Der Zeitorgasmus

Cafard

Mitglied
Am Morgen die fantastische Nachricht, die Nachricht, dass die Konferenz ausfällt. Sie wird nicht nachgeholt, offenbar waren die Inhalte kaum von bedeutender Dringlichkeit.

Für mich ergab sich plötzlich ein Gewinn von mehr als fünf Stunden Zeit für süßes Nichtstun, jedenfalls ein gravierender Gewinn an Freiheit. Ich jubelte innerlich, und ich hatte das Bedürfnis, dem jähen Empfinden einen Namen zu geben, ich taufte dieses Gefühl Zeitorgasmus.

In den Zeiten, wo es mit den ersten richtigen Orgasmen losging, fiel manchmal die sechste und siebte Stunde aus, meistens wegen der Erkrankung eines Lehrers. Die Klasse flippte aus vor Begeisterung, ich nicht, ich war schon früher kein Typ, der leicht ausflippte, ich freute mich, aber ohne laut zu jubeln, weder innerlich noch äußerlich. Inzwischen hat sich meine Fähigkeit zur stillen Begeisterung gut entwickelt.

Während der Heimfahrt kam mir das Dasein der Rentner und Pensionäre in den Sinn, ich beneidete sie, falls sie gut versorgt sind natürlich, und gleichzeitig bedauerte ich sie...

Am Stichtag der Entbindung von beruflichen Pflichten könnte sich das Gefühl von einem gigantischen und langanhaltenden Zeitorgasmus einstellen, der plausible Grund für meinen Neid.

Andererseits wird man sich an dieses Glück schnell gewöhnen, der weitgehende Wegfall von Fremdbestimmung könnte schließlich gar zu einem Problem werden, meinetwegen ein Luxusproblem, ein Problem von Zeitluxus.

Als ich die Autobahn verließ, bedauerte ich alle Rentner und Pensionäre dieser Welt, ich war mir sicher, dass sie allmählich immer weniger orgasmusfähig sind, womit ich selbstverständlich die Zeit und die Freiheit meine, das tiefe Erleben von Zeit und Freiheit, dieses kostbare Geschenk, diese Explosion von losspringenden Zeitwellen.

All dies konnte ich gegenüber der Leiterin nicht ausdrücken, sie litt an starken Ohrenschmerzen, aber dafür hab ich mein Schreiben, in der Welt des Schreibens kann ich mich gehenlassen.

Wie schamlos, wie gut!
 



 
Oben Unten