Der Wunschkönig

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G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Alexander bekam an seinem fünften Geburtstag Post vom Wunschkönig. «Lieber Alexander», hieß es in dem Brief, den er schon selbst lesen konnte, «du wirst heute fünf Jahre alt, und ich denke, man kann sagen, Alexander ist jetzt ein bisschen erwachsen. Was bedeutet das? Ich meine, es bedeutet: Du wirst dich in Abenteuer stürzen, die du noch nicht kennst, du wirst dich auch mit neuen Problemen herumschlagen. In deinem Alter ist das so. Aber für jedes Problem gibt es eine Lösung. Wenn du dich heute Abend vor dem Einschlafen fragst: Wie komme ich auf den höchsten Berg der Erde? – und du findest keine Antwort, dann schreib mir einen Brief. Hallo Wunschkönig, schreibst du, ich habe ein Problem! Den Brief schiebst du morgen früh heimlich in die Sofaritze. An der Stelle, wo immer das grüne Samtkissen liegt. Du musst darauf achten, dass der Brief aus der Ritze nicht herausguckt, das ist wichtig, und das Kissen legst du drüber und drückst es vorsichtig an. Dort finde ich ihn.»

Am Abend konnte Alexander lange nicht einschlafen. Er musste unentwegt an den Wunchkönig denken. Und in einem langen Geburtstagstraum lernten sich die beiden näher kennen.

Seither war Alexander ein Junge, der zu jedem seiner Probleme eine Lösung fand. Es gab «elegante Lösungen», wie Frau Schwertfeger, Alexanders Mutter, manchmal sagte. Und oft gab es auch «umständliches Herumgeeiere», wie Herr Schwertfeger es einschätzte.

So ging es, bis zu Alexanders sechstem Geburtstag. Herr Schwertfeger hatte eine kleine Geburtstagsrede vorbereitet, in der er seinem Sohn erklärte: «Mein Junge, von heute an bist du erwachsen. Noch nicht ganz, aber schon fast. Unsere Putzfrau, die Frau Wellerkopf, hat mir von dem Wunschkönig erzählt, mit dem du über die Sofaritze Briefe austauschst. Nun, das lassen wir mal ab sofort. Mit deinen Problemen kommst du zu mir, und gemeinsam lösen wir die dann auch. Wär ja gelacht. Diesen Wunschkönig wollen wir ganz schnell vergessen, den gibt es nicht.» Frau Schwertfeger blieb eine Sekunde lang das Herz stehen.

Am Abend konnte Alexander nicht einchlafen. Er war wütend. Er war traurig. Er wollte tot sein. Am nächsten Morgen setzte er sich an den Küchentisch, kaute auf einem Schinkenbrötchen herum und sagte irgendwann: «Erwachsen ist Scheiße!»
 

Ji Rina

Mitglied
Dies ist ein gut geschriebener hübscher Text.
Erinnert mich an meine Kindheit, als ich nur imaginäre Freunde hatte, jeder mit Namen und seiner eigenen Story.
Meine Mutter blickte nicht mehr durch.
Gruss, Ji
 

Tula

Mitglied
Hallo Joe
Man sollte diesen Text ins heutige Schulprogramm aufnehmen. Das meine ich ganz ehrlich.

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Hi Tula,
die Sache beruht auf einer wahren Geschichte. Den fünfjährigen Alexander hat der Wunschkönig stark gemacht. Ein Jahr lang war das wie ein Wunder. Dann hat der Großvater die Geschichte zerstört. Ich schicks mal an eine Zeitung. Allerdings, welche Zeitung druckt heute noch Kurzgeschichten?
Gruß Joe
 
Hallo Joe Fliederstein,

eine gute Geschichte mit einem brutalen Schluss. Wie kann man einem Kind so die Kindheit kaputt machen - und das mit Absicht.

LG SilberneDelfine
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Hi SilberneDelfine,
ich glaube, gar nicht mal mit Absicht. Aus einer seltsamen Art der "Verantwortung" heraus. Danke für die Sterne.
Gruß Joe
 
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