Der Weg zur Großmutter

Rudolph

Mitglied
Der Weg zur Großmutter

Wir sind im zweiten Stock zu Hause, meine Mutter und ich. Einen Vater hab’ ich auch, aber der ist nie da. Er fährt mit dem Bus bei den Amis mit Soldaten. Einmal hab’ ich mitfahren dürfen. Erst sind wir in einer Kaserne gewesen, drei Stockwerke hoch, lange Gänge, und am Ende eines jeden Ganges gab ’s eine Stange zum drunter liegenden Stockwerk, damit die Soldaten beim Alarm nicht über die Stiegen laufen müssen – soll ’s auch bei der Feuerwehr geben. Ich hab’ leider nicht hinunterrutschen dürfen. Wir sind auch in der Kantine gewesen. Alle haben ein braunes Getränk getrunken aus kleinen Glasflaschen. Die leeren Flaschen haben sie weggeworfen. Ich hab’ wissen wollen, warum sie die Flaschen nicht aufheben. "Macht nix, haben viel.", haben sie darauf gesagt. Aber das erzähle ich alles später einmal.
Ich bin also so gut wie immer allein mit meiner Mutter. Im Haus wohnen noch ein paar andere Leute. Im Erdgeschoss gibt es eine Schneiderin, die nur selten zu Hause schneidert, weil ihr Mann in seinem Beruf viel verdient. Die hat ein Kind, den Wolferl, von einem anderen Mann. Der Wolferl ist ungefähr so alt wie ich, aber nicht so gescheit, wie meine Mutter behauptet. Eine Hausmeisterin gibt es auch, aber mit der sprechen wir nicht. Mit der Nachbarin auch nicht, denn das ist eine ‚alte Hex’, wie meine Mutter sagt. Außerdem ist ihr Mann irgendwas bei den Nazis gewesen. Meine Mutter ist viel zu Hause. Es gibt ja jede Menge Hausarbeit zu erledigen. Ich helfe ihr natürlich bei allem. Am Waschtag müssen wir die Wäsche in den Keller tragen, einen großen Kessel anheizen, und die Wäsche drinnen kochen, dann im Waschtrog mit der Rumpel bearbeiten und mit der Hand auswinden. Aufgehängt wird sie dann am Dachboden oder, wenn das Wetter schön ist, im Hof. Fort geht meine Mutter mit mir nur zum Einkaufen auf den Markt oder wenn wir zur Grußmutter gehen.
Die Großmutter ist im gleichen Bezirk daheim, in einem Gemeindebau. Die Wohnung hat sie bekommen, weil der Großvater bei der Gewerkschaft ist. Dort hält er sich übrigens meistens auf, weil ich ihn selten zu Gesicht bekomme. Wenn ich bei der Großmutter schlafe, kommt er oft erst mitten in der Nacht heim von einer Sitzung, von wo er dann meistens auch einen Rausch mitbringt.
Von uns daheim zur Großmutter sind wir ungefähr eine halbe Stunde unterwegs. Wenn wir aus der Hauseinfahrt rauskommen, müssen wir nach links gehen bis zur nächsten Quergasse. Es gibt ja dort nur die eine, denn in unserer Gasse stehen nur zwei Zinshäuser und gegenüber die Volksschule, was später dann für mich recht praktisch sein wird. Die Quergasse gehen wir dann runter. Bei der nächsten Kreuzung ist auch die schon wieder zu Ende und wir biegen nach rechts in die Märzstraße ein. Die ist zwar nach dem Monat März benannt, soll aber angeblich an eine Revolution erinnern. Dann ist es einfach. Wir müssen immer nur geradeaus gehen. Bei der ersten Quergasse heißt es aufpassen. Nicht weil dort viel Verkehr wäre, sondern weil dort eine Straßenbahn fährt. Die Märzstraße ist eine ungewöhnlich breite Straße. Auf unserer Seite gibt es zwischen dem Gehsteig und der Fahrbahn noch einen Streifen, auf dem früher vielleicht einmal Gras gewachsen ist oder Alleebäume gestanden haben. Der Boden besteht aus Erde, Sand, Steinen und irgendwelchen festgetretenen Abfällen. Hundehauferln gibt es keine, weil niemand in der Stadt einen Hund hat. Von diesem Streifen bin ich fasziniert. Ich bin fest davon überzeugt, dort einmal etwas Wertvolleres zu finden als die tote Ratte letztes Mal. Meine Mutter hat ihre liebe Not mit mir. Sie ist der Meinung, dass sie mich unbedingt an der Hand führen müsse. Gehe ich an ihrer linken Seite, ziehe ich sie immer ganz weit nach links hinüber, um nur ja nichts zu übersehen. Habe ich etwas entdeckt, das ich mir näher ansehen will, bleibe ich einfach stehen und lasse mich nicht weiterziehen. Meine Mutter ist zwar die Stärkere, ich kann dafür aber brüllen. Dann gibt sie meistens nach. Mich an ihrer rechten Seite zu führen, hat sie aufgegeben, nachdem ich mich so aufgeführt habe, dass die Leute beim Fenster rausgesehen haben.
Meistens geht meine Mutter nicht mit mir allein zur Großmutter sondern mit einer anderen Frau. Zur Verwandtschaft gehört sie nicht. Worüber sie reden, weiß ich nicht, weil ich nicht zuhöre. Außerdem interessiere ich mich viel mehr für den Streifen zwischen Gehsteig und Fahrbahn. Etwa auf halbem Weg zur Großmutter liegt dort ein festgetretener grüner Glasscherben. Es könnte der Boden einer zerbrochenen Bierflasche sein. Als ich den Gegenstand das erste Mal entdeckt hab’, war ich davon so fasziniert, dass ich nicht weitergegangen bin. Meine Mutter hat mich wegziehen wollen, ich bin aber wie angewurzelt stehen geblieben, als ginge von diesem Gegenstand eine magische Kraft aus. Ihr ist dann die Geduld gerissen und sie hat mich losgelassen und ist einfach weiter gegangen und hat sich mit der anderen Frau unterhalten. Als sie sich aber immer weiter entfernt hat, hab’ ich es mit der Angst bekommen. Ich hab’ ihr nachlaufen wollen, aber meine Beine sind schwer wie Blei gewesen. Ich hab’ mich immer wieder zur Scherbe umdrehen müssen. Irgendwie hab’ ich es dann doch geschafft, meiner Mutter nachzukommen.
Jedes Mal, wenn wir jetzt zur Großmutter gehen, sehe ich die Glasscherbe schon von weitem. Von einer magischen Kraft angezogen, steuere ich darauf zu, auch wenn ich mich krampfhaft bemühe, nicht hin zu sehen. Meine Mutter verhält sich immer so wie beim ersten Mal - sie geht einfach weiter und wartet nicht auf mich, auch wenn ich verzweifelt rufe, sie möge doch warten. Nur unter größter Anstrengung schaffe ich es, sie wieder einzuholen.
Immer wenn es jetzt heißt, wir gehen zur Großmutter, muss ich bereits an die Glasscherbe denken. Ich hoffe, dass sie nicht mehr dort liegt, weiß aber ganz genau, dass sie immer noch da ist. In letzter Zeit hat sich zu meinen Albträumen ein neuer gesellt. Ich träume vom Weg zur Großmutter. Eines ist im Traum aber besser als in der Wirklichkeit. Genau dann, wenn ich wie angewurzelt bei der Scherbe stehe und ich meine, meine Mutter nie mehr einholen zu können, wache ich auf.
Ich weiß, dass auch das einmal vorübergehen wird, wie meine Angst vor dem Mond, dem Höhlenbärengerippe im Museum, dem ausgestopften Kopf vom Auerhahn und dem Rehkrickerl, das im Vorzimmer von der Großmutter hängt. Vielleicht gehe ich dann auch einmal alleine zur Großmutter, wenn ich darf.
 
A

aligaga

Gast
Hallo @Rudolph,

du hast sicher die Gebrauchsanweisung für dieses Forum aufmerksam durchgelesen, bevor du dich registrieren hast lassen und damit anfingst, deine G’schichterln einzustellen.

Bitte sei doch so gut und betrachte diese community nicht als Ort der bloßen Selbstdarstellung, sondern nimm Teil am großen Ganzen. Wir leben davon, dass wir uns gegenseitig wertschätzen, ggf. auch kritisieren. Das heißt, dass auch du hin und wieder die Arbeiten anderer zur Kenntnis nehmen und ihnen ggf. auf die Sprünge helfen solltest. Dafür, dass dabei die Spielregeln eingehalten werden, sorgt eine Moderation.

Wer registriert ist, sollte mittun. Ich bin sicher, du könntest manchen wertvollen Beitrag leisten.

Gruß

aligaga
 

Rudolph

Mitglied
Hallo, aligaga,

ich lese durchaus auch die Werke anderer und versuche zu helfen, wenn ich den Eindruck habe, die entsprechende Kompetenz dazu zu besitzen. Das habe ich auch bereits getan. Siehe meinen Beitrag zu Ann-Britts Kriminalgeschichte. Weitere Beiträge in diese Richtung folgen sicher noch. Ich wollte da nicht gleich mit zu vielen Beiträgen vorpreschen. Wie weit steht es einen Neuen zu, gleich andere zu kritisieren? Ich habe zunächst vier eigene "Werke" eingestellt und warte auf Kritiken. Damit ist jetzt ohnehin erst einmal Schluss.

MfG

Rudolph
 
A

aligaga

Gast
Ganz einfach: Du kannst immer kritisieren und mit Autoren in den Dialog treten, auch wenn du gar keine eigenen Werke einstellst. Wo ist da das Problem? Legitimiert hast du dich durch deinen Eingangstext, der dir die Zulassung brachte.

Gruß

aligaga
 

van Geoffrey

Mitglied
Bunte Bilder

Schöner, subjektiver Erzählstil aus der Sicht eines Kindes, wobei du offensichtlich auch den Erzählstil eines Kindes imitierst.
An vielen Stellen mußte ich an eigenes Erlebtes denken.
Etwa, dass ich von den Erwachsenengesprächen als kleines Kind rein gar nichts verstand.
Ja, Dinge wie grüne Glasscherben konnten eine unglaubliche Attraktivität auf uns Kinder ausüben.
Wir erfanden auch fantasievolle Geschichten über alltägliche Gegenstände. Ein Ziegelsplitter, den man aus dem Boden ausgrub wurde einfach als "Gold" bezeichnet.

Den Schluß finde ich besonders gut:

"Ich weiß, dass auch das einmal vorübergehen wird, wie meine Angst vor dem Mond, dem Höhlenbärengerippe im Museum, dem ausgestopften Kopf vom Auerhahn und dem Rehkrickerl, das im Vorzimmer von der Großmutter hängt. Vielleicht gehe ich dann auch einmal alleine zur Großmutter, wenn ich darf."

Auch der Grünstreifen in der Märzstrasse, und warum du meistens links von Mama gegangen bis, ist ein Schmunzeln wert, weil es einen Blick in die Kinderwelt erlaubt.

Weiter so. Du wirst dich selber korrigieren, je mehr du schreibst.
Ich finde an deinem Text keine Schwachstellen. Bunte, schöne Bilder aus der Kinderperspektive, die Erinnerungen wachrufen.

LG
 



 
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