Der zerbrochene Spiegel

Acton

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Unendlich viele Teile. Unterschiedlich groß, aber alle noch da. Nur eben zerbrochen, zersplittert, kaputt. Noch Teil eines Ganzen, aber ohne jegliche Verbindung. In jedem der Teile konnte sie noch ihr Gesicht erkennen, unzählbar viele Gesichter, die sie allesamt anstarrten. Spöttisch, wütend, traurig, enttäuscht resigniert, nie wieder zu einem einzigen zusammensetzbar.

Wie gut alles einmal war. So vollkommen, unbeschädigt, heil, in der Zeit, in der sie sich selbst im Spiegel noch Auge zu Auge gegenüber stand. Als sie, wenn sie hinein sah keine zig Versionen ihrer selbst zurückblicken sah, sondern nur eine. Mal lächelnd, mal müde , mal gestresst, mal stolz, aber immer im Hintergrund ihren Mann und die Kinder. Sie blickte hinein und sah das perfekte Portrait, ihrer perfekten, heilen Familie. Nur dass es kein Portrait war. Ein Portrait, hätte das schöne Bild zusammen-, festgehalten, es wäre niemals zersplittert. Doch dies war ein Spiegel und er konnten nun mal nicht mehr leisen, als was sein Name versprach, er spiegelte. Er spiegelte, wie er sich von den Jeans zum Anzug hocharbeitete. Wie die Kinder größer und älter wurden, wie sie immer prächtiger heran wuchsen. Wie sie von Tag zu Tag eine stolzere Ehefrau und Mutter wurde.
Doch zeigte er auch, wie er immer später nach Hause kam. Anfangs noch mit einem liebevollen lächeln für sie, später mit einem müden, genervten Blick, irgendwann mit einem leeren, gleichgültigen Blick. Wie die Kinder immer öfter nur einen flüchtigen Kuss für ihre Mutter hatten bevor sie zur Tür stürzten, bevor sie sich verliebten, auszogen, immer seltener kamen, absagten, dass sie es nicht schaffen würden, gar nicht mehr absagten, nicht mehr kamen. Er zeigte, eine Frau glücklich, gestresst, müde, stolz , vor einem Spiegel. Den Blick auf ihre Familie gerichtet, der ihrer kleinen Welt, ihrem Leben seinen Wert, seinen Stolz, seinen gesamten Sinn schenkte. Einen Sinn der samt den Gesichtern verblasste, verschwand, bis nur noch die unzähligen Versionen ihrer selbst zurückstarrten. Nicht mehr glücklich, nicht mehr gestresst oder müde und kein Stück stolz. Nur noch leer und übrig. Platzhalter für etwas, das unwiderruflich gegangen war.

Sie starrten sie an. Schreiend, kreischend. Wie sie es wagen konnte, nie eingegriffen zu haben. Nur zugeschaut, aber nicht gesehen zuhaben. Nie selbst etwas vollbracht zu haben, das eine Mimik, eine Reaktion verdiente, sondern, statt selbst Ziele zu verfolgen, all ihr Herzblut ihrer Familie darzubieten. Wie sie es wagen konnte, töricht genug zu sein, einen Spiegel wie ein Portrait zu betrachten, wo er doch so viel mehr bot. Man konnte ihn anschreien, anflehen, ja sogar zerschlagen, doch am Prinzip würde sich dadurch nichts ändern. Denn er hielt denn Lauf der Zeit nicht an, er hielt nichts fest, er verfälschte nicht, er warf nur zurück, was man ihm gab. Alles Glück, allen Schmerz, alle Veränderung und das grausamste Bild, das ein Spiegel einem bieten kann: Das eigene Selbst, in vollkommener, hinreißender Leere, ohne etwas, dass es dem Spiegeln wert wäre. Immer weiter, lauter unbarmherziger schrien, klagten, prangerten die Scherben, die Gesichter sie an. Bis sie schließlich selbst, gleich ihrer hinreißenden Familie, ihrer hinreißenden Existenz, ihres hinreißenden Spiegels, zerbarst.
 



 
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