Der Zeitlauscher - 2.Teil

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Markus Veith

Mitglied
Die Familie verbrachte ihren Sommerurlaub in Italien, in der Nähe von Rom. Und selbstverständlich stand eine ausgiebige Besichtigung der Weltstadt auf dem Freizeitprogramm. Die Eltern wollten alles sehen und fotografieren. Pantheon, Trevibrunnen, Petersdom, Sixtinische Kapelle. Alles. Sie klapperten mit ihren Kindern die Sehenswürdigkeiten ab, als bestehe die Gefahr, die ewige Stadt könne tags darauf zu Staub zerfallen.
Konrad hasste Städte von diesen Ausmaßen. Große Städte bedeuteten nicht nur Stress und Hektik, sondern für Konrad vor allem viele Stimmen. Er konnte sie zwar ausknipsen, aber in diesem turbulenten Millionenstadtgewimmel aus Verkehr und Schirme schwenkendem Tourismus glich die Barriere in seinem Kopf einem Holzzaun, gegen den sich ein Zirkuselefant lehnte.
„Junge, das ist Kultur. Das muss man einfach gesehen haben“, hatte sein Vater immer wieder gesagt.
Ja, er wollte es sich ja auch anschauen. Aber in seinem Gehirn knirschten die Stützmauern unter dem Gewicht der Metropole.
Sie besuchten das Kolosseum. Die junge Frau mit dem bunten Regenschirm redete ununterbrochen, und Konrad war es längst müde geworden, ihren epochalen Erklärungen zu folgen. Er hatte Kopfschmerzen, und das an Bersten erinnernde Geräusch in seinem Kopf wurde von Minute zu Minute bedrohlicher.
„Blume“, quengelte er.
„Halt noch durch“, sagte sie beruhigend. Sie hatte bereits den ganzen Tag das angestrengt verzerrte Gesicht ihres Bruders beobachtet. „So lange kann’s nicht mehr dauern.“
„Ich will aber nicht mehr. Das tut weh.“
Seine Schwester strich ihm über die Wange. „Was tut dir denn weh?“
„Na ... alles halt. Ich will hier weg.“
„Komm, wir gehen mal runter in die Arena. Papa, dürfen wir? Bitte, ja?“
„Ach, macht doch, was ihr wollt,“ flüsterte ihr Vater resigniert. „Kulturbanausen. Ihr seid unmöglich, wisst ihr das?“
Sie trennten sich von der Gruppe und liefen durch den jahrhundertealten Staub des Bauwerks. Bald konnten sie die unermüdlich redende Frau nicht mehr hören.
Aber Konrad hörte. – Er versuchte, es zu verdrängen. Aber er konnte es hören. Alles. ...
Die Massen hatten gekreischt und gebrüllt und lauthals angefeuert. Scharfes Klirren von Metall auf Metall. Hasserfüllte Rufe. Ringsum fielen Menschenstimmen in den Sand, stöhnend und sterbend. Löwengebrüll. Eine Frau lief auf Konrad zu, flehte laut und verzweifelt um Gnade. Direkt neben ihm hatte das Brüllen sie eingeholt. Dann Knirschen. Gurgelndes Verstummen. Schmatzen. Auftosender Jubel.
„Morituri te salutant!!”
Konrad hielt sich schreiend die Ohren zu und sackte in sich zusammen. Aber das Sterben um ihn herum durchtönte die verkrampften Hände. Seine Eltern kamen gelaufen.
„Mutti!“ rief Blume angstvoll. „Er kann sie hören! Er kann sie alle hören. Er muss hier weg! Schnell!“
* * *
Der Spezialist, den seine Eltern kurz darauf mit ihm aufsuchten, sagte, der Junge habe in seinem Kopf so etwas wie eine Empfangsstation für die Zeit. So drückte er sich jedenfalls aus.
„Eine Empfangsstation?“ Der Vater schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie meinen Sie das?“
Der Arzt hob die Schultern. „Ich muss gestehen, dass ich mir selbst nicht erklären kann, wie er das macht oder wie das generell möglich ist“, gab er zu. „Ich will versuchen, es Ihnen anschaulicher zu beschreiben: Stellen Sie sich ein Radio vor. Ein Knopfdruck und es geht an. Sie betätigen den Frequenzsucher und können eine Radiosendung hören. So oder so ähnlich funktioniert es wohl auch bei Ihrem Sohn. Da ist irgendetwas in seinem Kopf, das die Geräusche längst vergangener Zeiten wie eine Antenne empfängt und sie ihn hören lässt wie eine Rundfunksendung. Je nachdem, wo er sich befindet, kann er diese Empfangsanlage auf die Begebenheiten in der Vergangenheit einstellen. Eben wie einen Frequenzsucher. – Ich hoffe, er macht das nicht hier in meiner Praxis. Sonst müsste ich ihn an die Schweigepflicht erinnern.“ Er gluckste fahrig, verstummt aber, als er merkte, dass niemand sonst lachte. „Nun ja. Jedenfalls hat sich bei Ihrem Rom-Besuch gezeigt, dass sich offenbar besonders laute und vor allem extreme Ereignisse von allein in Konrads Kopf bemerkbar machen können. Ohne sein Dazutun und ohne, dass er sie kontrollieren oder wieder abstellen kann.“ Er legte die schlanken Hände aneinander. „Wissen Sie, ich habe mir da so meine Gedanken gemacht ... Nehmen wir mal an, Ihr Sohn könnte ein ... Feingefühl für sein Talent entwickeln. So dass er weiß, in welche Zeit er hineinhört. – Oder in welche Epoche.“
Der Arzt stand auf, ging um den Schreibtisch und streifte um die dort sitzenden Eltern herum. Seine Finger kratzten nervös in seinen Bartstoppeln. Konrad und Blume saßen auf der Patientencouch und hörten zu. Der Junge bemerkte das euphorische Funkeln in den Augen des Spezialisten.
„Mein Herr", der Mann beugte sich von hinten über die Schulter des Vaters, „Ihr Sohn ist ein Phänomen. Darüber sollten Sie und ich uns klar werden. – Er ist ... ein Zeitlauscher. Jemanden mit so einer Fähigkeit gab es meines Wissens noch nie. Bedenken Sie, was es für die Wissenschaft bedeuten würde, wenn Konrad lernt, dieses unbezahlbare Talent unter Kontrolle zu bekommen. Das wäre eine Sensation! Ich bin wirklich froh, dass Sie zu mir gekommen sind.“
Blume legte einen Arm um die schmalen Schultern ihres Bruders. Sie sah sehr ernst aus.
„Ihr Sohn hörte die Gladiatorenkämpfe und die Massenhinrichtungen der verfolgten Christen. Die fanden zu Zeiten Kaiser Neros statt. Vor zweitausend Jahren. Und nun bedenken Sie die weiteren Möglichkeiten. Stellen Sie sich vor, wir bringen ihren Sohn zu anderen markanten Stätten der Geschichte. Was er dort alles hören und weitergeben könnte?“ Der Arzt war in verzückte Begeisterung geraten und wandelte gestikulierend durch sein Sprechzimmer.
„Canossa in Italien. Mit welchen Worten demütigte sich Heinrich der Vierte vor Papst Gregor? Wie verlief der Prozess um Galilei? Oder bleiben wir bei Nero. Was sang er, als die Flammen Rom fraßen? – Und rätselhafte Persönlichkeiten? Rasputin? Nostradamus? Jesus Christus? Was waren seine genauen Worte bei der Bergpredigt? Wie klang seine Stimme? – Ludwig von Bayern, Edgar Allen Poe, Marylin Monroe, Elvis Presley: Ungeklärte Tode, über die seit Jahrzehnten das allgemeine Interesse rätselt. Adolf Hitler – vielleicht ist er ja gar nicht tot?“
Konrads Mutter sog scharf die Luft ein. Aber der Mann fuhr unbeirrt weiter fort: „Und wie weit kann Konrad noch zurücklauschen? Viertausend, fünftausend Jahre? Zehntausend? Was ist dran an den Kapiteln des alten Testamentes? Rissen die Trompetenklänge wirklich Jerichos Mauern ein? Ermöglichte eine Teilung des Roten Meeres den Israeliten die Flucht vor den Ägyptern? Was sagte Gott dem Mose auf dem Berg Sinai? Und wie weit geht es noch zurück? Eine Million Jahre? Eine Milliarde? Wie artikulierten sich die Neandertaler? Was geschah mit den Dinosauriern? – Wie entstand die Erde?!“
„Genug jetzt! Schluss mit diesem Unfug!!“ schrie Konrads Mutter dazwischen. „Hier bleiben wir nicht länger. So einen verrückten ...“ Sie beherrschte sich und hakte schroff ihren Arm unter den ihres Mannes. „Hermann! Komm! – Schämen sollten Sie sich!“ Und ohne weitere Worte zu verlieren, nahm sie Konrad bei der Hand und schob Gatten und Sohn aus der Praxis. Der Vater stolperte vor ihr her und stammelte nur hilflos. „Aber Marianne, so hör’ doch mal ...“ Der Arzt rief ihnen noch im Hausflur hinterher und klang dabei recht kläglich.
Blume folgte ihrer Mutter einfach. Sie lächelte.
* * *
Die Familie beschloss umzuziehen. Raus aus der Stadt.
Der Vater von Konrads Mutter besaß ein uraltes Haus am Meer, in dem er selbst wohnte und das schon seit Generationen der Familie Bode gehörte. Es stand auf einer niedrigen Klippe, nicht weit entfernt von einem kleinen Küstendorf. Auch Konrads Vater stammte aus dieser Gegend. Hier hatten sich die Eltern einst kennen und lieben gelernt, waren dann aber nach Konrads Geburt in die Stadt gezogen, wo es für sie bessere Arbeit gegeben hatte. Blume jedoch hatte ihre ersten vier Lebensjahre hier an der Küste verbracht.
Der alte Mann freute sich, als die vier ihn baten, sie bei sich wohnen zu lassen. Das hübsche, alte Haus bot Platz für alle und wurde nun wieder mit mehr Leben gefüllt. Der sechsjährige Konrad und seine Schwester besuchten die Dorfschule und ihre Eltern fanden Beschäftigung auf einem nahe gelegenen Bauernhof.
Eigentlich hätten sie alle fünf gut ganz ohne Arbeit leben können, denn der Großvater war recht wohlhabend. Er ließ die Familie kostenlos bei sich wohnen, machte aber zur Bedingung, dass sie zumindest bis zu seinem Tode und dem folgenden Erbe für sich alleine sorgen mussten. Damit war letztendlich auch der Vater einverstanden, der zunächst etwas gemurrt hatte.
Für Konrad folgten herrliche Jahre. Endlich konnte er leben wie jedes andere Kind in seinem Alter auch, und niemand in dieser Gegend sollte jemals etwas von seiner Begabung erfahren. In der Schule lernte er fleißig, blieb aber, was Freundschaften betraf, sehr zurückhaltend.
In seiner freien Zeit radelte er durch die Küstengebiete, und abends saß die Familie mit dem Großvater vor dem Kamin. Wenn dann das Feuer knisterte, hingen die beiden Kinder an den erzählenden Lippen des alten Mannes, der ihnen von den Geschichten der Seefahrer, von Meergeistern und Nixen und den geheimnisvollen Wald- und Moortrollen erzählte.
„Och, komm, bitte, Opa, nur noch eine.“
„Frag deine Mutter. Es ist schon spät.“
„Na ja ... Es ist schon neun durch.“
„Ach, komm schon, Marianne. Du hörst deinem Vater doch selbst am liebsten zu.“
„Petze. Nun gut. Aber ich darf mir eine Geschichte aussuchen.“
„Die von der Nixe und dem Seemann.“
„Woher weißt du das?“
„Weißt du, meine Liebe“, schmunzelte der Großvater, „du bist schon etwas länger meine Tochter.“
An diesen Abenden fühlte Konrad sich geborgen – und in Ruhe. Die lauten Jahre seiner Kindheit wechselten in die leise flüsternden Jahre seiner Jugend.
***
Natürlich vergaß Konrad nicht, mit welcher Fähigkeit ihn das Schicksal ausgestattet hatte. Er hatte nicht vor, sich sein Leben lang gegen diese Stimmen und Geräusche zu wehren. Er wollte mit ihnen leben. Vielleicht sogar einen Nutzen in ihnen finden. Einen Nutzen, der den Menschen nicht alle Geheimnisse der Welt wie eine Radiosendung präsentierte.
„Ich weiß, was Mutti meint“, erklärte ihm Blume eines Nachmittags und stellte den Mixer aus. Aus dem Radio auf dem Küchentisch sang ein Knabenchor. „Sie sagt, die Menschen seien nicht reif für das Wissen, das du ihnen durch deine Lauscherei beschaffen könntest. Es würde zu großem Streit führen. Vielleicht sogar in der ganzen Welt. Gibst du mir bitte den Löffel.“
Konrad reichte ihn ihr. Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Aber wieso? Ich würde bloß weitergeben, was andere vor mir gesagt haben. Was ist daran schlimm?“
„Nun,“ wollte Blume beginnen. Doch dann überlegte sie, leckte sich nebenbei Teigreste von den Fingern und reichte ihrem Bruder den süßverklebten Mixer zum Naschen. „Stell dir mal vor, du hörst in der Vergangenheit, dass wichtige Personen der historischen Geschichte ... hm ... Dinge gesagt oder getan haben, die das Bild, das wir heute von ihnen und ihren Taten haben, vollkommen verändern würden. Weil es nicht so überliefert worden ist, wie du es aufdecken könntest. So, machst du den Ofen auf? – Vielleicht gab es sogar den ein oder anderen Menschen überhaupt nicht, von dem wir heute glauben, dass es ihn gegeben hat. Oder einige Ereignisse waren gar nicht so, wie wir vermuteten. Das wird einige Leute sicherlich sehr verwirren.“ Sie lächelte Konrad an, der nachdenklich an einem Zimtstern mümmelte und sich mit ganz vielen, tiefen Stirnfalten bemühte, zu verstehen.
Blume nahm einen Schokoladenweihnachtsmann aus der Schale mit Süßigkeiten. „Zum Beispiel den Weihnachtsmann“, sagte sie und schälte die farbenfrohe Verkleidung ab. „Mal angenommen, du erfährst eines Tages durch zufälliges Lauschen in der Vergangenheit, dass es ihn nicht gibt.“
Konrad machte eine verächtliche Miene. „Dazu brauche ich nicht in die Vergangenheit hören“, sagte er. „Den Weihnachtsmann aus dem Dorf spielt der Apotheker.“ Sprach’s und biss grinsend der Schokofigur in ihrer Hand den Kopf ab.
Blume lachte schallend und nahm ihren Bruder in den Arm. „Siehst du, Konrad, du weißt das, weil du ein kluger Junge bist. Aber ich denke mir, es ist manchmal wirklich besser, die anderen Leute dumm zu lassen. Durch Lernen wird man klug. Lass die Leute ruhig selbst herausfinden und erkennen, was sie von dir einfach hören könnten. Zumindest, was die Vergangenheit betrifft. – Machen wir noch ein Blech voll?“
Seitdem hatte Konrad gebührenden Respekt vor seiner Fähigkeit, mehr zu hören als andere Menschen. Sein Erlebnis in Rom glich einer wunden Narbe und ließ sich nicht so einfach vergessen. Auf gar keinen Fall wollte er, dass ihm so etwas Schockierendes noch einmal zustieß. Davor hatte er Angst. Richtige Angst. Er beschloss, seine Begabung zu trainieren, zu verfeinern und auszuarbeiten, damit er sie immer und überall unter Kontrolle halten konnte.
Zunächst verbrachte er viele, viele Nachmittage damit, vor dem Haus am Rande der niedrigen Klippe auf den Steinen zu sitzen und seinen eigenen leisen Worten zu folgen, die er zuvor dort gelassen hatte. Er ließ sein Gehör langsam – ganz, ganz langsam – zurück in die Zeit schleichen. Stundenweise. Und bald, nach einigen Wochen Übung, gelang es ihm, seine Empfangswahrnehmung für die Zeit so genau zu justieren, dass es ihm möglich war, Minuten, sogar nur Sekunden zurück ins Früher zu huschen.
Später trieb er sich öfter im Dorf herum. Niemanden störte der kleine, sieben oder acht Jahre alte Junge, der mal im Metzgerladen, mal in der Bäckerei oder in der Apotheke brav lächelnd auf einem Stuhl saß, die hereinkommenden Leute höflich begrüßte und von älteren Damen ab und an etwas für die Sparbüchse bekam
„Haben Sie schon gehört, dass drüben bei den ...“
„Was Sie nicht sagen.“
„Ja, doch.“
„Nein! Wirklich?“
„Unsere Nichte hat jetzt was Kleines bekommen.“
„Och, uuund?“
„Sagen sie mal, bei Ihren Nachbarn, ... da stehen vor der Tür immer so eigentümliche ...“
„Ja, schrecklich, nicht wahr?“
Konrad experimentierte mit seiner Begabung und rückte dabei immer weiter in die Vergangenheit. Und seine Versuche wurden von Erfolg gekrönt. Bald bekam er ein sehr feines Gespür dafür, um wie viele Stunden, Tage, Jahre er sein Gehör zurückschweifen ließ. Er vermochte genau zu sagen, in welche Zeit er hineinhörte und konnte sogar das Datum bestimmen. Und irgendwann entwickelte er eine Methode, die es ihm ermöglichte, seine Wahrnehmung exakt auf einen ganz bestimmten Zeitpunkt aufsetzen zu lassen. Wie eine Schallplattennadel zwischen zwei Liedern einer LP. Ein enormer Vorteil, der ihm übrigens in der Schule vor mancher Verlegenheit an der Tafel und zu einigen besseren Zensuren verhalf. Er fand, dass diese kleine Hilfe mit Blumes Vorsatz ‚Durch Lernen wird man klug’ durchaus zu vereinbaren war.
Auf langen, einsamen Spaziergängen horchte er die ganze Umgebung ab. Die Küste ist verschwiegen, aber sie ist nicht stumm. Das ist sie nie gewesen.
Einmal vernahm er auf einem Feldweg ein verhaltenes, zehn Jahre altes, recht rhythmisches Quietschen, mit dem er zunächst nichts anfangen konnte. Erst einige Jahre später war er sich nach näherem Zuhören grinsend sicher, dass das Auto, von dem das Gequietsche einst stammte, zu jenem Zeitpunkt beschlagene Scheiben gehabt haben dürfte.
Bald schon konnte er Blume Geschichten erzählen, die sich wirklich ereignet hatten. Zu Hause malte er sie in mehreren Bildern wie einen Comic. Aber oft gingen sie gemeinsam hinaus, streiften durch die Gegend und Konrad zeigte seiner Schwester an Ort und Stelle, wie es sich zugetragen hatte.
So zeigte er ihr einen Platz zwischen den grasigen Dünen, wo sich um die Jahrhundertwende ein junges Pärchen heimlich getroffen hatte. Sie war eine Magd, ein armes, mittelloses Mädchen, und er der Sohn eines reichen Gutsherren. Es waren Begegnungen voller Romantik und Liebe, dort in der sandigen Dünenmulde, versteckt vor den strengen Augen des Vaters, der mit der heimlichen Liaison des Sohnes natürlich nicht einverstanden war. Der verliebte Jüngling schrieb wunderschöne Gedichte für seine Angebetete, die er ihr stets vortrug. Und Konrad rezitierte sie Blume, die sich mit geschlossenen Augen genussvoll von ihnen verzaubern ließ, Jahrzehnte, nachdem sie das erste Mal vorgelesen worden waren.
Doch auch viel Schreckliches erlauschte Konrad. Im nahen Moor entdeckte er einen Mord, bei dem ein zorniger Ehemann seine Frau und deren Geliebten aneinandergefesselt und in den Morast gestoßen hatte. Während die beiden versanken und dabei laut um Hilfe und Gnade flehten, hatte der gehörnte Gatte sie lauthals verspottet und übel beschimpft. Und als die Schreie schließlich in einem Gurgeln erstickt waren, hatte der Mörder immer noch am Morastufer gestanden, abwechselnd hysterisch lachend und bitterlich weinend. Kurze Zeit darauf hatte er sich der Dorfjustiz gestellt, wie Konrad herausfand. Der Junge war akustisch dabei, als der Delinquent vernommen und verurteilt und öffentlich auf dem Marktplatz hingerichtet wurde.
In einem nahen Wald beschrieb Konrad seiner Schwester, wie sich dort im zweiten Weltkrieg zwei desertierende Soldaten mehrere Monate lang wie die Räuber versteckt gehalten hatten. Dann hatten sie weiterflüchten müssen; der eine verletzt, da er bei einem Diebstahl auf einem Bauernhof angeschossen worden war.
In der Nähe des Dorfes gab es einen Friedhof mit Gräbern, die teilweise über hundert Jahre alt waren.
„Nun komm schon, Blume.“
„Was, um Gottes willen, hast du vor?“
„Friedhöfe sind echt klasse. Du glaubst gar nicht, was hier alles rumliegt.“
„Konrad!! Ich find’ Friedhöfe doof. Sie sind langweilig und buchstäblich tot.“
„Nee, eben nicht. Schau mal hier, diese Gräber. Das hier. 1901. Und das hier. 1880. Die sind teilweise über hundert Jahre alt. Und noch mehr.“
„Ja und? Die gibt es auf jedem Friedhof. Die Toten sind schließlich hier, um in Ruhe gelassen zu werden.“
„Sie sind aber nicht ruhig.“
„Wie meinst’n das?“
„Na, ich kenne alle, die hier liegen. Die hier zum Beispiel. Agnes Ramundsen. Das war so eine Klatschbase. Hat allen und jedem erzählt, was keiner wissen wollte. Ein richtiges Info-Büro. Aber irgendwann hat man ihr keine Gelegenheit mehr gegeben, über irgendwas zu tratschen. Also ist sie dazu übergegangen, sich Gerüchte auszudenken. Wilde Geschichten, sag’ ich dir. Als man dann merkte, dass sie nur noch log, wollte absolut niemand mehr was mit ihr zu tun haben. – Oder hier: Friederich van Frey. Den kenn ich auch. Der soll ein Verhältnis mit Grete Hörnlens gehabt haben. Das war die Frau vom Bäckermeister. Die liegt da vorne irgendwo. Das mit dem Verhältnis habe ich von Frau Ramundsen erfahren. Aber das war eine der Geschichten, die wirklich stimmten. Hab die beiden Süßholz raspeln hören. Du schreist dich weg, was die für Liebesformeln hatten damals. – Der dort, Otto Wrede, der ist noch nicht so lange tot. Jahrhundertwende. Der war Erfinder. Hat einfache Dinge furchtbar verkompliziert und sich jedes Mal schrecklich aufgeregt, wenn er hörte, dass es seine frischen Erfindungen bereits in viel praktischerer Machart gab. – Dieser hier war ein dorfbekannter Trinker. Arme Sau. Hat bis zur Bewusstlosigkeit gesoffen. Ah, und bei dieser Frau weiß ich nicht recht, was ich glauben soll. Margarete Baaleven. Man munkelte, sie sei in Wirklichkeit eine Adelige gewesen ...“
Blume wurde an diesem Tag abwechselnd amüsiert und betrübt. Vor ihrem staunenden, inneren Auge wurden verwitterte Schriften aus Stein zu Menschen, die alle gelebt, gefühlt und geliebt hatten. All ihre längst vergangenen Existenzen wurden durch Konrads Erzählungen aus der Kiste des letzten Jahrhunderts hervorgehoben und abgestaubt.
* * *
Kurz darauf starb der Großvater der Geschwister.
Das Herz des alten Bode hatte über Nacht einfach aufgehört zu schlagen. Man begrub ihn auf dem selben Friedhof, der Konrad und Blume bereits so viele Geschichten offenbart hatte. Nun bettete man hier den verstummten Märchenerzähler zu seiner letzten Ruhe.
Sein Tod traf die Familie schwer. Sie erbten zwar ein beachtliches Vermögen, doch hätte jeder der vier lieber weiterhin mit dem alten Herrn zusammengelebt. Vor allem Konrad. Dem Jungen fiel es sehr schwer zu begreifen, dass der Großvater nicht mehr unter den Lebenden weilte. Schließlich hätte er es nur zulassen brauchen, und das ganze Haus wäre für ihn durchwebt worden von jenem wohltuenden Bariton des Verstorbenen. Wenn er es gedurft hätte ...
„Nein!“
„Och, bitte, Papa. Nur ein bisschen.“
„Konrad, ich habe Nein gesagt und du weißt, was wir abgemacht haben, als wir hier eingezogen sind. Es bleibt dabei: Nicht innerhalb der Familie.“
„Aber warum denn nicht?“
„Weil ich es dir nicht erlaube. Darum. Das ... das ist Privatsphäre.“
„Ich weiß gar nicht, was das ist.“
„Ja, ganz genau. Und eben weil du es nicht weißt, möchte ich nicht, dass du in unserem Leben herumlauscht, hörst du? Was du im Dorf aufschnappst ist mir egal, so lange niemand von deiner Zeitlauscherei Wind bekommt.“
Doch wie es nun mal so ist, merkt man erst mit dem Verlust eines Menschen, wie enorm viel er im täglichen Leben bedeutete. Plötzlich war niemand mehr da, der mit Konrad und Blume durch die Dünen spazierte, ab und zu mal stehen blieb und die Kinder lauschen ließ, wie das grasige Land sein windiges Lied summte. Niemand mehr da, der während des Essens leise über die für ihn stets zu faden Speisen seiner Tochter moserte. Besonders die Abende waren sehr still geworden. Niemand mehr da, der gemütlich eine Pfeife rauchend im großen Sessel lehnte und vor dem Kamin Geschichten erzählte. Da war kein schweres Atmen mehr, das in Schnarchen überging, je später es wurde. Und selbst der süßliche Geruch des Tabakqualms, der sich noch einige Wochen gehalten hatte, verflüchtigte sich mehr und mehr.
Lange Abende sagte niemand ein Wort. Das einsam knisternde Feuer stumpfte die Gedanken ab. Das Schweigen tat weh.
Doch eines späten Tages brach der Vater es schließlich:
„Konrad, sei so gut. Erzähle uns Großvaters Geschichten."
Der Junge lächelte und schloss die Augen, tauchte ein in die vergangenen Abende dieses Kaminfeuers. Und dort fand er sie alle: die Märchen und Geschichten. Der alte Mann hatte sie der Zeit vermacht. Konrad musste sie bloß hervorholen und wiedererzählen, von Mund zu Mund, im gleichen phantasiegeschmückten Wortlaut.
Blume lauschte den überlieferten Worten ihres Opas und – sie wusste nicht recht, ob sie es sich vielleicht bloß einbildete – aber sie glaubte, das Feuer, das auf den Holzscheiten tanzte, sei in diesem Moment eine Spur heller und lebendiger geworden.
* * *
Obwohl sie nun genügend Geld hatten, hörten Konrads Eltern nicht auf zu arbeiten. Die Hälfte der Erbschaft ließen sie auf der Bank, für die andere Hälfte kauften sie sich ein nettes, kleines Lokal im Dorf und machten daraus ein Kaffee- und Teehaus. Sie nannten es ‚Bodes Kate’, da der Großvater in der Umgebung viel bekannter war, als der eigentliche Name der Familie. Das hatte den unbeabsichtigten Effekt, dass die Vier von ihren Gästen und den Dorfbewohnern sehr bald und ganz automatisch den Mädchennamen der Mutter aufgedrückt bekamen. Bodes Kate kam besonders im Sommer bei den Touristen sehr gut an. Aber auch viele Einheimische trafen sich hier gerne zu einem Plausch bei einer Tasse heißen Getränks in gemütlicher Atmosphäre.
Konrad und Blume halfen oft aus. Die Sommerabende verbrachten die Geschwister oft am Strand unterhalb der Promenade und des Teehauses. Hier lugten an einigen Stellen große, vom Meer glattgeleckte Steine aus dem Sand. Auf denen saßen sie oft.
„Bis wohin kamst du heute?“
„Juli 1735.“
„Und?“
„Die üblichen Sorgen. Ob die Ernte gut wird, ob die nächste Sturmflut wieder so heftig wird. Ansonsten nicht viel neues Altes. Jedenfalls nicht hier. Im Grunde ändert sich irgendwie nie etwas. Man spricht über den Krieg in anderen Ländern. Damals kloppten sich die heutigen Amerikaner noch nicht im Golf, sondern untereinander. Man zerreißt sich die Mäuler über den Adel. Aber ob damals über Ludwig und Madame Pompadour oder heute über Charles und Diana. Das Gerede klingt gleich. Wenn ich etwas an einen Tisch bringe und Gesprächsfetzen mitkriege, muss ich mich manchmal vergewissern, mit welchem Gehör ich in dem Moment eigentlich höre.“
„Denkst du noch ab und zu an diesen Spinner, bei dem wir damals waren? Der, der dich untersucht hat.“
Konrad verstellte die Stimme und rieb sich die Hände. „Ihr Sohn ist eine Sensation, mein Herr. Ich bin so froh, dass sie zu mir gekommen sind.“ Er lachte, wurde aber schnell wieder ernst, als er Blumes Miene bemerkte. „Klar, denke ich noch daran. – Historische Lauschexpeditionen. – Ach, ich weiß nicht. Es wäre sicherlich mal interessant, in etwas Weltgeschichtliches hineinzuhören, aber ... Himmel, Blume, das waren zweitausend Jahre. In Sekundenschnelle mal eben so überbrückt. Puh.“
„Aber damals warst du jünger und wusstest noch von nichts, weder von Christenverfolgung oder Gladiatorenkämpfe, noch von deinem Talent. Du warst erst fünf.“
„Ich brauchte nicht Bescheid zu wissen, um zu hören, wie grauenhaft es in der Arena gewesen sein musste. Ja, klar bin ich heute älter und weiß mehr über das, was ich gehört habe, aber trotzdem ... Die Vorstellung, noch einmal einen solchen Sprung über zwei Jahrtausende zu wagen und Ähnliches zu erleben ... Das ... das packe ich nicht. Nicht ohne Vorbereitung. Niemals. – Ich habe doch genügend Zeit. Ich kann mich Schritt für Schritt zurücktasten. Tag für Tag und Jahr für Jahr. Und, ich denke, dass ...“
„Hey, Kleiner“, unterbrach ihn seine Schwester liebevoll. „Ich habe nicht vor, dich zu überreden.“
„Das weiß ich doch. Ich ... ich habe nur einfach einen ziemlichen Horror vor der Vorstellung. Ehrlich, das eine Mal hat mir gereicht.“
Im folgenden Herbst machte Konrads Schulklasse eine Fahrt nach Krakau. Natürlich wurde auch ein Ausflug nach Auschwitz angeboten. Als kleinen geschichtlichen Exkurs. Wo man doch schon mal in der Nähe war ... Konrad fuhr an jenem Tag nicht mit. Er entschuldigte sich, er habe Magenschmerzen.
Nichtsdestotrotz juckte ihn daheim immer wieder die Neugier. Besonders ein bestimmter Bereich übte enorme Faszination auf ihn aus. Und das war nicht die Jahrtausendmarke, sondern vielmehr die Vergangenheit seiner Ahnen. Schließlich lebte er in einem Haus, das schon seit Generationen der Familie gehörte. Es musste mit vergangenen Stimmen randvoll sein, und die interessierten ihn viel mehr, als der Klatsch im Dorf vor hundertfünfzig Jahren.
Aber seine Eltern hatten es ihm ja verboten. Strikt. Beide. Und auch das Wort ‚Privatsphäre’ hatte man ihm inzwischen erklärt. Er war alt genug, um zu ahnen, was seine Eltern befürchteten, was er zu hören bekäme, würde er in bestimmten Zimmern in bestimmte intimere Zeiten hineinlauschen.
Natürlich hätte er es dann und wann versuchen können, aber er war sich seiner Unbegabung sich in Gegenwart der Mutter nichts anmerken zu lassen leider zu sehr bewusst.
Doch der Gedanke reizte Konrad schon sehr, zumindest ein klein wenig bei seinen Ahnen zu spionieren. Er könnte die letzten vierzig Jahre ganz einfach überspringen. So würde er von seinen Eltern gar nichts mitbekommen.
Also tat er es. – Und er musste bemerken, dass die Vergangenheit ihres alten, hübschen Hauses am Meer nicht immer so sauber und idyllisch gewesen war, wie es heute auf ihn wirkte.
Konrad wurde Zeuge einer unglücklichen Liebe, die fast zweihundert Jahre zurücklag. Der junge Mann war bei einem Duell ums Leben gekommen, bei dem er die Ehre seiner Geliebten hatte verteidigen wollen, die sein Gegner beleidigt hatte. So genau hat Konrad das nicht verstehen können. Aus seiner Sicht war die Beleidigung lächerlich. Eine Lappalie ... heutzutage. Nachher schämte er sich über seine Belustigung, denn das junge Mädchen hatte sich aus Gram vom Dachgiebel gestürzt. Mit einem Strick um den Hals. – In solchen Momenten war Konrad froh, nur in die Zeit hören und nicht sehen zu können.
Und dann die Sache mit dem Homosexuellen, der vor fast einem Jahrhundert in diesem Haus gelebt hatte, und dessen Neigung zufällig bekannt geworden war. Ein Riesenskandal. Seine Familie hatte ihn kurzerhand vor die Tür gesetzt, und alles weitere der Affäre wurde ganz einfach totgeschwiegen. Konrad schämte sich seiner Ahnen, nach dieser Geschichte.
Bei einer anderen wusste er zunächst gar nicht, ob er lachen oder weinen sollte, denn eine Vorfahrin war geistig verwirrt gewesen und hatte sich eingebildet, sie sei ein Esel. Konrad war froh, dass seine Eltern fort waren, denn er musste einfach lauthals lachen, als er ihr Iii-Aaah!!-Gebrüll und das Fluchen der unglücklichen Verwandten hörte, die stundenlang versucht hatten, die Störrische aus dem Hause zu zerren.
Ebenso amüsiert reagierte er, als er herausfand, dass sein Urururgroßvater eine echte Landplage gewesen sein musste. Wo und wie und wann immer er konnte hatte der seine Zeitgenossen geneckt und geärgert. Und natürlich hatte besonders die eigene Familie unter seinen Streichen leiden müssen. Noch im hohen Alter von achtzig Jahren waren von ihm Schuhe an Dielen festgenagelt oder verknotet worden und in der Küche hatte er seinen Schabernack mit dem Essen getrieben, Gewürze vertauscht und vieles mehr. Den Spaß, den der Alte dabei gehabt hatte, wurde ihm am Ende dann allerdings zum Verhängnis. Sein letzter Streich war zu köstlich: Eine Nichte hatte sich in ein Polsterkissen niedergelassen, das er zuvor mit einer Nadel präparierten hatte. Der Lachanfall war zu viel für ihn gewesen, aber Konrad konnte sich vorstellen, dass der alte Greis mit diesem Ende zufrieden war.
Als der Zeitlauscher jedoch um gute dreißig Jahre zur Gegenwart zurückrutschte, war von witzigem Klamauk keine Spur mehr zu hören. Sein Urgroßvater war ein übler Haustyrann gewesen, der seine Frau und Kinder angeschrien und oft, ohne jeglichen Skrupel, den Gertenstock benutzt hatte. Es dauerte eine Weile bis Konrad das verdaute, erst recht, nachdem ihm klar wurde, dass der kleine misshandelte Junge, den er siebzig Jahre zuvor schreien hörte – sein eigener Großvater war.

(Fortsetzung folgt)
 



 
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