Der Weltenwechsler

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler


Für Charles Fuchs war es der ideale Zeitpunkt, um in eine andere Welt zu wechseln.
Mit einem Strick.
Die Luft dieser Nacht war warm. Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von weißem und blauem Flieder wehte in Schüben zu ihm herauf.
Die Dachterrasse war nicht besonders groß. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg wie die Loungemusik die irgendwo von einem Penthaus herüber plätscherte. Das alte Haus schlief. Manche der Nachbarn unter ihnen, hielten ihre Sonnenmarkisen über den Balkonen wie Segel gehisst, weil auch für Morgen ein weiterer wolkenfreier Maientag gemeldet war. Der Vollmond ersparte jede Beleuchtung und außerdem war das Licht, wegen Reparaturarbeiten bis zum Morgen abgestellt. Der Schein von Haushaltskerzen und der des Mondes gaben der Szene die Traurigkeit, die sie verdiente.

Charles trank einen Schluck Wein, schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden, denn die war für ihn nicht erträglich. Er zwang sich, trotz der realen Katastrophe, klare Gedanken zu fassen. Wobei er es vermied, sich an das Jugendstil-Eisengeländer, das den Dachbereich umgab, zu lehnen. Es war durchgerostet. Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Ein Schritt nach vorn und es wäre schnell vorbei gewesen und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom billigen Blanc de Blanc und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die Wohnung. Sie war leer. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines toten Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines fünfzigjährigen, alten Mannes. Ausgemergelt und krank. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurück blieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen…, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur ein Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Sein Morgenmantel kratzte auf der Haut. Isabelle war nicht der Typ Frau, der den Weichspüler vergaß. Das war eine ihrer Methoden ihm zu sagen, dass es ihr scheißegal war, wie er sich fühlte.
Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das? Sie bestimmte die Dinge und es gab auch keinen Zweifel daran, dass er, als sie sich kennen lernten, ein kleiner Staubsaugervertreter war, der von Tür zu Tür gehen musste um sein Sprüchlein aufzusagen und schließlich, wegen seiner Verkauftricks eine Vorstrafe wegen Betrugs kassierte.
Gott sei Dank, ohne ins Gefängnis zu müssen. Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga. Doch ihm war bewusst, dass er seine Persönlichkeit in aller Zukunft vergessen konnte, sofern so etwas je, zusammengefaltet, tief unten in seinem Unbewussten existierte. Er hatte sich verkauft. Nur war ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war. "Leg das sofort wieder hin und nimm etwas anständiges", schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen. Doch für den Rest des Abends war keiner mehr dazu aufgelegt, mit Charles auch nur eine Silbe zu reden.
Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Gerade als er einen Schluck nehmen wollte stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. "Das wirst du nicht tun, mein Lieber!" schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
"Aber Isabelle? Was soll das?"
"Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken, mein Lieber. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht."
Damals war er schnell unter einem Vorwand von der Partie verschwunden. Doch vergessen würde er ihr es für den Rest seines Lebens nicht. Heute sollte sie erkennen, was sie von ihrer dummen Art hatte, Menschen, vor aller Welt zu erniedrigen. Heute war der Tag an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Die Welt in die er wechseln wollte würde frei sein von allen Zwängen. Einfach frei.
Ohne Erinnerung an seine Firma, für die er letzte Woche Konkurs anmelden musste. Eine gut gehende Firma, die durch die Finanzkrise dieser Monate vom Konzern "geopfert" wurde. Isabelle hatte das Kapital noch mit einer sehr hohen Lebensversicherung zu seinen Gunsten gestützt. Doch es war zu spät. Verloren waren alle dreißig Arbeitsplätze und seine Arbeit der letzten Jahre. Isabelle war ohne Verluste aus der Sache heraus gekommen und konnte sich mit aller Macht auf ihn einschießen. Dabei musste er zugeben, dass die augenblickliche Lage, zum größten Teil seine Schuld war.
Alles war relativ rund gelaufen und er spielte seine Rolle als Nobody bis zu diesem verdammten Abend in Düsseldorf.
"Sie werden doch nicht die Nacht allein verbringen?", sagte die attraktive Mitarbeiterin mit dem noch attraktiveren Dekolleté am Messestand der Konkurrenz. Und er verbrachte die Nacht nicht allein. Die knackige Brünette war, wahrscheinlich im Auftrag ihres Chefs, so freundlich, ihre Dankbarkeit für die Nacht, mit einigen Einzelheiten, schriftlich an seine Privatadresse zu übermitteln. So dass sie Isabelle erreichen musste.
Das war der Eisberg, an dem sein Schiff scheiterte und schließlich sank. Und jetzt gab es nur noch einen Ausweg. Und Charles Fuchs wollte diesmal, nur dies eine Mal das Richtige tun.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er Teil von etwas viel Größerem, Mächtigerem. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete. Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt. Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war perfekt für sein Vorhaben. Oben fuhr die erste S-Bahn und langsam würden Menschen unterwegs sein, und auf dem Weg zur Arbeit, ihn sehen. Mit dem Strick um den Hals. An der Eiche. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Stuttgart, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.


Oben, vom Uferweg kamen Stimmen näher. Ein paar junge Männer, die zur Frühschicht gingen. Sie waren aus dem Nachbarhaus, das noch nicht in Eigentumswohnungen umgewandelt war, Leute die ihn wahrscheinlich kannten. Er musste sich beeilen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge langsam über den Kopf. Den Knoten, so hatte er gelesen, war am besten auf der linken Seite des Halses platziert. Durch das Gewicht solle das Genick gebrochen werden und der Verurteilte hätte einen schnellen Tod. Würde das Seil zu lang sein und die Fallgeschwindigkeit zu hoch, so könne es, wie bei den Hinrichtungen im Irak, bei den Sadam-Leuten dazu kommen, dass der Kopf abgerissen würde. So stand es in der "Gebrauchsanweisung" im Internet. Charles Fuchs war sicher, dass seine Berechnungen stimmten. Er war soweit. Ein letztes Gebet oder ein Abschiedsbrief waren überflüssig. Wenn es so klappte wie er es sich dachte, war alles in Ordnung.
Die Stimmen kamen näher. Er wartete nicht bis sie sich wieder entfernten, schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war jedoch nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein rechtes Fußgelenk. Die jungen Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß in der Wiese. Lebendig.
Der Knoten auf dem Ast, war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen.
"Scheiße" war das einzige Wort, das ihm einfiel.
Besorgt, kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!" rief einer. "Der Fuchs vom Penthaus drüben!" Oben an der S-Bahn Haltestelle hatte sich eine Menge von Neugierigen gebildet.
"Einen Krankenwagen!" schrie einer von unten.
"Nein. Bitte nicht", sagte Charles. "Es geht schon wieder. Alles in Ordnung." Einer der Männer war auf den Baum geklettert um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und Schob sich die Schlinge vom Kopf.
"Wir sollten die Polizei rufen" rief einer der Männer.
"Nein!" Schrie Charles "Wieso denn? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut."
"Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?"
"Soll ich Sie nach Hause bringen?" fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
"Komm, wie müssen weiter. Wir kommen zu spät"
"Ist wirklich alles OK. mit ihnen?"
"Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?"
"Hoffentlich"
Die S-Bahn kam und die Leute fuhren weg. Die Männer gingen weiter zu ihrer Arbeit und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der schreckliche Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte bevor es auseinander brach. Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
"Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…"
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
"Halt doch einfach deine dumme Fresse und verpiss dich!"
"BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?"
"Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!"
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.
"Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!"
Charles gab ihm einen Schups auf die Brust.
"Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei hohlen. Haben sie gehört?" Der Mann zitterte.
"Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?"
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief schnell die Treppe hinunter. Nicht ohne sich immer wieder zu seinem Feind umzudrehen, ob der ihn verfolge. Charles schlug die Tür zu, dass es im ganzen Haus knallte. Jetzt war er richtig sauer. Doch sein Wechsel in die andere Welt war noch nicht vollbracht.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um Acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am Jugendstilgeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
"Machen sie keinen Mist!" schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
"Das wirst du hübsch bleiben lassen" schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle viel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog dann Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen und vor allem ohne jede Abhängigkeit gewesen.

Das erste. Was er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
"Berger. Kripo Stuttgart. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau."
"Bitte was?"
"Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für Heute geplant hatten. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht heraus gezogen hatte. Doch es war zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, so wie es für ihn Heute geplant war. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 

raineru

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Der Weltenwechsler


Für Charles Fuchs war es der ideale Zeitpunkt, um in eine andere Welt zu wechseln.
Mit einem Strick.
Die Luft dieser Nacht war warm. Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von weißem und blauem Flieder wehte in Schüben zu ihm herauf.
Die Dachterrasse war nicht besonders groß. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg wie die Loungemusik die irgendwo von einem Penthaus herüber plätscherte. Das alte Haus schlief. Manche der Nachbarn unter ihnen, hielten ihre Sonnenmarkisen über den Balkonen wie Segel gehisst, weil auch für Morgen ein weiterer wolkenfreier Maientag gemeldet war. Der Vollmond ersparte jede Beleuchtung und außerdem war das Licht, wegen Reparaturarbeiten bis zum Morgen abgestellt. Der Schein von Haushaltskerzen und der des Mondes gaben der Szene die Traurigkeit, die sie verdiente.

Charles trank einen Schluck Wein, schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden, denn die war für ihn nicht erträglich. Er zwang sich, trotz der realen Katastrophe, klare Gedanken zu fassen. Wobei er es vermied, sich an das Jugendstil-Eisengeländer, das den Dachbereich umgab, zu lehnen. Es war durchgerostet. Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Ein Schritt nach vorn und es wäre schnell vorbei gewesen und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom billigen Blanc de Blanc und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die Wohnung. Sie war leer. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines toten Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines fünfzigjährigen, alten Mannes. Ausgemergelt und krank. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurück blieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen…, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur ein Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Sein Morgenmantel kratzte auf der Haut. Isabelle war nicht der Typ Frau, der den Weichspüler vergaß. Das war eine ihrer Methoden ihm zu sagen, dass es ihr scheißegal war, wie er sich fühlte.
Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das? Sie bestimmte die Dinge und es gab auch keinen Zweifel daran, dass er, als sie sich kennen lernten, ein kleiner Staubsaugervertreter war, der von Tür zu Tür gehen musste um sein Sprüchlein aufzusagen und schließlich, wegen seiner Verkauftricks eine Vorstrafe wegen Betrugs kassierte.
Gott sei Dank, ohne ins Gefängnis zu müssen. Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga. Doch ihm war bewusst, dass er seine Persönlichkeit in aller Zukunft vergessen konnte, sofern so etwas je, zusammengefaltet, tief unten in seinem Unbewussten existierte. Er hatte sich verkauft. Nur war ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war. "Leg das sofort wieder hin und nimm etwas anständiges", schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen. Doch für den Rest des Abends war keiner mehr dazu aufgelegt, mit Charles auch nur eine Silbe zu reden.
Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Gerade als er einen Schluck nehmen wollte stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. "Das wirst du nicht tun, mein Lieber!" schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
"Aber Isabelle? Was soll das?"
"Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken, mein Lieber. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht."
Damals war er schnell unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er ihr es für den Rest seines Lebens nicht. Heute sollte sie erkennen, was sie von ihrer dummen Art hatte, Menschen, vor aller Welt zu erniedrigen. Heute war der Tag an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Die Welt in die er wechseln wollte würde frei sein von allen Zwängen. Einfach frei.
Ohne Erinnerung an seine Firma, für die er letzte Woche Konkurs anmelden musste. Eine gut gehende Firma, die durch die Finanzkrise dieser Monate vom Konzern "geopfert" wurde. Isabelle hatte das Kapital noch mit einer sehr hohen Lebensversicherung zu seinen Gunsten gestützt. Doch es war zu spät. Verloren waren alle dreißig Arbeitsplätze und seine Arbeit der letzten Jahre. Isabelle war ohne Verluste aus der Sache heraus gekommen und konnte sich mit aller Macht auf ihn einschießen. Dabei musste er zugeben, dass die augenblickliche Lage, zum größten Teil seine Schuld war.
Alles war relativ rund gelaufen und er spielte seine Rolle als Nobody bis zu diesem verdammten Abend in Düsseldorf.
"Sie werden doch nicht die Nacht allein verbringen?", sagte die attraktive Mitarbeiterin mit dem noch attraktiveren Dekolleté am Messestand der Konkurrenz. Und er verbrachte die Nacht nicht allein. Die knackige Brünette war, wahrscheinlich im Auftrag ihres Chefs, so freundlich, ihre Dankbarkeit für die Nacht, mit einigen Einzelheiten, schriftlich an seine Privatadresse zu übermitteln. So dass sie Isabelle erreichen musste.
Das war der Eisberg, an dem sein Schiff scheiterte und schließlich sank. Und jetzt gab es nur noch einen Ausweg. Und Charles Fuchs wollte diesmal, nur dies eine Mal das Richtige tun.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er Teil von etwas viel Größerem, Mächtigerem. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete. Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt. Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war perfekt für sein Vorhaben. Oben fuhr die erste S-Bahn und langsam würden Menschen unterwegs sein, und auf dem Weg zur Arbeit, ihn sehen. Mit dem Strick um den Hals. An der Eiche. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Stuttgart, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.


Oben, vom Uferweg kamen Stimmen näher. Ein paar junge Männer, die zur Frühschicht gingen. Sie waren aus dem Nachbarhaus, das noch nicht in Eigentumswohnungen umgewandelt war, Leute die ihn wahrscheinlich kannten. Er musste sich beeilen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge langsam über den Kopf. Den Knoten, so hatte er gelesen, war am besten auf der linken Seite des Halses platziert. Durch das Gewicht solle das Genick gebrochen werden und der Verurteilte hätte einen schnellen Tod. Würde das Seil zu lang sein und die Fallgeschwindigkeit zu hoch, so könne es, wie bei den Hinrichtungen im Irak, bei den Sadam-Leuten dazu kommen, dass der Kopf abgerissen würde. So stand es in der "Gebrauchsanweisung" im Internet. Charles Fuchs war sicher, dass seine Berechnungen stimmten. Er war soweit. Ein letztes Gebet oder ein Abschiedsbrief waren überflüssig. Wenn es so klappte wie er es sich dachte, war alles in Ordnung.
Die Stimmen kamen näher. Er wartete nicht bis sie sich wieder entfernten, schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war jedoch nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein rechtes Fußgelenk. Die jungen Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß in der Wiese. Lebendig.
Der Knoten auf dem Ast, war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen.
"Scheiße" war das einzige Wort, das ihm einfiel.
Besorgt, kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!" rief einer. "Der Fuchs vom Penthaus drüben!" Oben an der S-Bahn Haltestelle hatte sich eine Menge von Neugierigen gebildet.
"Einen Krankenwagen!" schrie einer von unten.
"Nein. Bitte nicht", sagte Charles. "Es geht schon wieder. Alles in Ordnung." Einer der Männer war auf den Baum geklettert um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und Schob sich die Schlinge vom Kopf.
"Wir sollten die Polizei rufen" rief einer der Männer.
"Nein!" Schrie Charles "Wieso denn? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut."
"Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?"
"Soll ich Sie nach Hause bringen?" fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
"Komm, wie müssen weiter. Wir kommen zu spät"
"Ist wirklich alles OK. mit ihnen?"
"Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?"
"Hoffentlich"
Die S-Bahn kam und die Leute fuhren weg. Die Männer gingen weiter zu ihrer Arbeit und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der schreckliche Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte bevor es auseinander brach. Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
"Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…"
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
"Halt doch einfach deine dumme Fresse und verpiss dich!"
"BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?"
"Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!"
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.
"Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!"
Charles gab ihm einen Schups auf die Brust.
"Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei hohlen. Haben sie gehört?" Der Mann zitterte.
"Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?"
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief schnell die Treppe hinunter. Nicht ohne sich immer wieder zu seinem Feind umzudrehen, ob der ihn verfolge. Charles schlug die Tür zu, dass es im ganzen Haus knallte. Jetzt war er richtig sauer. Doch sein Wechsel in die andere Welt war noch nicht vollbracht.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um Acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am Jugendstilgeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
"Machen sie keinen Mist!" schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
"Das wirst du hübsch bleiben lassen" schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle viel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog dann Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen und vor allem ohne jede Abhängigkeit gewesen.

Das erste. Was er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
"Berger. Kripo Stuttgart. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau."
"Bitte was?"
"Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für Heute geplant hatten. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht heraus gezogen hatte. Doch es war zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, so wie es für ihn Heute geplant war. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler



Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von Flieder wehte im warmen Wind von den Parkwiesen zu ihm herauf.

Charles Fuchs starrte teilnahmslos in die Sommernacht. In ein paar Stunden sollte sich seine Welt von Grund auf verändern.
Mit Hilfe eines Stricks und seinen fast exakten Berechnungen.

Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg wie die Lounge Musik die irgendwo von einem Penthaus in die Nacht schlenderte.

Morgen sollte wieder ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das alte Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.

Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit.
Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Er zwang sich, klare Gedanken zu fassen.
Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Ein Schritt nach vorn und es wäre schnell vorbei gewesen und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die leere Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines toten Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit starken fünzig-plus.
Ausgemergelt und krank. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurück blieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen…, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur ein Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft wie sie war, hatte sie sich auch sofort fast alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Sein Morgenmantel kratzte auf der Haut. Isabelle war nicht der Typ Frau, der den Weichspüler vergaß. Das war eine ihrer Methoden ihm zu sagen, dass es ihr scheißegal war, wie er sich fühlte.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das? Sie bestimmte die Dinge.
Als sie sich kennen lernten war er ein kleiner Staubsaugervertreter dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten.
Gott sei Dank ohne Knast.
Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga. Doch ihm war bewusst, dass er seine Persönlichkeit in aller Zukunft vergessen konnte, sofern so etwas je, zusammengefaltet, tief unten in seinem Unbewussten existierte. Er hatte sich verkauft.
Leider ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war.
"Leg das sofort wieder hin und nimm etwas anständiges", schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen. Doch für den Rest des Abends war keiner mehr dazu aufgelegt, mit Charles auch nur eine Silbe zu reden.

Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Party stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Gerade als er einen Schluck nehmen wollte stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. "Das wirst du nicht tun, mein Lieber!" schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
"Aber Isabelle? Was soll das?"
"Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken, mein Lieber. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht."
Damals war er schnell unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er Teil von etwas viel Größerem, Mächtigerem. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

In der Unterführung kamen Stimmen näher. Ein paar junge Männer, die zur Frühschicht bei Daimler unterwegs waren. Sie waren aus dem Nachbarhaus, Leute die ihn wahrscheinlich kannten. Er musste sich beeilen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge langsam über den Kopf.
Die Stimmen kamen näher. Er wartete nicht bis sie sich wieder entfernten, schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war jedoch nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein rechtes Fußgelenk. Die jungen Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp. Lebendig.
Der Knoten auf dem Ast, war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

"Scheiße" war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt, kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!" rief einer. "Der Fuchs vom Penthaus drüben!" Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
"Einen Krankenwagen!" schrie einer von unten.
"Nein. Bitte nicht", sagte Charles. "Es geht schon wieder. Alles in Ordnung." Einer der Männer war auf den Baum geklettert um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und Schob sich die Schlinge vom Kopf.
"Wir sollten die Polizei rufen" rief einer der Männer.
"Nein!" Schrie Charles "Wieso denn? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut."
"Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?"
"Soll ich Sie nach Hause bringen?" fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
"Komm, wie müssen weiter. Wir kommen zu spät"
"Ist wirklich alles OK. mit ihnen?"
"Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?"
"Hoffentlich"
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der schreckliche Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte bevor es auseinander brach. Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
"Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…"
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
"Halt doch einfach deine dumme Fresse und verpiss dich!"
"BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?"
"Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!"
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.
"Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!"
Charles gab ihm einen Schups auf die Brust.
"Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei hohlen. Haben sie gehört?" Der Mann zitterte.
"Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?"
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief schnell die Treppe hinunter. Nicht ohne sich immer wieder zu seinem Feind umzudrehen, ob der ihn verfolge. Charles schlug die Tür zu, dass es im ganzen Haus knallte. Jetzt war er richtig sauer. Doch sein Wechsel in die andere Welt war noch nicht vollbracht.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um Acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am Jugendstilgeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
"Machen sie keinen Mist!" schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
"Das wirst du hübsch bleiben lassen" schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle viel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog dann Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen und vor allem ohne jede Abhängigkeit gewesen.

Das erste. Was er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
"Berger. Kripo Stuttgart. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau."
"Bitte was?"
"Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für Heute geplant hatten. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht heraus gezogen hatte. Doch es war zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, so wie es für ihn Heute geplant war. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler



Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von Flieder wehte im warmen Wind von den Parkwiesen zu ihm herauf.

Charles Fuchs starrte teilnahmslos in die Frühsommernacht. In ein paar Stunden sollte sich seine Welt von Grund auf verändern.
Mit Hilfe eines Stricks und seinen fast exakten Berechnungen.

Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg wie die Lounge Musik die irgendwo von einem Penthaus in die Nacht schlenderte.

Morgen sollte wieder ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das alte Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.

Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit.
Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Er zwang sich, klare Gedanken zu fassen.
Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Ein Schritt nach vorn und es wäre schnell vorbei gewesen und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die leere Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines toten Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit starken fünzig-plus.
Ausgemergelt und krank. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurück blieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen…, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur ein Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft wie sie war, hatte sie sich auch sofort fast alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Sein Morgenmantel kratzte auf der Haut. Isabelle war nicht der Typ Frau, der den Weichspüler vergaß. Das war eine ihrer Methoden ihm zu sagen, dass es ihr scheißegal war, wie er sich fühlte.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das? Sie bestimmte die Dinge.
Als sie sich kennen lernten war er ein kleiner Staubsaugervertreter dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten.
Gott sei Dank ohne Knast.
Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga. Doch ihm war bewusst, dass er seine Persönlichkeit in aller Zukunft vergessen konnte, sofern so etwas je, zusammengefaltet, tief unten in seinem Unbewussten existierte. Er hatte sich verkauft.
Leider ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war.
"Leg das sofort wieder hin und nimm etwas anständiges", schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen. Doch für den Rest des Abends war keiner mehr dazu aufgelegt, mit Charles auch nur eine Silbe zu reden.

Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Party stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Gerade als er einen Schluck nehmen wollte stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. "Das wirst du nicht tun, mein Lieber!" schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
"Aber Isabelle? Was soll das?"
"Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken, mein Lieber. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht."
Damals war er schnell unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er Teil von etwas viel Größerem, Mächtigerem. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

In der Unterführung kamen Stimmen näher. Ein paar junge Männer, die zur Frühschicht bei Daimler unterwegs waren. Sie waren aus dem Nachbarhaus, Leute die ihn wahrscheinlich kannten. Er musste sich beeilen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge langsam über den Kopf.
Die Stimmen kamen näher. Er wartete nicht bis sie sich wieder entfernten, schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war jedoch nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein rechtes Fußgelenk. Die jungen Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp. Lebendig.
Der Knoten auf dem Ast, war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

"Scheiße" war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt, kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!" rief einer. "Der Fuchs vom Penthaus drüben!" Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
"Einen Krankenwagen!" schrie einer von unten.
"Nein. Bitte nicht", sagte Charles. "Es geht schon wieder. Alles in Ordnung." Einer der Männer war auf den Baum geklettert um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und Schob sich die Schlinge vom Kopf.
"Wir sollten die Polizei rufen" rief einer der Männer.
"Nein!" Schrie Charles "Wieso denn? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut."
"Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?"
"Soll ich Sie nach Hause bringen?" fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
"Komm, wie müssen weiter. Wir kommen zu spät"
"Ist wirklich alles OK. mit ihnen?"
"Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?"
"Hoffentlich"
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der schreckliche Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte bevor es auseinander brach. Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
"Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…"
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
"Halt doch einfach deine dumme Fresse und verpiss dich!"
"BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?"
"Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!"
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.
"Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!"
Charles gab ihm einen Schups auf die Brust.
"Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei hohlen. Haben sie gehört?" Der Mann zitterte.
"Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?"
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief schnell die Treppe hinunter. Nicht ohne sich immer wieder zu seinem Feind umzudrehen, ob der ihn verfolge. Charles schlug die Tür zu, dass es im ganzen Haus knallte. Jetzt war er richtig sauer. Doch sein Wechsel in die andere Welt war noch nicht vollbracht.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um Acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am Jugendstilgeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
"Machen sie keinen Mist!" schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
"Das wirst du hübsch bleiben lassen" schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle viel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog dann Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen und vor allem ohne jede Abhängigkeit gewesen.

Das erste. Was er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
"Berger. Kripo Stuttgart. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau."
"Bitte was?"
"Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für Heute geplant hatten. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht heraus gezogen hatte. Doch es war zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, so wie es für ihn Heute geplant war. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Moin Rainer,

grundsätzlich mag ich Deine Geschichten, sofern sie nicht zu lang und zu exotisch sind. Diese ist weder zu lang noch zu exotisch, sie ist überwiegend gut erzählt, der Plot ist gelungen – aber ...

Man könnte den Text sicher an einigen Stellen ein wenig straffen. Vor allen Dingen aber solltest Du noch einmal Rechtschreibung und Zeichensetzung überprüfen. Bei der vierten Überarbeitung hätte ich eigentlich erwartet, dass alle Fehler erkannt wurden.

Ich will hier nicht im Einzelnen darauf eingehen, ich denke, bei genauerer Überprüfung wirst Du die Fehler selbst finden. Vor allem solltest Du die Zeichensetzung überprüfen – es ist für den Leser sehr anstrengend, wenn er manche Sätze zweimal lesen muss, weil sich der Sinn durch falsch gesetzte Kommas nicht gleich erschließt.

Wie gesagt, mir gefällt diese Geschichte. Aber ein wenig mehr Sorgfalt könnte nicht schaden ...

Gruß Ciconia
 

raineru

Mitglied
hallo Ciconia,

danke für die Worte.
Ich werde daran arbeiten.

Bin halt ein Schlamper und habe eher
den Inhalt und den Aufbau im Kopf.
Das saubere Äußere geht dabei leider
oft unter.

rainer
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler



Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von Flieder wehte im warmen Wind von den Parkwiesen zu ihm herauf.
Charles Fuchs starrte teilnahmslos in die Frühsommernacht. In ein paar Stunden sollte sich seine Welt von Grund auf verändern.
Mit Hilfe eines Stricks und seinen fast exakten Berechnungen.

Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg, wie die Lounge Musik die irgendwo von einem Penthaus in die Nacht schlenderte. Morgen sollte wieder ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das alte Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.


Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Er zwang sich, klare Gedanken zu fassen. Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Einen Schritt nach vorn, und es wäre schnell vorbei gewesen, und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die leere Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines toten Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit starken »Fünzig-plus«. Ausgemergelt und krank. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurückblieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen …, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur einen Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft, wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Sein Morgenmantel kratzte auf der Haut. Isabelle war nicht der Typ Frau, der den Weichspüler vergaß. Das war eine ihrer Methoden ihm zu sagen, dass es ihr scheißegal war, wie er sich fühlte.
Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das? Sie bestimmte die Dinge.
Als sie sich kennen lernten, war er ein kleiner Staubsaugervertreter, dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten.
Gott sei Dank ohne Knast.

Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga. Doch ihm war bewusst, dass er seine Persönlichkeit in aller Zukunft vergessen konnte, sofern so etwas je, zusammengefaltet, tief unten in seinem Unbewussten existierte. Er hatte sich verkauft.
Leider ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war.
"Leg das sofort wieder hin und nimm etwas Anständiges", schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen. Doch für den Rest des Abends war keiner mehr dazu aufgelegt, mit Charles auch nur eine Silbe zu reden.

Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Gerade als er einen Schluck nehmen wollte, stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. "Das wirst du nicht tun, mein Lieber!", schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
"Aber Isabelle? Was soll das?"
"Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken, mein Lieber. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht."
Damals war er schnell unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag, an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er Teil von etwas viel Größerem, Mächtigerem. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf, die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte, in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

In der Unterführung kamen Stimmen näher. Ein paar junge Männer, die zur Frühschicht bei Daimler unterwegs waren. Sie waren aus dem Nachbarhaus, Leute, die ihn wahrscheinlich kannten. Er musste sich beeilen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge langsam über den Kopf.
Die Stimmen kamen näher. Er wartete nicht, bis sie sich wieder entfernten schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war jedoch nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein rechtes Fußgelenk. Die jungen Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp. Lebendig.
Der Knoten auf dem Ast war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

"Scheiße" war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!", rief einer. "Der Fuchs vom Penthaus drüben!" Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
"Einen Krankenwagen!", schrie einer von unten.
"Nein. Bitte nicht", sagte Charles. "Es geht schon wieder. Alles in Ordnung." Einer der Männer war auf den Baum geklettert, um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und schob sich die Schlinge vom Kopf.
"Wir sollten die Polizei rufen", rief einer der Männer.
"Nein!" Schrie Charles "Wieso denn? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut."
"Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?"
"Soll ich Sie nach Hause bringen?", fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
"Komm, wie müssen weiter. Wir kommen zu spät"
"Ist wirklich alles O.K. mit ihnen?"
"Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?"
"Hoffentlich"
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der schreckliche Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte bevor es
auseinanderbrach. Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf, als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
"Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…"
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
"Halt doch einfach deine dumme Fresse und verpiss dich!"
"BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?"
"Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!"
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.
"Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!"
Charles gab ihm einen Schups auf die Brust.
"Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei hohlen. Haben sie gehört?" Der Mann zitterte.
"Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?"
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief schnell die Treppe hinunter. Nicht ohne sich immer wieder zu seinem Feind umzudrehen, ob der ihn verfolge. Charles schlug die Tür zu, dass es im ganzen Haus knallte. Jetzt war er richtig sauer. Doch sein Wechsel in die andere Welt war noch nicht vollbracht.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am alten Eisengeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
"Machen sie keinen Mist!", schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
"Das wirst du hübsch bleiben lassen", schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle viel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit, um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog dann Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen und vor allem ohne jede Abhängigkeit gewesen.

Das Erste, das er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke, die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
"Berger. Kripo Esslingen. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau."
"Bitte was?"
"Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für heute geplant hatten. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht herausgezogen hatte. Doch es war zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, so wie es für ihn heute geplant war. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler


Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von Flieder wehte im warmen Wind von den Parkwiesen zu ihm herauf.
Charles Fuchs starrte teilnahmslos in die Frühsommernacht. In ein paar Stunden sollte sich seine Welt von Grund auf verändern.
Mit Hilfe eines Stricks und seinen fast exakten Berechnungen.

Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg, wie die Lounge Musik die irgendwo von einem Penthaus in die Nacht schlenderte. Morgen sollte wieder ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das alte Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.


Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Einen Schritt nach vorn, und es wäre schnell vorbei gewesen, und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die leere Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines toten Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit starken »Fünzig-plus«. Ausgemergelt und krank. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurückblieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen …, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur einen Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft, wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das?
Als sie sich kennen lernten, war er ein kleiner Staubsaugervertreter, dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten.
Gott sei Dank ohne Knast.

Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga.
Leider ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war.
"Leg das sofort wieder hin und nimm etwas Anständiges", schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen.
Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Gerade als er einen Schluck nehmen wollte, stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. "Das wirst du nicht tun, mein Lieber!", schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
"Aber Isabelle? Was soll das?"
„Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken, mein Lieber. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht.“
Damals war er schnell unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag, an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er Teil von etwas viel Größerem, Mächtigerem. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf, die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte, in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

Er musste sich beeilen. Passanten kamen näher. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge langsam über den Kopf.
Er wartete nicht, bis sie sich wieder entfernten schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das Nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war jedoch nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein rechtes Fußgelenk. Die jungen Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp. Lebendig.
Der Knoten auf dem Ast war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

"Scheiße" war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!", rief einer. "Der Fuchs vom Penthaus drüben!" Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
"Einen Krankenwagen!", schrie einer von unten.
"Nein. Bitte nicht", sagte Charles. "Es geht schon wieder. Alles in Ordnung." Einer der Männer war auf den Baum geklettert, um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und schob sich die Schlinge vom Kopf.
"Wir sollten die Polizei rufen", rief einer der Männer.
"Nein!" Schrie Charles "Wieso denn? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut."
"Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?"
"Soll ich Sie nach Hause bringen?", fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
"Komm, wie müssen weiter. Wir kommen zu spät"
"Ist wirklich alles O.K. mit ihnen?"
"Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?"
"Hoffentlich"
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte bevor es auseinanderbrach.
Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf, als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
"Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…"
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
"Halt doch einfach deine dumme Fresse und verpiss dich!"
"BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?"
"Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!"
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.
"Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!"
Charles gab ihm einen Schups auf die Brust.
"Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei hohlen. Haben sie gehört?" Der Mann zitterte.
"Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?"
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief schnell die Treppe hinunter. Charles schlug die Tür zu, dass es im ganzen Haus knallte. Jetzt war er richtig sauer.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am alten Eisengeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
"Machen sie keinen Mist!", schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
"Das wirst du hübsch bleiben lassen", schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle viel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit, um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog dann Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war, die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen, gewesen.

Das Erste, das er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke, die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
"Berger. Kripo Esslingen. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau."
"Bitte was?"
"Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für heute geplant hatten. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht herausgezogen hatte.
Zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, jedoch nicht so, wie er es geplant hatte. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler


Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von Flieder wehte im warmen Wind von den Parkwiesen zu ihm herauf.
Charles Fuchs starrte teilnahmslos in die Frühsommernacht. In ein paar Stunden sollte sich seine Welt von Grund auf verändern.
Mit Hilfe eines Stricks und seinen fast exakten Berechnungen.

Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg, wie die Lounge Musik die irgendwo von einem Penthaus in die Nacht schlenderte. Morgen sollte wieder ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das alte Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.


Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Einen Schritt nach vorn, und es wäre schnell vorbei gewesen, und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die leere Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines toten Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit starken »Fünzig-plus«. Ausgemergelt und krank. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurückblieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen …, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur einen Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft, wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das?
Als sie sich kennen lernten, war er ein kleiner Staubsaugervertreter, dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten.
Gott sei Dank ohne Knast.

Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga.
Leider war ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war.
"Leg das sofort wieder hin und nimm etwas Anständiges", schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen.
Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Gerade als er einen Schluck nehmen wollte, stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. "Das wirst du nicht tun, mein Lieber!", schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
"Aber Isabelle? Was soll das?"
„Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken, mein Lieber. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht.“
Damals war er schnell unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag, an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er Teil von etwas viel Größerem, Mächtigerem. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf, die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte, in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

Er musste sich beeilen. Passanten kamen näher. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge langsam über den Kopf.
Er wartete nicht, bis sie sich wieder entfernten schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das Nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war jedoch nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein rechtes Fußgelenk. Die jungen Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp. Lebendig.
Der Knoten auf dem Ast war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

"Scheiße" war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!", rief einer. "Der Fuchs vom Penthaus drüben!" Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
"Einen Krankenwagen!", schrie einer von unten.
"Nein. Bitte nicht", sagte Charles. "Es geht schon wieder. Alles in Ordnung." Einer der Männer war auf den Baum geklettert, um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und schob sich die Schlinge vom Kopf.
"Wir sollten die Polizei rufen", rief einer der Männer.
"Nein!" Schrie Charles "Wieso denn? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut."
"Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?"
"Soll ich Sie nach Hause bringen?", fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
"Komm, wie müssen weiter. Wir kommen zu spät"
"Ist wirklich alles O.K. mit ihnen?"
"Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?"
"Hoffentlich"
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte bevor es auseinanderbrach.
Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf, als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
"Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…"
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
"Halt doch einfach deine dumme Fresse und verpiss dich!"
"BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?"
"Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!"
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.
"Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!"
Charles gab ihm einen Schups auf die Brust.
"Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei hohlen. Haben sie gehört?" Der Mann zitterte.
"Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?"
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief schnell die Treppe hinunter. Charles schlug die Tür zu, dass es im ganzen Haus knallte. Jetzt war er richtig sauer.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am alten Eisengeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
"Machen sie keinen Mist!", schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
"Das wirst du hübsch bleiben lassen", schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle viel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit, um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog dann Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war, die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen, gewesen.

Das Erste, das er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke, die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
"Berger. Kripo Esslingen. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau."
"Bitte was?"
"Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für heute geplant hatten. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht herausgezogen hatte.
Zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, jedoch nicht so, wie er es geplant hatte. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler


Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von Flieder wehte im warmen Wind von den Parkwiesen zu ihm herauf.
Charles Fuchs starrte teilnahmslos in die Frühsommernacht. In ein paar Stunden sollte sich seine Welt von Grund auf verändern.
Mit Hilfe eines Stricks und seinen fast exakten Berechnungen.

Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg, wie die Lounge Musik die von einem Penthaus in die Nacht schlenderte. Morgen sollte ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.


Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Einen Schritt nach vorn, und es wäre vorbei gewesen, und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit »Fünzig-plus«. Ausgemergelt. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurückblieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen …, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur einen Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft, wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das?
Als sie sich kennen lernten, war er ein Staubsaugervertreter, dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten.
Gott sei Dank ohne Knast.

Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga.
Leider ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war.
"Leg das sofort wieder hin und nimm etwas Anständiges", schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen.
Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Als er einen Schluck nehmen wollte, stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. »Das wirst du nicht tun!«, schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
»Isabelle? Was soll das?«
»Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht.«
Damals war er unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag, an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf, die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte, in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

Er musste sich beeilen. Passanten kamen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge über den Kopf.
Er wartete nicht, bis sie sich wieder entfernten, schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das Nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein Fußgelenk. Die Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp.
Der Knoten auf dem Ast war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

»Scheiße« war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!", rief einer. »Der Fuchs vom Penthaus drüben!« Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
»Einen Krankenwagen!«, schrie einer von unten.
»Nein. Bitte nicht«, sagte Charles. »Es geht schon wieder. Alles in Ordnung.« Einer der Männer war auf den Baum geklettert, um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und schob sich die Schlinge vom Kopf.
»Wir sollten die Polizei rufen«, rief einer der Männer.
»Nein!« Schrie Charles »Wieso? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut.«
»Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?«
»Soll ich Sie nach Hause bringen?«, fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
»Komm, wir müssen. Wir kommen zu spät«
»Ist wirklich alles O.K. mit ihnen?«
»Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?«
»Hoffentlich«
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte, bevor es auseinanderbrach.
Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf, als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
»Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…«
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
»Halt doch deine dumme Fresse und verpiss dich!«
»BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?«
»Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!«
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.
»Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!«
Charles gab ihm einen Schups auf die Brust.
»Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei hohlen. Haben sie gehört?« Der Mann zitterte.
»Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?«
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief die Treppe hinunter. Charles schlug die Tür zu, dass es im Haus knallte.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am alten Eisengeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
»Machen sie keinen Mist!«, schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
»Das wirst du bleiben lassen«, schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle viel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit, um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war, die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen, gewesen.

Das Erste, das er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke, die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
»Berger. Kripo Esslingen. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau.«
»Bitte was?«
»Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für heute geplant hatten«. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht herausgezogen hatte.
Zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, jedoch nicht so, wie er es geplant hatte. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten, konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler


Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von Flieder wehte im warmen Wind von den Parkwiesen zu ihm herauf.
Charles Fuchs starrte teilnahmslos in die Frühsommernacht. In ein paar Stunden sollte sich seine Welt von Grund auf verändern.
Mit Hilfe eines Stricks und seinen fast exakten Berechnungen.

Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg, wie die Lounge Musik die von einem Penthaus in die Nacht schlenderte. Morgen sollte ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.


Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Einen Schritt nach vorn, und es wäre vorbei gewesen, und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit »Fünzig-plus«. Ausgemergelt. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurückblieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen …, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur einen Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft, wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.


Nur einen Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. »Vielleicht erwartest du Besuch«, war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem »Tennislehrer« ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.

Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft, wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.
Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das? Als sie sich kennen lernten, war er ein Staubsaugervertreter, dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten. Gott sei Dank ohne Knast.
Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga. Leider ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war. »Leg das sofort wieder hin und nimm etwas Anständiges«, schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen.
Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Als er einen Schluck nehmen wollte, stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. »Das wirst du nicht tun!«, schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
»Isabelle? Was soll das?«
»Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht.«
Damals war er unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag, an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf, die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte, in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

Er musste sich beeilen. Passanten kamen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge über den Kopf.
Er wartete nicht, bis sie sich wieder entfernten, schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das Nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein Fußgelenk. Die Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp.
Der Knoten auf dem Ast war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

»Scheiße« war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!", rief einer. »Der Fuchs vom Penthaus drüben!« Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
»Einen Krankenwagen!«, schrie einer von unten.
»Nein. Bitte nicht«, sagte Charles. »Es geht schon wieder. Alles in Ordnung.« Einer der Männer war auf den Baum geklettert, um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und schob sich die Schlinge vom Kopf.
»Wir sollten die Polizei rufen«, rief einer der Männer.
»Nein!« Schrie Charles »Wieso? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut.«
»Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?«
»Soll ich Sie nach Hause bringen?«, fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
»Komm, wir müssen. Wir kommen zu spät«
»Ist wirklich alles O.K. mit ihnen?«
»Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?«
»Hoffentlich«
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte, bevor es auseinanderbrach.
Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf, als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
»Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…«
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
»Halt doch deine dumme Fresse und verpiss dich!«
»BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?«
»Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!«
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.
»Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!«
Charles gab ihm einen Schups auf die Brust.
»Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei hohlen. Haben sie gehört?« Der Mann zitterte.
»Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?«
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief die Treppe hinunter. Charles schlug die Tür zu, dass es im Haus knallte.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am alten Eisengeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
»Machen sie keinen Mist!«, schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
»Das wirst du bleiben lassen«, schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle viel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit, um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war, die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen, gewesen.

Das Erste, das er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke, die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
»Berger. Kripo Esslingen. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau.«
»Bitte was?«
»Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für heute geplant hatten«. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht herausgezogen hatte.
Zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, jedoch nicht so, wie er es geplant hatte. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten, konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Rainer,

allmähig wird's doch! Wenn Du jetzt noch die doppelten Absätze (5 + 6) herausnimmst und
zweimal "viel" durch "fiel" (im vorletzten Absatz)
"Schups" durch "Schubs" (in der Mitte)
"hohlen" durch "holen" (in der Mitte)
ersetzt und noch ein paar Kommas vor vollständigen Sätzen einfügst ...

Im übrigen bin ich der Meinung, dass sich ein Text mit korrekten Absätzen leichter liest - einfach zweimal schalten, wie man es im Schreibmaschinenkurs gelernt hat! :D

Ich hoffe, Du nimmst diese Korrekturen nicht übel!

Gruß Ciconia
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler

Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von Flieder wehte im warmen Wind von den Parkwiesen zu ihm herauf.
Charles Fuchs starrte teilnahmslos in die Frühsommernacht. In ein paar Stunden sollte sich seine Welt von Grund auf verändern.
Mit Hilfe eines Stricks und seinen fast exakten Berechnungen.

Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg, wie die Lounge Musik die von einem Penthaus in die Nacht schlenderte. Morgen sollte ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.

Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Einen Schritt nach vorn, und es wäre vorbei gewesen, und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit »Fünzig-plus«. Ausgemergelt. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurückblieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen …, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur einen Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft, wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das? Als sie sich kennen lernten, war er ein Staubsaugervertreter, dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten. Gott sei Dank ohne Knast.
Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga. Leider ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war. »Leg das sofort wieder hin und nimm etwas Anständiges«, schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen.
Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Als er einen Schluck nehmen wollte, stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. »Das wirst du nicht tun!«, schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
»Isabelle? Was soll das?«
»Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht.«
Damals war er unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag, an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf, die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte, in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

Er musste sich beeilen. Passanten kamen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge über den Kopf.
Er wartete nicht, bis sie sich wieder entfernten, schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das Nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein Fußgelenk. Die Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp.
Der Knoten auf dem Ast war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

»Scheiße« war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!", rief einer. »Der Fuchs vom Penthaus drüben!« Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
»Einen Krankenwagen!«, schrie einer von unten.
»Nein. Bitte nicht«, sagte Charles. »Es geht schon wieder. Alles in Ordnung.« Einer der Männer war auf den Baum geklettert, um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und schob sich die Schlinge vom Kopf.
»Wir sollten die Polizei rufen«, rief einer der Männer.
»Nein!« Schrie Charles »Wieso? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut.«
»Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?«
»Soll ich Sie nach Hause bringen?«, fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
»Komm, wir müssen. Wir kommen zu spät«
»Ist wirklich alles O.K. mit ihnen?«
»Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?«
»Hoffentlich«
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte, bevor es auseinanderbrach.
Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf, als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
»Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…«
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
»Halt doch deine dumme Fresse und verpiss dich!«
»BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?«
»Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!«
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.

»Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!«
Charles gab ihm einen Schubs auf die Brust.
»Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei holen. Haben sie gehört?« Der Mann zitterte.
»Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?«
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief die Treppe hinunter. Charles schlug die Tür zu, dass es im Haus knallte.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am alten Eisengeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
»Machen sie keinen Mist!«, schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
»Das wirst du bleiben lassen«, schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle fiel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit, um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war, die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen, gewesen.

Das Erste, das er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke, die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
»Berger. Kripo Esslingen. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau.«
»Bitte was?«
»Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für heute geplant hatten«. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig viel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht herausgezogen hatte.
Zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, jedoch nicht so, wie er es geplant hatte. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten, konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler

Nachtfalter tanzten vor hungrigen Spinnen im Laternenlicht. Der Duft von Flieder wehte im warmen Wind von den Parkwiesen zu ihm herauf.
Charles Fuchs starrte teilnahmslos in die Frühsommernacht. In ein paar Stunden sollte sich seine Welt von Grund auf verändern.
Mit Hilfe eines Stricks und seinen fast exakten Berechnungen.

Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg, wie die Lounge Musik die von einem Penthaus in die Nacht schlenderte. Morgen sollte ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.

Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Einen Schritt nach vorn, und es wäre vorbei gewesen, und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit »Fünzig-plus«. Ausgemergelt. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurückblieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen …, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur einen Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft, wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das? Als sie sich kennen lernten, war er ein Staubsaugervertreter, dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten. Gott sei Dank ohne Knast.
Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga. Leider ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war. »Leg das sofort wieder hin und nimm etwas Anständiges«, schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen.
Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Als er einen Schluck nehmen wollte, stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. »Das wirst du nicht tun!«, schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
»Isabelle? Was soll das?«
»Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht.«
Damals war er unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag, an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf, die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte, in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

Er musste sich beeilen. Passanten kamen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge über den Kopf.
Er wartete nicht, bis sie sich wieder entfernten, schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das Nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein Fußgelenk. Die Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp.
Der Knoten auf dem Ast war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

»Scheiße« war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!", rief einer. »Der Fuchs vom Penthaus drüben!« Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
»Einen Krankenwagen!«, schrie einer von unten.
»Nein. Bitte nicht«, sagte Charles. »Es geht schon wieder. Alles in Ordnung.« Einer der Männer war auf den Baum geklettert, um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und schob sich die Schlinge vom Kopf.
»Wir sollten die Polizei rufen«, rief einer der Männer.
»Nein!« Schrie Charles »Wieso? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut.«
»Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?«
»Soll ich Sie nach Hause bringen?«, fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
»Komm, wir müssen. Wir kommen zu spät«
»Ist wirklich alles O.K. mit ihnen?«
»Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?«
»Hoffentlich«
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte, bevor es auseinanderbrach.
Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf, als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
»Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…«
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
»Halt doch deine dumme Fresse und verpiss dich!«
»BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?«
»Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!«
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.

»Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!«
Charles gab ihm einen Schubs auf die Brust.
»Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei holen. Haben sie gehört?« Der Mann zitterte.
»Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?«
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief die Treppe hinunter. Charles schlug die Tür zu, dass es im Haus knallte.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am alten Eisengeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
»Machen sie keinen Mist!«, schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
»Das wirst du bleiben lassen«, schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle fiel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit, um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war, die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen, gewesen.

Das Erste, das er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke, die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
»Berger. Kripo Esslingen. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau.«
»Bitte was?«
»Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für heute geplant hatten«. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig fiel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht herausgezogen hatte.
Zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, jedoch nicht so, wie er es geplant hatte. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten, konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 

raineru

Mitglied
Hallo Ciconia,

charmant wie immer.
Es ist noch viel Zeit bis zur hundertsten Überarbeitung.
Irgendwann werde ich es schnallen.

Was für´n Schreibmaschienenkurs?
Eh ... das is foll die Audotitackte.
Eh ...ich bin das Opfer. die ham mich mit 24 von der Hauptschule
geschmissen...aus Altersgründen... ohne Abschluss!
Da hat man´s als Schreiberling net so eifach, wie all die studierte Germanistiker.

Danke für die Hilfe

Rainer
 

raineru

Mitglied
Der Weltenwechsler


Die Dachterrasse war nicht besonders groß aber typisch für Esslingen. Platz für vielleicht zehn Leute und zwei Tische fürs Buffet, wenn mal eine Party stattfand. Die Lichter am Neckarufer leuchteten so weit weg, wie die Lounge Musik die von einem Penthaus in die Nacht schlenderte. Morgen sollte ein sonniger Tag werden und so ließen einige Nachbarn ihre Balkon-Markisen wie Segel ausgefahren.
Das Haus schlief.
Das Licht sollte wegen Reparaturarbeiten erst in den Morgenstunden wieder eingeschaltet werden. Das war für ihn nicht mehr von Bedeutung. Für das, was er zu beleuchten hatte, reichten ein paar Haushaltskerzen.

Charles trank einen Schluck vom billigen Blanc de Blanc und schaute in die Dunkelheit. Dort, in der verborgenen Weite rief etwas nach ihm. Ein Gefühl flüsterte ihm Wahrheiten von besseren Welten zu, Welten, die es zu erobern galt. Er musste die Realität überwinden. Die war nicht mehr erträglich. Dabei hätte er sich fast an das verrostete, alte Eisengeländer gelehnt.
Isabelle war ihm immer wieder in den Ohren gelegen, es doch bitte endlich zu reparieren oder jemanden zu holen, der dazu fähig war. Einen Schritt nach vorn, und es wäre vorbei gewesen, und die nächste Welt brauchte nicht länger zu warten. Doch sein Plan war ein anderer.

Er trank den Rest vom Wein und stellte das Zahnputzglas auf das Fenstersims. Daneben führte eine Flügeltür in die Wohnung. Der Eingang erinnerte ihn an das aufgerissene Maul eines Fisches. Mit hängenden Schultern schlürfte er hinein. Sein Spiegelbild, das das trübe Fensterglas reflektierte, zeigte das unrasierte Gesicht eines Mannes mit »Fünzig-plus«. Ausgemergelt. Mit Augen, die nicht mehr leuchteten. Er beachtete es nicht, starrte versonnen auf die hohen Wände mit den Schmutzrändern, die zurückblieben, wenn die Möbel verschwanden. Ränder an den Wänden und Druckstellen am Boden, wie die Fingerabdrücke einer Welt, die an Gemälde, antike Schränke, an einen Steinway-Stutzflügel, Skulpturen …, an Stil erinnerten. Es waren nicht nur bittere Erinnerungen. Fröhliche, gute, erfolgreiche Zeiten waren diesen Wänden nicht unbekannt. Doch das Bittere blieb. Das andere war verlöscht.

Nur einen Klapptisch in der Küche, ein Campingbett und zwei Plastikstühle hatte sie ihm gelassen. "Vielleicht erwartest du Besuch", war die zynische Bemerkung, die Isabelle fallen ließ, als sie mit ihrem neuen "Tennislehrer" ihre letzten Sachen abholte. Auf dem Boden im Flur stand noch die alte Kaffeemaschine mit ausgebreiteten Innereien. Er wollte sie irgendwann reparieren und hatte jetzt nicht mal mehr das Interesse den Stecker herauszuziehen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte, nein, jedes Interesse an diesem Leben war erloschen.
Gleich neben der Kaffeemaschine, fast schon im Bad, waren drei Koffer gestapelt. Die wollte sie heute Morgen, pünktlich um acht abholen. Pünktlich und gewissenhaft, wie sie war, hatte sie sich auch sofort alles unterschreiben lassen, das den Besitz regelte. Was bedeutete, dass sie alles bekam und er nichts.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Isabelle es war, die die Finanzen besaß, durch eine Erbschaft zwar, aber wen interessierte das? Als sie sich kennen lernten, war er ein Staubsaugervertreter, dem seine Verkaufs-Tricks sogar eine Vorstrafe wegen Betrugs eingebracht hatten. Gott sei Dank ohne Knast.
Die Heirat mit Isabelle war für ihn die entscheidende Stufe in die Oberliga. Leider ihm damals nicht bewusst, dass Isabelle eine burschikose Ader an den Tag legen würde, die in der Öffentlichkeit für ihn, mehr als peinlich war. »Leg das sofort wieder hin und nimm etwas Anständiges«, schrie sie ihn an, als er sich ein Scheibchen Baguette, das mit Weichkäse bestrichen war, auf den Teller legte. Es war ein Empfang, ein Büffet, zu dem sie an jenem Abend eingeladen waren. Das war das erste Mal, dass sie ihre Stacheln zeigte. Die anderen Gäste bemühten sich sichtlich, den Vorfall zu übergehen.
Den Gipfel erklomm Isabelle im letzten Winter. Auf einer Partie stand er bei Freunden mit einem Glas Sekt in der Hand. Als er einen Schluck nehmen wollte, stürzte sie auf ihn zu, riss ihm das Glas aus der Hand und schlug ihn mit der Hand ins Gesicht. »Das wirst du nicht tun!«, schrie sie.
Die Gäste wichen entsetzt zurück. Allgemeines Getuschel und die Farbe Rot stieg in seine Wangen.
»Isabelle? Was soll das?«
»Wir haben gestern vereinbart, dass wir zwei Wochen keinen Alkohol trinken. Daran wirst du dich halten. Abgemacht ist abgemacht.«
Damals war er unter einem Vorwand von der Party verschwunden. Doch vergessen würde er es ihr nicht. In tausend kalten Wintern nicht.

Heute war der Tag, an dem er Isabelle die Rechnung präsentieren wollte. Auf seine Art.

Der Strick war vorbereitet. In einem Sportwarenladen waren die Preise für Bergsteigerseile herabgesetzt und den Henkersknoten besorgte er sich bei einer Internet-Enzyklopädie. Acht Mal musste das Seil den Hauptstrang umrunden. Das war die letzte Lektion, die er in dieser Welt lernen wollte. Bald würde alles anders sein. Bald wäre er gerettet und nicht mehr von schnöden Kleinigkeiten abhängig. Bald wäre er auf der anderen Seite. Natürlich waren Gedanken in seinem Kopf, die sich mit dem Tod beschäftigten. Er machte in den letzten Tagen, in Gedanken immer wieder eine Liste, in der er die Vorteile seines jetzigen Lebens mit den Vorteilen dessen verglich, das ihn erwartete.
Der zweite Teil klang überzeugender. Außerdem war es keine Aktion im Affekt.
Es war perfekte Planung.
Wenn er bei einem Selbstmörder-Notdienst angerufen hätte, wäre der diensthabende Psychologie-Student bei seinem Versuch, Zeit zu gewinnen um auf die, noch vorhandenen Werte des Anrufers einzugehen, gescheitert. Für Charles gab es diese Werte nicht mehr.

Noch in der Dunkelheit verließ er das Haus mit einer Plastiktüte, in der das Seil war. Er ging hinunter zum Weg am Neckar. Der Baum war ideal für sein Vorhaben. Die erste S-Bahn würde kommen. Menschen würden durch die Unterführung am Bahnhof gehen und direkt auf den Baum blicken, auf ihn blicken, mit dem Strick um den Hals. Er kletterte auf die Bank, eine Spende des Albvereins an die Stadt Esslingen, und erklomm den ersten dicken Ast. Dreißig Zentimeter Durchmesser, so war seine Rechnung, wären genau richtig. Die Länge des Seils war ebenfalls berechnet.

Er musste sich beeilen. Passanten kamen. Er machte den Knoten oben auf dem dicken Ast und streifte sich die Schlinge über den Kopf.
Er wartete nicht, bis sie sich wieder entfernten, schloss die Augen und sprang. Ein kurzer Fall in das Nichts, ein Ruck am Hals und dann ein Knacks. Es war nicht sein Genick, das da knackste. Es war sein Fußgelenk. Die Männer, die das Spektakel mitbekommen hatten, eilten herbei, um zu helfen. Charles stand mit verkrümmtem Fuß im Gestrüpp.
Der Knoten auf dem Ast war durch sein Gewicht nach unten verrutscht. Das waren genau die dreißig Zentimeter, die ihn mit dem Boden vereinten, statt zu trennen, wie das bei Selbstmorden zu erwarten ist.

»Scheiße« war das Wort, das ihm einfiel.
Besorgt kümmerten sich die Jungs um ihn. "Aber das ist doch Herr Fuchs!", rief einer. »Der Fuchs vom Penthaus drüben!« Oben am Weg waren Neugierige aufgetaucht.
»Einen Krankenwagen!«, schrie einer von unten.
»Nein. Bitte nicht«, sagte Charles. »Es geht schon wieder. Alles in Ordnung.« Einer der Männer war auf den Baum geklettert, um den Knoten zu lösen. Charles sammelte das Seil vom Boden und schob sich die Schlinge vom Kopf.
»Wir sollten die Polizei rufen«, rief einer der Männer.
»Nein!« Schrie Charles »Wieso? Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert. Mir geht es gut.«
»Was machen sie denn für einen Blödsinn Herr Fuchs?«
»Soll ich Sie nach Hause bringen?«, fragte einer. Ein anderer schaute auf die Uhr.
»Komm, wir müssen. Wir kommen zu spät«
»Ist wirklich alles O.K. mit ihnen?«
»Ja gehen sie nur. Mir geht es gut. Alles ist gut. Ich bin vernünftig O.K?«
»Hoffentlich«
Die Männer gingen weiter und Charles saß allein auf seiner Bank und rieb sich den Hals. Er sammelte seinen Strick ein und steckte ihn wieder in die Plastiktüte. Dann humpelte er nach Hause.

Als Charles Fuchs die leere Wohnung wieder betrat, war das Haus schon erwacht. Auch der Nachbar von unten, der bei jedem kleinen Geräusch mit dem Anwalt drohte. Der Widerhall seiner Schritte ließ ihn erschaudern und schmerzte ihn. Er zag seine Schuhe aus. Der Halleneffekt war weg. Er verlor keine Zeit und ging sofort ins Bad. Dort gab es ein Wasserrohr unter der Decke. Charles kletterte auf die Kloschüssel und machte das Seil am Rohr fest. Er legte sich ein zweites Mal die Schlinge um den Hals und hüpfte von der Kloschüssel. Schon lange war er der Überzeugung, dass fünfundsiebzig Kilo zu viel für ihn seien. Das Rohr teilte seine Meinung. Es krachte und quietschte, bevor es auseinanderbrach.
Eiskaltes Wasser schreckte ihn in die Realität. Nass und frierend rappelte er sich erneut auf, als es schon an der Tür klopfte. Der Strom war also noch nicht repariert, sonst hätte er geklingelt. Charles ging zu Tür und öffnete während des zweiten, härteren Klopfens. Der Henkersknoten baumelte ihm am Hals. Der Nachbar von unten war Hermann Schräubele, genannt "Der Wächter der Kehrwoche", ein Statutenreiter der ersten Qualität. Er betrachtete Charles von oben nach unten mit verächtlichen Zügen im Rentnergesicht und zischte durch dünne Lippen
»Verzeihen Sie bitte, aber das geht nun wirkli…«
Charles war vor die Tür getreten und schrie dem Mann ins Gesicht
»Halt doch deine dumme Fresse und verpiss dich!«
»BITTE? Wie sehen sie aus? Sie sind ja ganz nass?«
»Verpiss dich. Wichser. Und zwar schnell. Hohl deinen Anwalt und bring gleich die Bullen mit, du Arschloch. Und mach schnell sonst mach ich Dich kalt!«
Der Nachbar war unfähig zu antworten. Mit offenem Mund und aufgerissenen Äuglein stand er da und glotzte Charles an.

»Na los! Hüpf. Mach, was du nicht lassen kannst, Hüpf!«
Charles gab ihm einen Schubs auf die Brust.
»Sie greifen mich tätlich an. Sie bedrohen mein Leben. Sie beleidigen mich. Ich werde die Polizei holen. Haben sie gehört?« Der Mann zitterte.
»Ja mach doch! Verpiss dich endlich oder soll ich dich die Treppe runter werfen?«
Wieder machte er eine drohende Bewegung. Der Nachbar drehte sich um und lief die Treppe hinunter. Charles schlug die Tür zu, dass es im Haus knallte.

Es war kurz vor acht und Isabelle hatte sich um acht wegen ihrer drei Koffer angekündigt. Er stürzte ins Bad und drehte den Hauptwasserhahn zu. Der Flur stand inzwischen unter Wasser. Isabelles drei Koffer rettete er ins Trockene und wäre fast über die kaputte Kaffeemaschine gestolpert. Er sammelte zum zweiten Mal den Strick ein, dessen Schlinge es noch immer um den Hals trug. Jetzt ging hinaus auf die Terrasse und befestigte ihn an einem Teil des Geländers, von dem er sicher sein konnte, dass es diesmal halten würde. Er zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt sie nun um sein Handgelenk. Unten auf der Straße waren Polizeisirenen, die näher kamen. Ein Schlüssel rumorte im Türschloss. Isabelle kam ihm genau richtig. Charles stand am alten Eisengeländer und hantierte mit der Schlinge. In der Tür erschien der Tennislehrer. Sie brauchte wohl einen Kofferträger. Er machte Anstalten sich die Schlinge erneut um den Hals zu legen.
»Machen sie keinen Mist!«, schrie der Tennislehrer. Isabelle war hinter ihm. Sie sah, was Charles vorhatte und reagierte schneller als er dachte.
Mit zwei Schritten war sie an ihrem Begleiter vorbei und stürzte auf Charles zu.
»Das wirst du bleiben lassen«, schrie sie und wieder schlug sie Charles mit der flachen Hand mit voller Wucht ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite und sie wuchtete mit viel zu viel Schwung an das Geländer. Es brach und Isabelle fiel schreiend in die Tiefe. Charles bekam genügend von dem Schwung mit, um ebenfalls zu fallen. Doch er hatte die Schlinge um sein Handgelenk und blieb einen Meter weiter unten hängen. Der Tennislehrer war zu Hilfe geeilt, schaute zuerst nach Isabelle und zog Charles nach oben. Unten stöhnte Isabelle. Sie war auf eine der Sonnenmarkisen gefallen und zappelte hilfesuchend.
Keuchend kroch Charles auf die Terrasse. Nun begriff er, dass sein Plan, seine bisherige Welt zu verlassen und in eine bessere zu wechseln, erbärmlich gescheitert war.
Seine Idee war, die Lebensversicherung die Isabelle als einziges Papier noch nicht geändert hatte und die erstens zu seinen Gunsten lief, und zweitens bei Unfalltod auf das Doppelte der sehr erquicklichen Summe ausgestellt war. Das wäre seine neue Welt, ohne Isabelle und ihre Erniedrigungen, gewesen.

Das Erste, das er wieder klar sah, waren Handschellen und die Polizeimarke, die ihm der Tennislehrer unter die Nase hielt.
»Berger. Kripo Esslingen. Ich verhafte wegen versuchten Mordes an Ihrer Frau.«
»Bitte was?«
»Ihre Frau wusste, dass sie einen Plan hatten. Ich kenne sie aus dem Tennisverein. Sie hat mich gebeten auf sie zu achten und so eine Freizeitbeschäftigung mache ich gerne. Nachdem uns heute Morgen die Jungs aus dem Nachbarhaus anriefen und uns über Ihren Showselbstmord am Neckarufer unterrichteten, wusste ich, dass sie die Sache für heute geplant hatten«. Die Handschellen klickten. Der Beamte kümmerte sich um die schreiende Isabelle. Charles Fuchs nutze den Moment und humpelte zur Wohnungstür. Die Welt in einer Gefängniszelle kam in seinen Berechnungen nicht vor. Er wollte verschwinden, irgendwohin, als es klingelte. Beim letzten, hastigen Schritt zur Tür, zum überfluteten Flur, viel es ihm ein. Es hatte geklingelt und es war sicher der Elektriker, der bekannt geben wollte, dass der Strom wieder eingeschaltet sei. Gleichzeitig fiel ihm ein, dass er keine Schuhe trug und dass er den Stecker der kaputten Kaffeemaschine nicht herausgezogen hatte.
Zu spät. Als sein Fuß das Wasser auf dem Parkettboden berührte, wechselte Charles Fuchs in eine andere Welt, jedoch nicht so, wie er es geplant hatte. Der Elektriker und die Polizisten, die die Treppe herauf stürzten, konnten nur noch seinen Todeskampf mit ansehen, ohne helfen zu können.
 



 
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