Der Wanderer

Der Wanderer

von Enrico Schreiber

Die fahle Scheibe des Mondes war sein Begleiter. Die Bäume und Häuser warfen lange Schatten. Die kahlen Äste der Bäume bewegten sich im kalten Wind. Kleine graue Wolken schossen am Himmel entlang. Er schritt langsam durch den knöcheltiefen Schnee. Obwohl er seinen Atem sah, so verspürte er dennoch keine Kälte. Er ging nur seinem Ziel entgegen, von dem er nicht wußte, wo es lag. Er würde es wissen, wenn es so weit war. Dieses Wissen hielt ihn in Bewegung. Nur allein dieses Wissen zwang ihn immer weiter. Weiter voran. Er schaute weder nach links, noch nach rechts. Sein Blick war nach vorn gerichtet. Immer weiter voran. Er wußte nicht mehr woher er kam, wo er seinen einsamen Marsch durch die Nacht begann. Er wußte genauso wenig wie lange er bereits unterwegs war. Er wußte nur eins. Er mußte weiter. Weiter voran. Die Straßen, die er durch streifte, waren leer und verlassen. Die Menschen fürchteten die Dunkelheit und Kälte der Nacht. Der einsame Wanderer kannte die Furcht. Sie war sein ständiger Verfolger. Raubtiergleich war sie hinter ihm her. Er hatte gelernt die Furcht zu ignorieren. Er hatte keine Zeit Furcht zu empfinden. Er mußte weiter. Weiter voran. Der Wind heulte auf und trieb ihm eine Woge Schneekristalle entgegen. Wie kleine spitze Nadeln bohrten diese sich in die Haut seines Gesichtes. Böe um Böe schlugen über ihm zusammen. Er ertrug es ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Er trotzte dem Sturm. Der Sturm kannte kein Mitleid. Hatte es nie gekannt. Der Sturm türmte mannshohe Schneewehen auf. Dennoch blieb der Wanderer im gleichen Tempo. Unbeirrt kämpfte er sich durch die Wehen. Er schöpfte Kräfte aus ihm selbst unbekannten Quellen. In all diesen Turbulenzen war es unerklärlicherweise für einen kurzen Moment absolut windstill. In dieser Zeit baute sich vor dem Wanderer eine Schneeflockenwand auf, welche so dicht war, das sie sogar das Licht des Mondes erschlang. Dann brach der Sturm ein letztes Mal mit voller Wucht über ihn herein. Er zerrte an seinen Kleidern, jagte Eiskristalle in seine Haut. Doch er schaffte es nicht ihn zum Anhalten zu bringen. Im lauten Tosen des Sturms glaubte der Wanderer eine Stimme zu hören, die ihn anflehte doch endlich aufzugeben. Doch dazu war es schon lange zu spät. Er konnte nicht mehr aufgeben. Er mußte weiter. Weiter voran. Schließlich ließ der Sturm nach. Der Wanderer war glücklich. Er hatte es geschafft zu widerstehen. Er schritt weiter durch die Nacht und der Mond war sein Begleiter. Er ließ die Häuser der Stadt hinter sich. Der eiskalte Wind war eingeschlafen. Er würde wiederkommen, das wußte der Wanderer genau. Erleichtert und völlig frei schritt er durch die verschneite Landschaft. Nicht er lenkte seinen Schritt, als am fernen Horizont ein Silberstreif erschien. Er spürte, sein Ziel war nah. Bald würde er für all seine Müh belohnt werden. Der Silberstreifen wurde breiter und es mischte sich ein zartes Rot mit hinein. Die fahle Scheibe des Mondes verabschiedete sich von seinem Begleiter und verschwand. Majestätisch in glänzendem Goldrot ging langsam die Sonne auf. Der Wanderer schaute völlig verzaubert von der Schönheit diesem Spektakel zu. Das zarte Morgenlicht ließ alles um ihn herum glitzern. Ein zauberhaftes Farbenspiel. Unterdessen trugen ihn seine Füße immer weiter. Weiter voran.
 



 
Oben Unten