xavia
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Der Zauber der Dämmerung
Für meine liebe »kleine« Schwester Susi Sorglos zu ihrem Geburtstag
Sie lebte in einem schönen Garten neben einem kleinen Haus in Bremerhaven und es ging ihr gut. Neben? wirst du verwundert fragen, denn du weißt ja nicht, dass es sich um eine Maus handelt. Diese Maus – nennen wir sie mal Helene, denn in der Mäusesprache würde ihr Name ungefähr klingen wie »piep-piiiep-pip« und damit könntest du sicherlich nicht viel anfangen, außer, du hättest Mausologie studiert und das ist ja heutzutage noch nicht möglich. Eines Tages, wenn alles erforscht ist, was die Menschen erforschen wollen, dann werden sie sich sicherlich der Mausologie zuwenden und feststellen, dass es allerlei Interessantes zu lernen gibt über die Mäuse, die sie jetzt noch in Laboren für ihre Forschung missbrauchen, ohne sich darum zu kümmern, wen sie da vor sich haben. Insbesondere werden sie dann die Mäusesprache lernen und die Mäuse werden ihnen einiges darüber erzählen, wie sie mit der Natur umgehen sollten.
Die Mäusesprache ist übrigens gar nicht so verschieden von der Meisensprache. Man könnte sie einen Dialekt nennen, so wie das Plattdeutsche ein Dialekt vom Deutschen ist. Tatsächlich war eine gute Freundin von Helene, der Maus, von der ich berichten will, eine Meise. Von dieser Meise hatte Helene erfahren, dass es das Fach Mausologie in der Hochschule in Bremerhaven noch nicht gab. Denn die Meise, die übrigens in ihrer Sprache »piiiep-piep-piep-pip« hieß, nennen wir sie der Einfachheit halber Rosemarie, diese Meise flog gelegentlich auf einen der Fenstersimse der Hochschule und erzählte Helene hinterher von dem, was sie da beobachtet hatte. Leider konnte Helene mit den Berichten ihrer Freundin nicht allzu viel anfangen. Manchmal dachte sie sogar, die Meise Rosemarie wollte sie veräppeln, zum Beispiel, wenn diese von Häusern erzählte, die auf dem Wasser schwimmen konnten.
Aber kehren wir zurück zu unserer Maus Helene. Sie war eine sehr tüchtige Maus und hatte sich eine schöne Wohnung unter den Platten im Garten gebaut. Die Platten sorgten dafür, dass ihre Gänge nicht einstürzten. Das war besonders wichtig für die größeren Höhlen, die Schlaf-Höhle und die Vorrats-Höhle. Und natürlich die Feier-Höhle. Helene hatte eine große Familie, einen Mann und sechs kleine Mäuse-Kinder.
Ihr Mann war oft unterwegs und brachte manchmal interessante Speisen mit, die er in der Nachbarschaft aufgetrieben hatte. Er war ein Abenteurer. Helene machte sich oft Sorgen, dass ihn eine Katze erwischen könnte, aber er lachte nur darüber und meinte, Katzen seien dumme Tiere, die könnten ihn nicht fangen. Während sie vor einem Schlupfwinkel lauerten, liefe er hinter ihnen bereits ganz woanders hin.
Weil ihr Mann so oft unterwegs war, musste Helene sich meistens allein um ihre Kinder kümmern. Letztes Mal hatte sie nur fünf, die waren aber längst ausgezogen, hatten sich in der Nachbarschaft eigene Höhlen gebaut und kamen nur hin und wieder zu Besuch. Für solche Zwecke hatte Helene die Feier-Höhle gebuddelt. Darin konnten sie dann zusammensitzen und erzählen und meistens war es so gemütlich, dass sie sich hinterher alle aneinander kuschelten und dort zusammen den Tag verschliefen.
Wie alle Mäuse waren sie nämlich nachtaktiv: Sie schliefen tagsüber, weil sie Angst hatten, dass sie bei Helligkeit zu leicht gesehen werden könnten. Helene wusste, dass Rosemarie diese Marotte der Mäuse für Aberglauben hielt, weil ja die Katzen und die Igel und die Eulen, die Feinde der Mäuse, auch nachtaktiv waren, aber alte Gewohnheiten konnte man schlecht ablegen und so blieb es dabei, dass Helene und Rosemarie sich nur manchmal am frühen Morgen oder abends in der Dämmerung begegneten.
Helenes Kinder waren ihr ganzer Stolz. Der vorletzte Wurf war sehr gut geraten. Sie hatten alle selbst schon wieder Kinder und wenn Helene mal ganz viel Zeit haben sollte, dann würde sie sie besuchen. Aber eigentlich war es ihr lieber, wenn die Kinder zu ihr kamen und bald würden die Enkelkinder groß genug sein, um mitzukommen.
In ihrem letzten Wurf gab es allerdings ein Sorgenkind. Alle anderen tollten schon herum und hatten einen Riesenappetit, nur ihre Jüngste kränkelte. Selbst ihr Name war klein und dünn, in der Mäusesprache hieß sie »pip«. Wir wissen dafür keine Übersetzung, nennen wir sie also Pip.
Obwohl Pips Vater immer einen besonderen Leckerbissen für sie von seinen Streifzügen mitbrachte und zuallererst nach ihr sah, wenn er nach Hause kam, wuchs sie einfach nicht und saß oft traurig herum, wenn die anderen schon bettelten, wann sie endlich nach draußen in den Garten dürften. Kleine Mäuse durften nämlich überhaupt nicht aus dem Bau heraus und es kursierten unter ihnen die wildesten Gerüchte, wie es da draußen wohl aussehen mochte, unter freiem Himmel, mit einem Mond darin und Sternen. Die Tanten und Onkel hatten davon erzählt, wenn sie zu Besuch gekommen waren. – Aber es war natürlich etwas ganz anderes, das selbst zu sehen, als nur davon erzählt zu bekommen.
Helene fand es manchmal übertrieben, wie sehr sich ihr Mann um die kleine Pip bemühte und darüber fast die anderen Kinder vergaß. Er verpasste sogar den großen Tag, an dem die anderen fünf Mäusekinder zum ersten Mal nach draußen durften. Als er Helene hinterher mit einem schlechten Gewissen am Eingang empfing, sagte sie ärgerlich:
»Hast du wieder versucht, Pip zu füttern? Die wird eines Tages die Katze holen, das ist der Lauf der Welt.«
Pips Vater war sehr erschrocken und sah sich schnell um: Hatte Pip das etwa gehört? Er wusste ja, dass Helene das nicht ernst gemeint hatte, aber so etwas durfte man einfach nicht sagen! Der Schreck war schnell vergessen, als die anderen Mäusekinder hereinstürmten und von ihren Abenteuern berichteten. Immer wieder erzählten sie, wie sie unter der Hecke hindurchgekrabbelt waren, wie sie Autos gesehen hatten, wie sie in die Fenster des großen Hauses hineingespäht hatten und wie eines von ihnen sich fast verlaufen hätte. Pip hatte nur traurig zugehört und an diesem Abend hatte sie überhaupt nichts gegessen.
Am nächsten Abend, als es dämmerte, freuten sich die fünf schon auf ihren zweiten Ausflug. Die Onkel und Tanten waren alle gekommen, um dabei zu sein. Da warnte der Papa:
»Heute müssen wir etwas warten, die Menschenfrau, die hier wohnt, hat ein Ding in den Garten gestellt, auf dem Menschen sitzen. Da wird sie wohl eine Weile hier draußen bleiben wollen. Ihr dürft nur vorsichtig aus einem der Ausgänge gucken, aber auf keinen Fall hinausgehen, das ist sehr gefährlich. Bei Menschen weiß man nie.«
Die Mäusekinder staunten: So ein Mensch war groß, hatte vier Beine, keine Augen und stand ganz still. Sah nicht wirklich gefährlich aus. Ihr Vater lachte:
»Das ist doch nicht der Mensch! Das ist ein Stuhl. Die Menschen sitzen nicht auf dem Boden, sondern auf Stühlen.«
Kurz darauf sahen die Mäusekinder die Menschenfrau: Sie hatte eine sehr seltsame Form, lief auf zwei Beinen, hatte kein Fell im Gesicht, dafür aber ein ganz langes Fell auf dem Kopf und sie steckte in einer Verpackung, die nicht wie Fell aussah. Sie brachte ein Ding zu dem Stuhl, das anders aussah als dieser. Nicht einmal Papa wusste, was das war. Rosemarie, die Meise, saß in einem Johannisbeerbusch nahe an diesem Ausgang der Mäusehöhle, schien überhaupt keine Angst vor der Menschenfrau zu haben und zwitscherte ihnen zu, dass es sich bei dem Nicht-Stuhl-Ding um eine Harfe handelte, eine »pjiiep-pjiep«.
Die Menschenfrau setzte sich auf den Stuhl und es sah so aus, als hätte sie sieben Beine, aber die Mäusekinder wussten ja schon, dass vier Beine vom Stuhl waren und ein dickes Bein von der Harfe. Zwei Beine von der Menschenfrau und zwei weitere, mit denen sie nun an den Bändern der Harfe zupfte.
Plötzlich wurden alle Mäusekinder, die eben noch aufgeregt durcheinandergewuselt waren, ganz still und horchten: Es erklangen Töne, die sie noch nie im Leben gehört hatten, auch die Großen nicht. Die Meise vielleicht, aber die hatten sie längst vergessen. Die Töne waren so schön, so fremdartig, so traumhaft, dass alle wie gebannt lauschten. Die Melodie war mal traurig, mal froh und munter, mal verträumt und sehnsuchtsvoll und die Mäusekinder empfanden die Musik so, als wenn ihnen die Mama eine Geschichte erzählte, nur noch viel geheimnisvoller und wunderbarer. Die Menschenfrau schien ebenfalls ganz versunken zu sein in diese Musik. Sie spielte lange, ganz für sich allein und wusste sicherlich nicht, wie viele Zuhörer sie hatte.
Auf einmal hörte Helene, dass jemand in der Mäusesprache dazu sang und als sie sich umschaute, wer das war, da entdeckte sie ihr kleines Sorgenkind, das ganz glücklich aussah und zu den zauberhaften Tönen, die den Garten erfüllten, einen entzückenden Gesang darbot. Der Mensch schien nicht darauf zu achten, aber die Mäuse merkten eine nach der anderen, dass Pip zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich zu sein schien und dass sie so wunderschön sang, wie die Großen es selbst bei den Meisen im Frühling bisher nicht gehört hatten. Eine Maus die singen konnte – so etwas hatte es noch nie gegeben!
Als es schon fast völlig dunkel war, ging die Menschenfrau in ihr Haus, aber die Mäuse hatten gar keine Lust, hinauszugehen. Sie veranstalteten in der Feier-Höhle ein großes Freudenfest für Pip, die ihr Talent entdeckt und ihre Traurigkeit überwunden hatte und das kleine Mäusemädchen aß zum ersten Mal mit großem Appetit.
Für meine liebe »kleine« Schwester Susi Sorglos zu ihrem Geburtstag
Sie lebte in einem schönen Garten neben einem kleinen Haus in Bremerhaven und es ging ihr gut. Neben? wirst du verwundert fragen, denn du weißt ja nicht, dass es sich um eine Maus handelt. Diese Maus – nennen wir sie mal Helene, denn in der Mäusesprache würde ihr Name ungefähr klingen wie »piep-piiiep-pip« und damit könntest du sicherlich nicht viel anfangen, außer, du hättest Mausologie studiert und das ist ja heutzutage noch nicht möglich. Eines Tages, wenn alles erforscht ist, was die Menschen erforschen wollen, dann werden sie sich sicherlich der Mausologie zuwenden und feststellen, dass es allerlei Interessantes zu lernen gibt über die Mäuse, die sie jetzt noch in Laboren für ihre Forschung missbrauchen, ohne sich darum zu kümmern, wen sie da vor sich haben. Insbesondere werden sie dann die Mäusesprache lernen und die Mäuse werden ihnen einiges darüber erzählen, wie sie mit der Natur umgehen sollten.
Die Mäusesprache ist übrigens gar nicht so verschieden von der Meisensprache. Man könnte sie einen Dialekt nennen, so wie das Plattdeutsche ein Dialekt vom Deutschen ist. Tatsächlich war eine gute Freundin von Helene, der Maus, von der ich berichten will, eine Meise. Von dieser Meise hatte Helene erfahren, dass es das Fach Mausologie in der Hochschule in Bremerhaven noch nicht gab. Denn die Meise, die übrigens in ihrer Sprache »piiiep-piep-piep-pip« hieß, nennen wir sie der Einfachheit halber Rosemarie, diese Meise flog gelegentlich auf einen der Fenstersimse der Hochschule und erzählte Helene hinterher von dem, was sie da beobachtet hatte. Leider konnte Helene mit den Berichten ihrer Freundin nicht allzu viel anfangen. Manchmal dachte sie sogar, die Meise Rosemarie wollte sie veräppeln, zum Beispiel, wenn diese von Häusern erzählte, die auf dem Wasser schwimmen konnten.
Aber kehren wir zurück zu unserer Maus Helene. Sie war eine sehr tüchtige Maus und hatte sich eine schöne Wohnung unter den Platten im Garten gebaut. Die Platten sorgten dafür, dass ihre Gänge nicht einstürzten. Das war besonders wichtig für die größeren Höhlen, die Schlaf-Höhle und die Vorrats-Höhle. Und natürlich die Feier-Höhle. Helene hatte eine große Familie, einen Mann und sechs kleine Mäuse-Kinder.
Ihr Mann war oft unterwegs und brachte manchmal interessante Speisen mit, die er in der Nachbarschaft aufgetrieben hatte. Er war ein Abenteurer. Helene machte sich oft Sorgen, dass ihn eine Katze erwischen könnte, aber er lachte nur darüber und meinte, Katzen seien dumme Tiere, die könnten ihn nicht fangen. Während sie vor einem Schlupfwinkel lauerten, liefe er hinter ihnen bereits ganz woanders hin.
Weil ihr Mann so oft unterwegs war, musste Helene sich meistens allein um ihre Kinder kümmern. Letztes Mal hatte sie nur fünf, die waren aber längst ausgezogen, hatten sich in der Nachbarschaft eigene Höhlen gebaut und kamen nur hin und wieder zu Besuch. Für solche Zwecke hatte Helene die Feier-Höhle gebuddelt. Darin konnten sie dann zusammensitzen und erzählen und meistens war es so gemütlich, dass sie sich hinterher alle aneinander kuschelten und dort zusammen den Tag verschliefen.
Wie alle Mäuse waren sie nämlich nachtaktiv: Sie schliefen tagsüber, weil sie Angst hatten, dass sie bei Helligkeit zu leicht gesehen werden könnten. Helene wusste, dass Rosemarie diese Marotte der Mäuse für Aberglauben hielt, weil ja die Katzen und die Igel und die Eulen, die Feinde der Mäuse, auch nachtaktiv waren, aber alte Gewohnheiten konnte man schlecht ablegen und so blieb es dabei, dass Helene und Rosemarie sich nur manchmal am frühen Morgen oder abends in der Dämmerung begegneten.
Helenes Kinder waren ihr ganzer Stolz. Der vorletzte Wurf war sehr gut geraten. Sie hatten alle selbst schon wieder Kinder und wenn Helene mal ganz viel Zeit haben sollte, dann würde sie sie besuchen. Aber eigentlich war es ihr lieber, wenn die Kinder zu ihr kamen und bald würden die Enkelkinder groß genug sein, um mitzukommen.
In ihrem letzten Wurf gab es allerdings ein Sorgenkind. Alle anderen tollten schon herum und hatten einen Riesenappetit, nur ihre Jüngste kränkelte. Selbst ihr Name war klein und dünn, in der Mäusesprache hieß sie »pip«. Wir wissen dafür keine Übersetzung, nennen wir sie also Pip.
Obwohl Pips Vater immer einen besonderen Leckerbissen für sie von seinen Streifzügen mitbrachte und zuallererst nach ihr sah, wenn er nach Hause kam, wuchs sie einfach nicht und saß oft traurig herum, wenn die anderen schon bettelten, wann sie endlich nach draußen in den Garten dürften. Kleine Mäuse durften nämlich überhaupt nicht aus dem Bau heraus und es kursierten unter ihnen die wildesten Gerüchte, wie es da draußen wohl aussehen mochte, unter freiem Himmel, mit einem Mond darin und Sternen. Die Tanten und Onkel hatten davon erzählt, wenn sie zu Besuch gekommen waren. – Aber es war natürlich etwas ganz anderes, das selbst zu sehen, als nur davon erzählt zu bekommen.
Helene fand es manchmal übertrieben, wie sehr sich ihr Mann um die kleine Pip bemühte und darüber fast die anderen Kinder vergaß. Er verpasste sogar den großen Tag, an dem die anderen fünf Mäusekinder zum ersten Mal nach draußen durften. Als er Helene hinterher mit einem schlechten Gewissen am Eingang empfing, sagte sie ärgerlich:
»Hast du wieder versucht, Pip zu füttern? Die wird eines Tages die Katze holen, das ist der Lauf der Welt.«
Pips Vater war sehr erschrocken und sah sich schnell um: Hatte Pip das etwa gehört? Er wusste ja, dass Helene das nicht ernst gemeint hatte, aber so etwas durfte man einfach nicht sagen! Der Schreck war schnell vergessen, als die anderen Mäusekinder hereinstürmten und von ihren Abenteuern berichteten. Immer wieder erzählten sie, wie sie unter der Hecke hindurchgekrabbelt waren, wie sie Autos gesehen hatten, wie sie in die Fenster des großen Hauses hineingespäht hatten und wie eines von ihnen sich fast verlaufen hätte. Pip hatte nur traurig zugehört und an diesem Abend hatte sie überhaupt nichts gegessen.
Am nächsten Abend, als es dämmerte, freuten sich die fünf schon auf ihren zweiten Ausflug. Die Onkel und Tanten waren alle gekommen, um dabei zu sein. Da warnte der Papa:
»Heute müssen wir etwas warten, die Menschenfrau, die hier wohnt, hat ein Ding in den Garten gestellt, auf dem Menschen sitzen. Da wird sie wohl eine Weile hier draußen bleiben wollen. Ihr dürft nur vorsichtig aus einem der Ausgänge gucken, aber auf keinen Fall hinausgehen, das ist sehr gefährlich. Bei Menschen weiß man nie.«
Die Mäusekinder staunten: So ein Mensch war groß, hatte vier Beine, keine Augen und stand ganz still. Sah nicht wirklich gefährlich aus. Ihr Vater lachte:
»Das ist doch nicht der Mensch! Das ist ein Stuhl. Die Menschen sitzen nicht auf dem Boden, sondern auf Stühlen.«
Kurz darauf sahen die Mäusekinder die Menschenfrau: Sie hatte eine sehr seltsame Form, lief auf zwei Beinen, hatte kein Fell im Gesicht, dafür aber ein ganz langes Fell auf dem Kopf und sie steckte in einer Verpackung, die nicht wie Fell aussah. Sie brachte ein Ding zu dem Stuhl, das anders aussah als dieser. Nicht einmal Papa wusste, was das war. Rosemarie, die Meise, saß in einem Johannisbeerbusch nahe an diesem Ausgang der Mäusehöhle, schien überhaupt keine Angst vor der Menschenfrau zu haben und zwitscherte ihnen zu, dass es sich bei dem Nicht-Stuhl-Ding um eine Harfe handelte, eine »pjiiep-pjiep«.
Die Menschenfrau setzte sich auf den Stuhl und es sah so aus, als hätte sie sieben Beine, aber die Mäusekinder wussten ja schon, dass vier Beine vom Stuhl waren und ein dickes Bein von der Harfe. Zwei Beine von der Menschenfrau und zwei weitere, mit denen sie nun an den Bändern der Harfe zupfte.
Plötzlich wurden alle Mäusekinder, die eben noch aufgeregt durcheinandergewuselt waren, ganz still und horchten: Es erklangen Töne, die sie noch nie im Leben gehört hatten, auch die Großen nicht. Die Meise vielleicht, aber die hatten sie längst vergessen. Die Töne waren so schön, so fremdartig, so traumhaft, dass alle wie gebannt lauschten. Die Melodie war mal traurig, mal froh und munter, mal verträumt und sehnsuchtsvoll und die Mäusekinder empfanden die Musik so, als wenn ihnen die Mama eine Geschichte erzählte, nur noch viel geheimnisvoller und wunderbarer. Die Menschenfrau schien ebenfalls ganz versunken zu sein in diese Musik. Sie spielte lange, ganz für sich allein und wusste sicherlich nicht, wie viele Zuhörer sie hatte.
Auf einmal hörte Helene, dass jemand in der Mäusesprache dazu sang und als sie sich umschaute, wer das war, da entdeckte sie ihr kleines Sorgenkind, das ganz glücklich aussah und zu den zauberhaften Tönen, die den Garten erfüllten, einen entzückenden Gesang darbot. Der Mensch schien nicht darauf zu achten, aber die Mäuse merkten eine nach der anderen, dass Pip zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich zu sein schien und dass sie so wunderschön sang, wie die Großen es selbst bei den Meisen im Frühling bisher nicht gehört hatten. Eine Maus die singen konnte – so etwas hatte es noch nie gegeben!
Als es schon fast völlig dunkel war, ging die Menschenfrau in ihr Haus, aber die Mäuse hatten gar keine Lust, hinauszugehen. Sie veranstalteten in der Feier-Höhle ein großes Freudenfest für Pip, die ihr Talent entdeckt und ihre Traurigkeit überwunden hatte und das kleine Mäusemädchen aß zum ersten Mal mit großem Appetit.
Ende
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