Der Wassertropfen - Ein Märchen

XRay

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Ein Wassertropfen trieb im tiefen Meer.
Fragt nicht wie alt er war, niemand weiß, wie alt Wasser ist. Hätte man ihn selbst gefragt, dann hätte er, wie alle Wassertropfen, gesagt: ungefähr 50. Sie erinnern sich nämlich nur an die letzten 50 Jahre ihres Lebens.
Aber einen Namen, oder besser gesagt, eine Bezeichnung, hatte er, wie jeder andere auch. Sonst würde man sie verwechseln, da alle mehr oder weniger gleich aussehen. Unser Wassertropfen also hiess WT-XYZ 23, d.h. er war Nr. 23 in der Meeresregion XYZ.
30 Jahre, bevor diese Geschichte beginnt, war er durch einen Wirbel plötzlich aus der Region XYZ tief unten im Meer hinaufgezogen worden nach AAA, ganz an der Oberfläche, und dort hatte er zum ersten Mal in seinem Leben das Licht der Sonne gesehen. Es war wie ein Wunder für ihn, denn sein Leben war bisher sehr eintönig verlaufen. Abwechslung hatte es nur selten gegeben, z.B. wenn er von einem Fisch verschluckt wurde, der ihn dann nach kurzer Zeit durch die Kiemen wieder hinauswedelte. Er war aber nur kurz dort oben geblieben, denn der gleiche Wirbel hatte ihn rasch wieder in die Tiefe gezogen, allerdings nicht an seinen alten Platz in XYZ, sondern nach XYY, was gleich neben XYZ liegt.
Die einheimischen Tropfen begegneten ihm misstrauisch, und als er erzählte, was er erlebt hatte, glaubten sie ihm nicht und machten sich lustig über ihn. Man kann sich vorstellen, dass unser Held sich in der neuen Umgebung sehr einsam fühlte, und er wurde trübsinnig. Im Herzen trug er die große Sehnsucht, noch einmal die Sonne zu sehen. Hinauf zu kommen, noch einmal in ihren warmen Strahlen zu baden, das wünschte er sich so sehr.
Aber wie sollte das gelingen?
Aus eigener Kraft konnte er aus der dunklen Tiefe nicht nach oben gelangen. Auf einen neuen Wirbel zu warten war sehr unsicher, das war ja bisher nur einmal in 30 Jahren passiert, und der Sog würde ihn wahrscheinlich sofort wieder hinunter ziehen, womöglich in eine noch feindlichere Gegend als diese hier.
Aber schließlich sah er doch eine Möglichkeit. Er hatte beobachtet, das es hier viel mehr Heringe gab als in XYZ. Sie wurden manchmal aus ihm unbekannten Gründen nach oben gerissen und kamen nie zurück. Und oben war die Sonne! Warum sich also nicht einfach an den Kiemen eines Herings festklammern und den Fisch als Fahrstuhl benutzen? Wenn er Glück hatte käme er hinauf, auf jeden Fall aber weg von hier, wo er sich gar nicht wohl fühlte.
Nach einiger Übung entwickelte er eine erstaunliche Fertigkeit, sich wie mit einem Saugnapf an einem Fischkörper anzudocken.
Und eines Tages ging es dann wirklich in rascher Fahrt nach oben! Er hatte große Mühe sich fest zu klammern, aber dann sah er sie wieder, die hellen warmen Strahlen der Sonne.
Kurz darauf zappelte sein Hering heftig auf dem hölzernen Deck eines Bootes und schrie verzweifelt nach Wasser. Ein Mann packte ihn, warf ihn zu den anderen Fischen in dem großen Netz zurück und sagte: „Ein Prachtkerl! Der wird gut schmecken.”
Das Glück, die Sonne wieder zu sehen, wurde für den Tropfen durch das Leid des Fisches getrübt und als er sah, wie alle Fische im Netz nach und nach starben wurde er sehr traurig.
Während er noch darüber nachdachte verlor er plötzlich die Besinnung. Die letzte heftige Zuckung des Herings hatte ihn auf eine warme Planke geschleudert wo er verdampfte.
Als er wieder zu sich kam, merkte er sofort, dass eine Veränderung stattgefunden hatte. Es war hell und sehr kalt, viel kälter noch als in der Tiefe des Meeres, und die Strömung war viel heftiger als dort unten. Sein Körper war hart geworden, und alle seine Nachbarn waren weiße Kugeln wie er selbst.
Auf sein Fragen erfuhr er, dass er jetzt ein Hagelkorn sei und so lange in der Wolke bleiben müsse, bis ein Blitz sie alle aus diesem Gefängnis befreie. Die Geschichten, welche die Leute um ihn herum sich zum Zeitvertreib erzählten, waren spannend und klangen wie Märchen, und er vergass beim Zuhören sogar die eisige Kälte, in der sie alle zitterten.
Hinter ihm stand ein krummer Alter mit einem dickem Bauch. Er hatte zu einem Eiszapfen gehört, der lange Zeit auf einem hohen Berg gelegen hatte, bis er eines Tages unter dem Schuh eines Wanderers zu Schnee zerbrach. In Im Profil der Sohle wurde er ins Tal getragen, war an einem Herdfeuer geschmolzen und schließlich bewusstlos geworden. Wie er hierher gekommen war wusste er nicht, es gefiel ihm aber, da das Leben hier ähnlich war wie früher auf dem Berg.
Ein zierliches Fräulein berichtete von riesigen grünen Blättern in einem heißen Wald. Dort hatten alle Wassertropfen das Aufgehen der Sonne gefürchtet, da es ihren sicheren Tod bedeutete. In der Nacht wurden sie zwar wieder lebendig und wetteiferten, wer am schönsten im Mondlicht glitzerte, aber die Angst vor dem Sterben am Morgen trübte ihre Lebensfreude doch sehr.
Ein geschwätziger Zwerg behauptete, aus einem Eisland im Norden zu kommen. Er sei aus einer heißen Quelle im Inneren der Erde tausendmal am Tag in die Luft gesprungen und wieder zurück gefallen, bis ein Windstoß ihn mit der Gischt in den Bart eines Mannes geweht hatte, der gerade am Rand des Felsspaltes stand. Dann sei er wohl eingeschlafen und als er hier wieder aufwachte, habe er zuerst geglaubt, er träume.
Die Erzählungen von Reisen durch Bäume und Blumen, die einige Hagel gemacht hatten, gefielen unserem Wassertropfen am besten. Die Pflanzen, so sagten sie, freuten sich über jeden Wassertropfen, und blühten aus Dankbarkeit in den schönsten Farben. Diese Reise selbst zu machen wurde die neue Sehnsucht seines Lebens.
Plötzlich wirbelte ein rauer Wind die Hagelkörner durcheinander. Blitze fuhren durch die Wolke und alle begannen in rasender Geschwindigkeit zur Erde zu fallen. WT-XYZ-23 schlug auf der Terrasse eines Hauses in der Nähe der Berge auf. Er war noch kaum bei Besinnung, als er schon mit anderen Hagelkörnern von einer Kinderhand ergriffen wurde, die sie zu einem Ball zusammenbackte und in ein Glas legte. Er merkte, dass er weicher wurde und hoffte sehr, dass seine Zeit im Eis zu Ende war.
Seine Hoffnung trog. Der kleine Junge - er hieß Hans wie alle kleinen Jungen in einem Märchen - brachte das Glas ins Haus und stellte es in einen weißen Kasten, in dem es fast so kalt war wie in der Wolke, aus der sie gekommen waren. Das wohlige Gefühl der Auflösung verschwand und unser Wassertropfen und seine Genossen wurden bald wieder hart und weiss.
In der neuen Umgebung sah er Dinge, die er bisher noch nie gesehen hatte. Es gab in der Gruppe einige, die wussten, um was es sich handelte. Sie erzählten, dass die Menschen diese Dinge aßen und tranken. Warum sie das taten wussten sie aber nicht, denn Wassertropfen essen und trinken nicht.
Als er unter dem halb geöffneten Deckel einer Blechdose den Kopf eines Fisches sah wäre wohl vor Schreck erstarrt, wenn er nicht schon hart gefroren gewesen wäre: das war doch der Hering, der ihn aus der Tiefe zur Sonne getragen hatte! Die Erinnerung daran und an den Tod des armen Herings machte ihn glücklich und traurig zugleich, aber mehr traurig als glücklich.
Am Abend nahm Hans eine Flasche Limonade aus dem Kühlschrank, vergass aber in der Eile, die Tür zu schliessen. Die Familie spielte Karten, und er wollte schnell zurück in die Stube, um nichts zu verpassen.
In der Küche lag der rote Kater unter der Heizung und döste, als ihm der Duft von Fisch in die Nase kam. Den mochte er für sein Leben gern. Er merkte schnell, dass der Duft vom Kühlschrank her kam, streckte sich, gähnte ausgiebig und schlich dann dorthin. Er sprang auf die Spüle neben dem Kühlschrank, die etwas weiter in den Raum hinein ragte und öffnete mit seinen Pfoten die Tür. Den Hering in der Blechdose packte er und zog ihn vorsichtig heraus, bis er auf den Boden fiel, wo er ihn mit Haut und Haaren fraß - falls ein Hering Haare hat, was ich nicht genau weiß. Der schmeckte wirklich gut, wie der Fischer auf dem Boot gesagt hatte, als er ihn ins Netz zurückwarf. Im Kühlschrank aber wurde es warm, der Schnee im Glas wurde weicher, und schmolz wieder zu Wasser.
Hans war am nächsten Morgen schon früh aufgestanden, um nach seinen Hagelkörnern zu schauen. Er war sehr enttäuscht, als nur noch Wasser im Glas war. Das schüttete aber nicht in den Ausguss - es war ja „sein“ Hagelwasser - sondern nahm das Glas und stellte es in seinem Zimmer auf die Fensterbank. Dann lief er in den Garten hinunter, pflückte ein Gänseblümchen und stellte es ins Glas.
Die Blume begann sofort, das Wasser in ihrem Stängel in den Blütenkopf zu ziehen, und unser WZ-XYZ-23 machte auf diese Weise auch noch die Reise, von der er in der Eiswolke geträumt hatte. Als er voller Freude im Blütenkelch ankam war er überrascht, dass die Blume den Kopf hängen ließ. In der Wolke hatten sie doch immer erzählt, wie sehr sich die Pflanzen über jeden Tropfen Wasser freuen!
„Warum bist du unglücklich?”, fragte er die Blume, „ich dachte immer, dass wir Wassertropfen für die Blumen das sind, was für die Menschen das Blut ist?”
„Wasser allein reicht uns zum Leben nicht”, antwortete die Blume matt, „Licht und Salz sind genauso wichtig wie Wasser. Licht habe ich hier genug, aber dem Wasser im Glas fehlt das Salz. Und deshalb werde ich bald sterben.”
Das konnte unser Held überhaupt nicht verstehen, wie konnte das sein? Im Wasser des Meeres war doch so viel Salz gewesen, dass die Menschen es nicht trinken konnten! Und auch er selbst war immer voll davon gewesen wie alle anderen dort unten. Wo war sein Salz geblieben? Er musste es verloren haben, aber wo? Konnte es sein, dass es auf dem Fischerboot geblieben war, als er verdampfte? Er wusste es nicht.
„Das Leben ist seltsam”, dachte er, „kaum hat man erreicht, was man sich lange ersehnt hat, so zeigt sich, dass man etwas Wertvolles verloren hat. Und oft gerade das, was man früher im Überfluss hatte. Wie viel Salz hatte ich nicht im Meer, ohne zu wissen, wozu es nützlich sein könnte. Und jetzt würde ein wenig davon dieser Blume das Leben retten”.
Im Schein der Sonne wurde er müde und schlief ein.
 
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