Der Wahrheitsbaum

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

poetix

Mitglied
Der Wahrheitsbaum


In seinem Walde steht der Wahrheitsbaum,
umgeben rings von Buchen, Tannen, Eichen.
Nach Wahrheit gräbt er tief in Erdenreichen,
nach oben reckt er sich und schafft sich Raum.

Der Boden, nein, enthält die Wahrheit kaum,
der Baum kann seine Ziele nicht erreichen.
Zwar trifft er Schemen, die der Wahrheit gleichen,
doch reine Wahrheit bleibt für ihn ein Traum.

Vergeblich will der Baum die Sonne greifen,
er lässt, was er für wahr hält, fruchtig reifen.
Zur Sonne wachsen diese Früchte nicht.

Die Blätter fangen an, weithin zu schweifen
und segeln langsam ihre großen Schleifen.
Die Sonne taucht den Baum in goldnes Licht.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ein nachdenkenswertes, bedenkliches Bild. Paßgenau, gewissermaßen ohne Luftblasen, in Sonettstrophen gegossen.
Früchte der Erkenntnis wie in Genesis 3, zwar aus der Erde genährt, aber unzulänglich; nicht so wie in Trakls "Baum der Gnaden aus der Erde kühlem Saft". Sehr bedenkenswerter Dreiklang von Erde (wohl metaphorisch für die "irdische" Sinnen- und Erfahrungswelt), Sonnenlicht oben und dem Früchte bildenden Baum zwischen diesen beiden Welten. Ein Baum der Eigenheit, der Individualität, scheint mir.
 

poetix

Mitglied
Hallo Mondnein,
besten Dank für den Kommentar und den Hinweis auf den Baum der Erkenntnis und Trakls Baum der Gnaden sowie den Dreiklang Erde - Sonne- Baum. Ja, die Erde steht für unsere Lebenswelt, auch für das indische Maya, die Scheinwelt, in der wir nach Wahrheit suchen, sie aber nicht finden. Gibt es überhaupt eine absolute Wahrheit? Kierkegaard sagt nein. Trotzdem gibt es die Gnade, das Sonnenlicht. Wir versuchen, sie zu verdienen, unser Leben lang, und bringen Früchte hervor. Zum "Verdienen" der Gnade reicht das leider meist nicht aus, aber wir können sie geschenkt bekommen. So ungefähr sehe ich das, aber glücklicherweise lässt das Gedicht auch einiges offen.
Viele Grüße
poetix
 
O

orlando

Gast
Was soll ich nach einem so mond-wunderbaren Kommentar noch hinzufügen? Allenfalls:
Gut gemacht, mein Lieber!
Ein feines Sonett; in meinen Augen dein bisher bestes Gedicht.
Grüßle
orlando
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo poetix,
da bin ich jetzt aber auch ganz angetan von deinen Zeilen! Keine Überladenheit, weder Überschwänglichkeit noch Weinerlichkeit, das fließt still und schön, das endet dezent und lautlos.

lg wüstenrose
 

poetix

Mitglied
Hallo Orlando,
danke für deinen lobenden Kommentar. Wie du dir denken kannst, hat mir das sehr gutgetan.
Viele Grüße
Christoph
 

poetix

Mitglied
Hallo wüstenrose,
auch dir besten Dank für dein Lob. Es ist schön, bestätigt zu werden.
Viele Grüße
poetix
 



 
Oben Unten