Der wunderbare Schreiberladen
Elvira und ich arbeiten zusammen in der Marketing-Abteilung. Im Marketing hat man natürlich jede Menge Zeit. Zeit, die man mit Schwatzen, Kaffeetrinken, Telefonieren und Internetsurfen totschlägt. Letzteres taten wir besonders ausgiebig und so waren wir in dieses Literaturforum geraten.
"Schreibstube" hieß es; ein virtueller Treffpunkt an dem Menschen mit potentiellem Talent aber ohne Beziehungen ihre nach Feierabend entstandenen literarischen Werke der Öffentlichkeit präsentieren konnten.
Elvira zum Beispiel schrieb in ihrer Freizeit kleine Gedichte. Sehr sensibel, sehr romantisch, aber bislang nur für für die Schublade und für ihre Freundinnen. Und ich selbst hatte schon als kleiner Junge davon geträumt einen dicken, bedeutenden Roman zu schreiben. In umgebauten Turnhallen vor tausend Leuten zu sitzen und ihnen daraus vorzulesen - oder in überfüllten Buchhandlungen meine Werke zu signieren. Auch daraus war leider nie etwas geworden.
Aber das konnte jetzt vielleicht anders werden! Elvira meldete sich unter dem Namen "Lebenstrinkerin" an und ich wählte ein schwergewichtiges "Literatos", um über den Anspruch meines Wirkens keinen Zweifel aufkommen zu lassen.
Elvira schickte ein halbes Dutzend ihrer Gedichte hin und eines davon brachte es auf Anhieb zu einer mittelmäßigen Bewertung. Sie durfte daraufhin den Titel "Typenreiniger" führen, was mich für sie freute, aber wenig beeindruckte. Denn der höchste erreichbare Rang war "Literaturpapst" - und genau das war mein Ziel!
Immerhin, ihr Erfolg machte mir Mut. Am nächsten Wochenende setzte ich mich daher an den PC, um eins meiner seit Jahrzehnten gärenden Romanprojekte endlich auf die Schiene zu bringen. Eine High-Fantasy-Dekalogie sollte es werden. Alles schon seit Jahren fertig in meinem Kopf. Brauchte eigentlich nur noch abgetippt zu werden. Aber nachdem ich eine halbe Stunde in den Monitor gestarrt hatte und der immer noch leer war, spürte ich, daß irgendetwas nicht stimmte.
'Schreibblockade!', schoss es mir durch den Kopf. Ich kannte dieses Phänomen; selbst die weltbesten Autoren litten manchmal darunter. Und ganz besonders die Besten!
Ich konnte einfach keinen Anfang finden. Dabei war der Anfang das allerwichtigste. Wenn er der Bedeutung des übrigen Textes nicht gerecht wurde, brauchte man gar nicht erst weiter zu schreiben. Viele bedeutende Werke der Literatur sind nur durch ihren überzeugenden Anfang zu Ruhm gelangt.
Lag es vielleicht am Werkzeug? Konnte man an einem elektronischen Gerät wirklich authentische fantastische Literatur schreiben? Romantische Verwicklungen erfinden? Bizarre Welten erschaffen? Mir kamen Zweifel. Also setzte ich mich mit einem Bündel Schreibmaschinenpapier und einem Bleistift an meinen Schreibtisch und grübelte.
Nach einer weiteren halben Stunde tauschte ich den Bleistift gegen einen Füllhalter mit schwarzer Tinte. Ich hatte mal gelesen, dass der berühmte Lord Dunsany seine besten Werke so verfasst hatte. Aber womöglich hatte er eine andere Tinte verwendet, denn es klappte immer noch nicht. Gegen Mitternacht ließ ich die leeren Blätter seufzend leere Blätter sein und ging zu Bett. Vielleicht war es einfach nicht mein Tag.
Es war auch nicht meine Woche. Nach sieben Tagen angestrengtesten Anfangsschreibens war ich im Grunde keinen Schritt weiter - nur mein Papierkorb war bis zum Rand voll. Ich war verzweifelt.
Und Elvira hatte es inzwischen bis zum "Kalligraphen-Lehrling" gebracht.
Nun muss ich gestehen, dass Elvira mir nicht ganz gleichgültig ist und ich eigentlich gehofft hatte, sie durch meine literarischen Erfolge beeindrucken zu können.
Aber die Situation komplizierte sich. Sie hatte die Internet-Adresse nämlich auch Werner Wenzel aus der Buchhaltung gegeben, der daraufhin seine literarische Berufung entdeckte und unter dem Pseudonym "Giovanni" fleißig erotische Kurzgeschichten zu schreiben begann. Nicht ohne Erfolg - nach der dritten war er bereits "Dichterfürst", was Elvira mir in immer wiederkehrenden Nebensätzen beiläufig auf's Brot schmierte. Überhaupt war sie in der letzten Zeit ziemlich oft in der Buchhaltungsabteilung zu finden. Und einmal waren sie und Werner sogar eine Tag lang gleichzeitig krank. Zufall?
Ich fand Werners Geschichten beschissen und chauvinistisch und schrieb ihre Faszination der Tatsache zu, dass Werner keineswegs wie ein Buchhalter aussah, sondern eher wie ein Südtiroler Skilehrer.
Die Lage spitzte sich zu. Der Weg zu Elviras Herz schien im Moment allein über die Literatur zu führen. Und ich litt in dieser Beziehung an einer signifikanten Impotenz. Düstere Endzeitvisionen beherrschten mein Denken...
Dann fiel mir, als ich eines Tages in der Mittagspause durch die Seitengassen der Altstadt bummelte, jener kleine versteckte Laden mit dem handgemalten schmiedeeisernen Schild auf. "Schreib gut! - Schreiberbedarf" war darauf zu lesen. Merkwürdig, er war mir noch nie aufgefallen, obwohl ich fast regelmäßig durch diese Gasse ging. Ich blieb stehen und runzelte die Stirn. Schreiberbedarf - was mochte damit gemeint sein? Schreibwaren? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Jeder braucht Schreibwaren, aber "Schreiberbedarf" hörte sich sehr spezifisch an. Doch das kleine blinde Schaufenster gab mir keinen Aufschluss, denn es war bis auf ein paar ausgebleichte Chintz-Draperien leer.
Ich schaute auf die Uhr. Eine halbe Stunde hatte ich noch. Zeit genug, sich den Laden mal von innen anzusehen. Ich öffnete die Tür und trat ein.
Palimm, Palimm! - eine altertümliche Ladenglocke rief nach dem Inhaber. Da er jedoch nicht gleich auftauchte, blieb mir ein wenig Zeit, mich umzuschauen. Der Laden war klein und düster, hatte aber hohe Wände, die verdeckt wurden durch wuchtige dunkle Regale, die vollgestopft waren mit Büchern, Pappkartons und dicken Bündeln von Mappen und Papieren. Was an Platz noch übrig blieb, wurde eingenommen von einigen schweren Tischen, die gleichermaßen überhäuft waren. Auffallend war der Staub, der das alles bedeckte, und die Spinnweben, die wie kleine Vorhänge die Lücken zwischen den Büchern und Kartons verdeckten
'Was immer das für ein Laden sein soll, leben kann man davon nicht', dachte ich und streckte den Zeigefinger aus um ein Herzchen in den Staub auf einer der Tischplatten zu malen.
"Kann ich Ihnen weiterhelfen, junger Mann?" fragte eine heisere Piepsstimme.
Ich fuhr herum. Vor mir stand ein kleines vetrocknetes Männchen mit pergamentenen Schlupflidern, einem Kugelbauch, hässlichen Hosenträgern und einer verschmierten Nickelbrille. Er erinnerte mich an jene steinalten Barkeeper aus den frühen Italowestern, deren Titel einem meistens nicht einfallen.
"Oh, ich hab sie gar nicht bemerkt ...", stammelte ich erschrocken.
"Ein Glück, dass ich Sie bemerkt habe, bevor sie wieder hinausgelaufen sind", kicherte er. "Aber ich passe auf wie ein Schießhund. Von den paar Leuten, die sich noch in meinen Laden verirren lass ich keinen entwischen. Haben Sie schon etwas gefunden?"
Ich zuckte unschlüssig mit den Schultern.
"Ja... nein... eigentlich hab ich nur das Schild gelesen ... Schreiberbedarf ... naja, ich wollte mal wissen, was ich mir darunter vorzustellen habe."
"Sind sie denn Schreiber?"
"Äh, nein ... ja ... eigentlich noch nicht, ich schreibe ... bis jetzt nur als Hobby - aber trage mich mit dem Gedanken ..."
"Soso, sie wollen einer werden?"
"Naja, so könnte man es sagen."
"Aber es geht noch nicht so wie sie wollen?"
"Ja, stimmt. Ich bin so unsicher und krieg keine Zeile mehr auf's Papier."
"Dann sind Sie bei mir genau richtig. Ich habe alles, was man braucht, wenn es mal an der Inspiration fehlt, oder wenn einem partout der richtige Reim nicht einfallen will", er lachte hüstelnd. "Wir haben hier faszinierende Charaktere, befreiende Durchbrüche, überraschende Wendungen, Schlüsselerlebnisse, weitgreifende Spannungsbögen, Schlussequenzen, Endreime, Stabreime, Schüttelreime..." er wies mit einer weit ausholenden Bewegung auf die verstaubten, überquellenden Regale.
"Hm, an der Inspiration fehlt es eigentlich nicht. Und Gedichte schreiben will ich auch nicht. Mehr epische Sachen - Romane, sie wissen schon. Mein Problem ist es eher, einen richtigen Anfang zu finden."
"Dann weiß ich Bescheid", nickte er eifrig. "Dieses Problem kenne ich. Das ist weit verbreitet - selbst bei den ganz Großen. Melville zum Beispiel hatte ungeheure Schwierigkeiten, einen Anfang für seinen "Moby Dick" zu finden. Das Buch wäre wohl nie geschrieben worden, wenn er nicht ...", der Rest des Satzes ging in einem trockenem Hüsteln unter.
"Wie auch immer", fuhr er fort, "wenn das Ihr einzige Sorge ist, kann ich ihnen weiterhelfen."
"Das wär ja schön, was hätten Sie denn anzubieten?"
"Nun, was wollen Sie denn schreiben?"
"Es geht um einen Fantasy-Roman. Eine Dekalogie. Angelegt auf etwa 4000 Seiten. Wie "Der Herr der Ketten", aber viel länger und besser. Ich - ich hab die ganze Geschichte schon fertig im Kopf - bis auf den Anfang."
"Hm", er runzelte bedenklich die Stirn und rieb sich das Kinn. "Sowas wird freilich selten verlangt. Fantasy-Autoren fangen meistens irgendwie an und schreiben dann einfach weiter. Das müsste ich bestellen. Kann ein paar Wochen dauern."
"Ich bräuchte es aber schnell", stieß ich hastig hervor... ein bisschen zu hastig vielleicht.
Er schaute mich aus seinen alten wässrig-traurigen Augen verstehend an.
"Ihnen pressiert's, wie?"
Ich bekam wohl rote Ohren und schaute verlegen auf den Boden, als ich sagte:
"Naja, ich möchte eben jemanden beeindrucken, sie wissen schon. Und ich möchte vermeiden, dass jemand anders der das auch versucht, schneller ist."
Seine müden Augen leuchteten plötzlich auf.
"Vielleicht kann man ein bisschen improvisieren."
Meine Augen leuchteten auch auf.
"Ahja, und wie?"
Er zog wortlos eine weinrote Mappe aus einem Hängeregister.
"Nun, ich hätte hier eine Kollektion historischer Romananfänge. Alles sehr solide und bewährt. Damit kann man eigentlich nichts falsch machen. Historische Romane - besonders solche, die in der Antike spielen - und Fantasy-Epen sind einander ja sehr ähnlich. Man braucht nur ein paar Namen zu tauschen und einen Hauch Magie hineinzubringen - und fertig ist die Märchenwelt"
"Das hört sich ganz gut an - was soll's denn kosten?"
"Ich geb's ihnen ein bisschen günstiger."
Drei Minuten später stand ich wieder auf der Straße; mit dem Gefühl, dass ein Sportwagen haben muss, wenn der Anlasser gestartet wird. Ich fuhr zurück in die Firma hetzte in die Personalabteilung und ließ mir zwei Wochen Urlaub geben. Noch am selben Abend schnappte ich mir die Mappe und suchte nach "meinem" Anfang. Es waren Nasskopien, die mindestens fünfzig Jahre alt waren. Blassblaue Schrift auf braunem Papier. Aber egal, Herman Melville und Thomas Mann waren viel älter. Ein guter Romananfang muss zeitlos gültig sein.
Schon nach wenigen Seiten hatte ich es. Einen Anfang, der perfekt zu meinem Roman passte - archaisch, romantisch und geheimnisvoll. Ich warf einen raschen Blick in die Namenslisten, die ich schon vor langer Zeit erstellt hatte und legte los:
Es war eine schwüle Sommernacht im Jahre Dreitausendsechshundertundzwölf des düsteren Zeitalters. Schwer lagerte dichtes Gewölk über der dunklen Fläche des Nebelmeeres, dessen Küsten und Gewässer zusammenflossen in unterscheidungslosem Dunkel. Nur ferne Blitze warfen hier und da ein zuckendes Licht über das schweigende Uzuldaroum...
Die Initialzündung war erfolgt! Ich schrieb wie ein Besessener. In der Mittagspause, nach Feierabend, in der Badewanne, beim Friseur... 40 Seiten am Tag waren das Mindeste, was ich schaffte. Meine Augen waren zwar von dunklen Ringen umgeben, aber mein schöpferischer Geist strahlte wie eine Sonne. Mit der Sicherheit, einen guten und richtigen Anfang zu haben, brauchte ich mich praktisch nur noch um die Handlung zu kümmern.
Und das Beste war: Nach den ersten hundert Seiten fühlte ich mich so sicher in meiner Geschichte, dass ich zum Anfang zurückkehrte und ihn aus meiner eigenen Inspration neu schrieb! Ich hatte mich abgenabelt, dieses Buch würde mein ureigenstes Werk sein.
Zugegeben, den einen oder anderen Hänger hatte ich schon, aber bis auf einen bewältigte ich alle mit Bravour und Eleganz. Und dieser eine ... nun, ich glaube, das hätte ich nicht tun sollen. Als ich nämlich dasaß und grübelte, wie es nun weitergehen sollte, fiel mein Blick wieder auf jene Mappe mit Anfängen.
Hm, konnte mir das weiterhelfen? Ein Anfang konnte ja auch der Anfang eines Absatzes oder einer Seite oder eines Kapitels sein. Und schließlich hatte ich dafür bezahlt. Eifrig blätterte ich durch dir vergilbten Xerographien. Ah ja, das hier hörte sich gut an, das würde nahtlos passen. Also her damit!
"Na schön, mein Prinz, Ginhaila und Locris sind nur noch Lehen der Solfunamiden-Dynastie, die ein paar hübsche Tribute einbringen. Ich warne Sie: wenn Sie mir nicht sagen, dass es Krieg gibt, wenn Sie sich mit all den Gemeinheiten und Grausamkeiten dieses Nekromanten selbst beschmutzen..."
Und weiter ging's. Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Bis endlich am letzten Tag meines Urlaubs der Schlusssatz auf dem Monitor stand. Tief ausatmend sank ich zurück. Das erste Buch war fertig. Volle vierhundert Seiten. Werner mit seinen literarischen Quickies konnte die Flagge streichen.
Natürlich drängte alles in mir danach, diesen Monolithen in das entsprechende Forum zu rammen. Aber zuerst sollte diejenige ihn lesen und bewundern für die er errichtet worden war. Freitagnachmittag schickte ich Elvira ein E-Mail mit gewichtigem Anhang und der Bitte, mir doch zu sagen, ob sie es für würdig hielt, in der "Schreibstube" veröffentlicht zu werden zu werden.
Und sie las es tatsächlich! Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat, aber sie schaffte es wirklich, den ganzen Text über's Wochenende zu durchzulesen.
Montagmorgen schlenderte ich wie üblich durch die Abteilung und bedachte jeden mit einem freundlichen "Guten Morgen. Schönes Wochenende gehabt?" Nur bei Elviras Schreibtisch hielt ich inne.
"Du, ich hab dir da am Freitag was geschickt..."
"Jaja, ich hab's gelesen."
"Und, was hältst du davon?"
"Najaaaah..."
"Was, "naja"?"
"Es ist ja ganz spannend und fantasievoll, aber..."
"Aber was?"
"Najaaaah..."
"Nun sag schon, findest du's nicht gut?"
"Doch, schon, aber..."
"Also was jetzt?"
"Du hast ja den Anfang genau in die Mitte geschrieben!"
***
Nun müsste ich eigentlich etwas neues, besseres schreiben, um diese Scharte wieder auszuwetzen. Aber mittlerweile war ich einige Dutzend Male in jener engen Seitengasse. Ich kann den Laden einfach nicht mehr wiederfinden ...
(c) 2002 by Achim Hildebrand