartigen Augenblickes angemessen. Im nächsten Moment stürzte sich der Wächter im goldenen Harnisch und mit blitzendem Schwert auf die elende Frevlerin, die es doch tatsächlich gewagt hatte, diese heilige Stätte zum wiederholten Male zu entweihen. Mit einem einzigen wuchtigen Hieb gegen ihre Körpermitte teilte er die Frau in zwei gleichmäßige Hälften aus denen jeweils glühendheißes, schwarzes Pech spritze.

Der unsäglich mephistophelische Inhalt der besessenen Frau ergoss sich nun zähflüssig über dem marmornen Fußboden. Widerliche Miasmen breiteten sich daraufhin in Windeseile im gesamten Kirchenschiff aus.. Entsetzte Kirchenbesucher wichen zurück und hielten sich die Nasen zu. Schließlich öffnete der Wächter des Doms langsam das mit Juwelen und Smaragden bewehrte Visier seines goldenen Helms worauf eine Unzahl schneeweißer Rosenblüten, eingehüllt in waberndem Nebel aus dem Inneren des Prunkhelms flatterten, um anschließend Schmetterlingen gleich im Raum umherzuflattern. Bald darauf war der gesamte steinerne Boden der Münchner Frauenkirche mit schneeweißen Rosenblüten übersät. Zudem setzte nun plötzlich der bombastische Klang einer gewaltigen Orgelmaschinerie ein.

Im selben Moment öffneten sich wie von Geisterhand die schweren Flügeltüren des Doms. Gleichzeitig erklangen Posaunen im Einklang mit schmetternden Fanfaren. Eine prächtig herausgeputzte Prozession in deren Mitte sich der Erzbischof von München und Freising befand hielt nun Einzug in die Frauenkirche. Und der in eine scharlachrote Soutane gekleidete Boss dieser klerikalen Schauspieltruppe mit Mitra und Hirtenstab bewaffnet und umgeben von anderen Würdenträgern winkte huldvoll lächelnd dem Publikum zu. Aus einer kleinen Luke irgendwo hoch oben im Gewölbe des Kirchenschiff flatterte eine Schar weißer Tauben hinauf in den sonnigen, weißblauen Himmel, während der Wächter des Doms im Inneren seiner goldenen Rüstung langsam aber stetig zu Staub zerfiel.
 
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